Ominöse Begegnungen
Der Altgrüne Hubert Kleinert und sein Rechtsverständnis. Von Florian Sendtner
Ich bin alles andere als ein Freund der AfD.« Ein Satz à la »Einige meiner besten Freunde sind Juden.« Das lange »Aber«, das sich an diese Beteuerungssätze anschließt, war im Fall Hubert Kleinert ein Feuilleton-Aufmacher in der »SZ«, in dem der alte Kumpel von Joschka Fischer und heutige Professor an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung in Gießen haarklein auseinandersetzt, warum der Ausschluss des AfD-Kandidaten Joachim Paul von der Wahl zum Oberbürgermeister in Ludwigshafen am 21. September völlig falsch gewesen sei. Die »Nichtzulassung der Kandidatur von Herrn Paul« sei »nicht nur rechtswidrig«, sondern »auch verfassungswidrig«, da »offensichtlich aus politischen Gründen« erfolgt. Kleinerts Fazit: »So etwas gibt es sonst nur in autoritären Systemen.«
Hubert Kleinert ist alles andere als ein Freund der AfD. Auch wenn bei der AfD die Sektkorken geknallt haben dürften angesichts solcher Äußerungen eines linksgrünversifften Staatsrechtslehrers in der »Systempresse«. Besser hätte es Horst Mahler selig nicht formulieren können! Und auch Kleinerts Argumente im Detail sind so recht nach dem Geschmack der AfD.
Der Wahlausschuss stützte sich beim Ausschluss des AfD-Kandidaten auf den rheinlandpfälzischen Verfassungsschutz, wonach Joachim Pauls Wahlkreisbüro in Koblenz im Zentrum rechtsextremer Vernetzungsbestrebungen steht; Stargast war 2023 etwa der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner, der kurz darauf der Hauptreferent der »Remigrations«-Konferenz von Potsdam war. Kleinert wiegelt ab: »Begegnungen« lediglich »mit dem ominösen Herrn Sellner«. Vermutlich kam Sellner rein zufällig bei Paul vorbei, auch die Zuhörer waren total überrascht. Und das kostet den arglosen AfD-Mann nun die OB-Kandidatur!
Jetzt stelln wer uns mal janz dumm! Das scheint Kleinerts Begriff von Rechtsstaatlichkeit zu sein. Sellners internationaler Ruhm unter Rechtsextremisten beruht darauf, dass er nachweislich engen Kontakt mit dem rechtsextremen australischen Massenmörder Brenton Tarrant pflegte und gern damit kokettiert. Man dürfe das nicht falsch verstehen, sagt Sellner, der Kontakt sei rein menschlich motiviert gewesen.
Mut zur Lücke
Leo Herrmann über das Buch Architektur der Gegenwart von Philip Ursprung
Wer in der Kunst-, Literatur- oder Musikgeschichte einen Kanon globalen Ausmaßes aufstellt, muss spätestens seit den Methodendiskussionen der sechziger Jahre mit Gegenwind rechnen. Schließlich sind Einseitigkeiten und Ausschlüsse bei solchen Synopsen unvermeidlich. Vorwürfe, eine eurozentrische Perspektive einzunehmen oder Beiträge von Frauen nicht ausreichend zu würdigen, gehen selten fehl. Entsprechende Darstellungen sind denn auch zumindest auf akademischem Niveau selten geworden.
Die Architekturhistoriografie kennt traditionell weniger derartige Skrupel, auch weil methodologische Debatten dort in der Regel mit Verspätung ankommen. Die Geschichte des Bauens wird in der Regel bis heute als eine Abfolge von Stilen erzählt – von der italienischen Renaissance über den französischen Klassizismus und die Reformarchitektur zum Neuen Bauen. Erst in den letzten Jahren hat eine Diskussion um die Berechtigung des Kanons als Werkzeug der Architekturgeschichtsschreibung eingesetzt.
Auch deshalb ist es bemerkenswert, dass sich der renommierte Schweizer Architekturhistoriker Philip Ursprung nun an ein Buch über Architektur der Gegenwart gewagt hat. Das schmale Bändchen soll einen schnellen Überblick geben und muss deshalb viele grundsätzliche Fragen gar nicht berühren: Warum beispielsweise sollte die Gegenwart gerade 1970 beginnen? Und was darf eigentlich als Architektur gelten im Gegensatz zum schlichten Bauen?
Ursprung gliedert sein Buch lose in verschiedene Themenfelder und beginnt einzelne Abschnitte oft szenisch mit Satzteilen wie »An einem grauen Frühlingstag«. So sehr er damit auch die Relativität seines Standpunktes zu betonen sucht, das Bändchen liefert tatsächlich nicht weniger als einen Kanon der Architektur seit den siebziger Jahren mitsamt dazugehöriger Meistererzählung. Die makroökonomische Entwicklung – angefangen mit der Rezession nach Ende des Nachkriegsbooms – dient dabei als Grundstruktur für ein umfängliches Architekturpanorama.
Das ist mal mehr, mal weniger überzeugend und stellenweise sogar dubios – aber gerade weil er Widerspruch provoziert, kann ein Kanon wichtig sein. Eine Absage an jeglichen Universalismus ist jedenfalls keine gute Alternative.
Philip Ursprung: Architektur der Gegenwart. 1970 bis heute. C. H. Beck, München 2025, 128 Seiten mit 41 Abbildungen, 12 Euro
Die Befreiung von Auschwitz
Stefan Gärtner über eine üble Verrenkung der »Süddeutschen Zeitung«
Es hat Gründe, dass ich die »Tagesschau« nicht zum Feierabend rechne. Am 7. September etwa waren sozusagen Israel-Wochen: Erst wurden Palästinenser in Israels Gefängnissen vergewaltigt, dann erhielt ein Film, der dagegen ist, dass Israel, aus Spaß an der Sache, fünfjährige palästinensische Mädchen tötet, in Venedig einen Löwen, und wer sich eine satirische Nachrichtensendung hätte vorstellen mögen, in der allein Israel als Superbösewicht vorkommt, hätte hier Ansätze gefunden.
Die Entwicklung zum ideellen Gesamtschurkenstaat war da aber schon abgeschlossen, dieweil Ronen Steinke, Redakteur bei der »Süddeutschen Zeitung« und promovierter Völkerrechtler, in einem Kommentar zwar Vorsicht empfahl, in Nahost von »Völkermord« zu sprechen, aber zugleich, schon um der Leserbriefredaktion Überstunden zu ersparen, das israelische »Menschheitsverbrechen« klar benannte.
Jetzt ist es also raus, und nur mein Unwille, Geschmacklosigkeit mit Geschmacklosigkeit zu kontern, bewahrt mich vor dem Verdacht, die »SZ«, die ja mal einen soliden antizionistischen Ruf hatte, habe ihre jüdischen Redakteure nicht zufällig eingestellt. Selbstverständlich glauben nur Antisemiten, Steinke sei letztlich Israeli, und selbstredend hat der Kollege keinerlei Verpflichtung, die Sache anders zu betrachten als die deutschen Gojim. Dass seine Landsleute den Juden Auschwitz nie verzeihen werden, ist aber die andere Wahrheit, es sei denn, man wäre irgendwann quitt, und den Völkermord gegen das »Menschheitsverbrechen« einzutauschen ist die Nachricht, man habe nicht Krebs, sondern bloß Alzheimer.
Denn das Menschheitsverbrechen, das ist Auschwitz, allenfalls noch Stalins Gulag. Niemand kommt auf die Idee, den Massenmord der Roten Khmer, den Vietnam-Krieg oder die 30.000 Menschen, die täglich weltweit Hungers sterben, als Menschheitsverbrechen zu bezeichnen, auch wenn Steinke das insinuiert: »In Gaza geschieht ein Menschheitsverbrechen. Egal, wie man es nennt.« Im Unsinn der Formulierung steckt bereits das, was für Adorno Meinung und Wahn verschwisterte, und Eike Geisels »Wiedergutwerdung der Deutschen« darf als abgeschlossen gelten, wenn wir unsre Juden jetzt dabeihaben.
Deutscher Gehorsam
Mit seiner Ideengeschichte Die Deutschen und der Gehorsam beleuchtet Martin Wagner eine ganz besondere Beziehung. Von Matthias Becker
Dass die Deutschen eine »schwierige« Beziehung zu Macht und Autorität haben, gilt außerhalb des deutschen Planeten für ausgemacht. Insbesondere in den Ländern der Alliierten gelten sie als unterwürfig und machtverliebt, gerne bereit, nach unten zu treten und nach oben zu buckeln. Das sind Klischees, natürlich, aber haben sie einen wahren Kern? Der Wunsch, gehorchen zu dürfen und Gehorsam zu verlangen, ist sicher keine deutsche Besonderheit. Er spielte hierzulande allerdings eine besondere Rolle. »Der Deutsche gehorcht gern«, hieß es bündig im 18. Jahrhundert, auf Grund seines »folgsamen Charakters«.
Der Germanist Martin Wagner legt eine Diskursgeschichte der letzten drei Jahrhunderte vor, mit der er nachvollziehen will, »wie über den Gehorsam gesprochen und nachgedacht wurde«. Damit ist bereits eines der beiden Kardinalprobleme dieser Untersuchung angesprochen. Es geht darin nicht darum, ob die Deutschen ihren diversen Obrigkeiten mehr und eifriger als andere Nationen gehorchten, sondern der Autor zeichnet Bedeutungsverschiebungen nach. Weil aber in der Öffentlichkeit irgendwann jeder Standpunkt und auch sein Gegenteil von irgendwem geäußert wird, entsteht ein diffuses Bild. Lob und Kritik am Gehorsam treten im Diskurs gleichzeitig auf, anders als in der geschichtlichen Wirklichkeit, die Martin Wagner in seiner Ideengeschichte eben aussparen will.
Das andere, verwandte Problem besteht darin, dass der Autor den Begriff des Gehorsams so weit fasst, dass er sich auf jedes konforme Verhalten bezieht, gleich ob bei der Arbeit, in der Familie oder beim Militär. Die »Ideengeschichte« einer so grundlegenden sozialen Tatsache ufert naturgemäß aus.
Immerhin wird deutlich, dass das Verhältnis von Reaktion/Reaktionärem und Autorität/Gehorsam verwickelt ist. Staatliche Autorität wird seit der Aufklärung von vielen Publizisten als Voraussetzung begriffen, um Herrschaft und Privilegien abzubauen. »Die Geschichte des zivilisatorischen Fortschritts in der Moderne ist die Geschichte einer Substitution von personalem durch legalen Gehorsam«, behauptet Martin Wagner – Gleichheit vor dem Gesetz gibt es nur, wenn alle Bürger gleichermaßen gehorchen, ohne unterwerfende Staatsmacht keine Demokratie.
Die antidemokratische Reaktion im 19. Jahrhunderts hielt Gehorsam jedenfalls nur bedingt für eine Tugend. Sie fremdelte mit der bürokratischen, angeblich abstrakten und lebensfremden Staatsherrschaft. Als Alternative propagierte sie charismatische Staatsmänner, die kraft ihrer Persönlichkeit und Stärke legitimiert seien, sich über Gesetze, Verfahrensregeln und Normen hinwegzusetzen. Die Sehnsucht nach dem starken Mann entspricht einer erneuten Personalisierung von Herrschaft, eine Quelle dessen, was oft als »konformistische« oder »autoritäre Revolte« verrätselt wird. So zieht sich die rechte Kritik an Anpassung und Staat über den Nationalsozialismus bis zum Rechtspopulismus von heute.
Martin Wagner verweist auf historische Begebenheiten nur, um Thesen zu illustrieren. Die strukturelle Schwäche des demokratisch orientierten Bürgertums nach der gescheiterten Revolution 1848 und die antidemokratische Orientierung der Eliten in Adel, Militär und Justiz kommen nicht vor. Auch dass der massenhafte Ungehorsam an der Front und an der Heimatfront den Ersten Weltkrieg beendete, erwähnt er nicht.
Es bleibt die unbequeme und erklärungsbedürftige Tatsache, dass von keiner anderen Nation zwei Weltkriege und ein Völkermord vergleichbaren Ausmaßes ausgingen. So unterschiedliche Autoren wie Elias Canetti, Fritz Fischer, Sebastian Haffner und Georg Lukács haben nach Erklärungen dafür gesucht. Im Gegensatz zu Wagners Ideengeschichte betrachteten sie gesellschaftliche Positionen, befassten sich mit der Vorstellungswelt verschiedener sozialer Gruppen und ihrem Verhältnis zueinander. Ohne eine solche gesellschaftsanalytische Perspektive kann bei der Untersuchung der German Weirdness kaum mehr herauskommen als Küchenpsychologie und Banalitäten über einen angeblichen Nationalcharakter, dessen Fortleben rätselhaft bleibt.
Martin Wagners Untersuchung läuft schließlich auf eine vorsichtige Rehabilitierung des Gehorsams hinaus. Er begrüßt die angeblich »neue, wertoffenere Betrachtung« des Konzepts und fordert eine Debatte darüber »wie, wo und in welchem Maß wir gehorchen wollen oder gehorchen müssen«. Das verwundert nicht, seine Doktorarbeit wurde von dem konservativen Historiker Jörg Baberowski betreut, er selbst war Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Mit antideutschen Analysen teilt der Autor das schlichte Narrativ, demzufolge im historischen Verlauf personale durch strukturelle Herrschaft ersetzt werde, was wiederum faschistische und antidemokratische Revolten auslösen soll. Aber das ist falsch, jedenfalls zum Teil. Der stumme Zwang der Verhältnisse ist nur ein Aspekt der kapitalistischen Entwicklung. Besonders im Alltag von Lohnabhängigen und ihren Angehörigen bleibt die personale Herrschaft präsent. Es öffnen sich neue Räume für Willkür und Privilegien, auch wenn letztere selten definiert und niedergeschrieben werden.
Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verflüchtigte sich der Ausdruck »Gehorsam« allmählich, nicht aber die soziale Praxis. »Vom Straßenverkehr über die Schule bis zum Steuerwesen und der Realität des Arbeitsplatzes werden wir regelmäßig mit Situationen konfrontiert, in denen uns Gehorsam abverlangt wird – wobei die Verwendung des Wortes Gehorsam hier doch heute in der Regel seltsam verstörend wirken würde.« Damit legt er den Finger in die Wunde: Die vermeintliche Entscheidungsfreiheit ist für das Selbstbild der Deutschen so wichtig wie nie zuvor in den vergangenen drei Jahrhunderten. Die Zwänge, denen sie sich beugen, werden als Tabu behandelt, bemäntelt, eskamotiert. Gehorsam wird praktiziert, aber nicht mehr so genannt.
Martin Wagner: Die Deutschen und der Gehorsam. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2025, 236 Seiten, 32 Euro
Matthias Becker schrieb in konkret 8/25 über die Zivilisationsgeschichte Ökologie der Freiheit
From the River to the Gate
Ein belgischer Karikaturist kotzt eine wüst antisemitische Zeichnung aus, wird dafür mit einem renommierten Cartoonisten-Preis belohnt, und alle Welt findet das in Ordnung. Wie der europäische Kulturbetrieb die Nazifizierung der Juden betreibt, beschreiben Dirk Braunstein und Simon Duckheim
Gibt man bei Google das Stichwort »7. Oktober« ein, ist das erste Ergebnis, wenig überraschend, der entsprechende Wikipedia-Eintrag. »Der 7. Oktober«, erfährt man dort zunächst, »ist der 280. Tag des gregorianischen Kalenders (der 281. in Schaltjahren), somit bleiben noch 85 Tage bis zum Jahresende.« Es folgt eine Auflistung von Ereignissen aus »Politik und Weltgeschehen«, beginnend mit dem Jahr 1370, in dem am fraglichen Tag sechs Schweizer Kantone irgendeinen »Pfaffenbrief« vereinbart hatten. Der letzte Eintrag in dieser Rubrik ist der zum 7. Oktober 2023: »Die Hamas überrascht Israel« – faktisch korrekt mag diese Formulierung sein, der Sache angemessen ist sie umso weniger – »mit einem Terrorangriff aus dem von ihr beherrschten Gebiet des Gazastreifens heraus, bei dem sie in Israel über 1200 Personen, mehrheitlich israelische Zivilisten, ermordet und weitere 239 Personen entführt. Der Begriff 7. Oktober steht seither auch stellvertretend für den Terrorangriff.« That’s all.
Nun blieben, wir erinnern uns, bis zum Jahresende 2023 noch 85 Tage. Mehr als genug Zeit für einen geübten Karikaturisten, das »Ereignis« nach allen Regeln des zeitgenössischen Kulturbetriebs historisch-kritisch durchzudialektisieren, um es schließlich grafisch mit dem großen Ganzen in Einklang zu bringen.
Anfang Januar 2024 veröffentlichte das flämische Nachrichtenmagazin »Knack« (das nur ein »n« von der braunen Wahrheit trennt) die Zeichnung »Gazastrook« (flämisch für Gazastreifen) des belgischen Karikaturisten Gerard Alsteens, Künstlername GAL. Sie zeigt eine Landkarte, auf der die Umrisse des Eingangstores von Auschwitz-Birkenau auf die des Gazastreifens gelegt sind. Diese Leistung, mit äußerst limitierten künstlerischen Mitteln das Weltgeschehen in jenes rechte Licht zu rücken, in dem der 7. Oktober als eine Form des Widerstands erkennbar wird, zu dem die jüdischen Opfer der Nazis sich angeblich als unfähig erwiesen hatten, bedarf selbstredend der Würdigung. Dachte sich auch die Jury des Grand Prize Press Cartoon Belgium und kürte die Zeichnung jüngst, handgestoppte 542 Tage nach ihrer Veröffentlichung – schließlich ist die Thematik aktueller denn je –, kurzerhand zur »Karikatur des Jahres«.
Wir halten das für zu tiefgestapelt und würden, hands down, die Zeichnung unsererseits für den Titel »Karikatur des Jahrhunderts« nominieren wollen, bringt sie doch auf den Punkt, woran der Auschwitz-Überlebende Jean Améry schon vor knapp fünfzig Jahren keinen Zweifel hegte, dass nämlich die »von einem hochzivilisierten Volk mit organisatorischer Verläßlichkeit und nahezu wissenschaftlicher Präzision vollzogene Ermordung von Millionen als bedauerlich, doch keineswegs einzigartig zu stehen kommen« würde. »Alles«, so Améry weiter, »wird untergehen in einem ›Jahrhundert der Barbarei‹. Als die wirklich Unbelehrbaren, Unversöhnlichen, als die geschichtsfeindlichen Reaktionäre im genauen Wortverstande werden wir dastehen, die Opfer, und als Betriebspanne wird schließlich erscheinen, daß immerhin manche von uns überlebten.« Was Améry indes aus unschwer zu durchschauenden Motiven verschwieg, ist der Umstand, dass die Nutznießer dieser Betriebspanne ihr unrechtmäßiges Überleben zum Anlass nehmen würden, es ihren Lehrmeistern von einst (mindestens) gleichzutun. Gell, GAL?
Egal. Schlimmer fast als die Karikatur selbst ist freilich der Lobpreis der Jury: »Die Zeichnung von GAL prangert die schreckliche Situation in Gaza an, wo jeden Tag Unschuldige von der israelischen Armee ermordet werden. Genauso« – in Worten: ge!nau!so! – »wie es die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs mit den Juden in ihren Konzentrationslagern« – äh, in wessen jetzt? – »getan haben.« Und weiter: »Auch wenn dieser Vergleich heftige Kontroversen auslösen kann« – nichts für ungut, aber der Drops ist längst gelutscht – »und technisch nicht zu 100 Prozent korrekt ist« – klar, wenn’s um Auschwitz geht, das trotz aller Verlässlichkeit und Präzision seinerseits der technischen Perfektion entriet, kann man schon mal, frischfrommfröhlichfrei, übern Daumen peilen (wie ja selbst Korrektheit, die keine ist, sondern halt Inkorrektheit, immer noch die Wahrheit ausplaudern kann, wenn man nur feste dran glaubt) –, »so legt er doch den Finger in eine offene Wunde und gibt Anlass zum Nachdenken.« Der Vergleich legt was? Den Finger. Wohin? In eine offene Wunde. Die da wäre? Dass der ewige Jude nichts aus der Lektion gelernt hat, die die Deutschen ihm, für alle Beteiligten schmerzlich, erteilen mussten?
Für uns persönlich gibt der Vergleich jedenfalls weniger Anlass zum Nachdenken als zum Übergeben, genauso (auch wenn diese Analogie rein technisch Luft nach oben hat), wie es die Juden laut der Jury mit jener offenen Wunde getan haben: »Indem er einen Vergleich zieht zwischen dem, was die Deutschen den Juden angetan haben, und dem, was Israel heute den Palästinensern antut, unterstreicht GAL auch das kollektive Trauma, das von den Juden« – schwuppdiwupp! – »auf die Palästinenser übertragen wurde.«
Wie man kollektive Traumata unterstreicht, wissen wir nicht. Von Freud haben wir aber auch was gelesen und schlagen die Deutung vor, dass die Palästinenser als Kollektiv eine nachgerade therapeutische Funktion für den ideellen Gesamtjuden erfüllen, der sich nach streng analytischer Technik nun an der Gegenübertragung abzuarbeiten hat, um – endlich, endlich! – seinen zwanghaften Widerstand gegen die unumstößliche Realität aufzugeben, dass er auf dieser Erde nun mal nichts zu suchen hat. Noch je hatte. Auch diese »Wahrheit« übrigens hat der Allesgalvanisierer vermöge einer technisch endlich einmal einwandfreien Fehlleistung zur Geltung gebracht, kritzelte er doch das Tor von Birkenau in ein Gebiet, das von einer Terrororganisation beherrscht wird, die, wenn man sie nur ließe, die Juden – und zwar alle! – so gern in jenes Mittelmeer triebe, in das das GAL’sche Tor geradewegs führt.
Dass Kunst nur als solche gelten kann, wenn sie einen nachhaltigen Bildungsauftrag erfüllt, hatte die Jury selbstredend ebenfalls berücksichtigt: »Die grafische Umsetzung der Zeichnung« – beziehungsweise die zeichnerische Umsetzung der Grafik, ist doch eh alles wurscht! – »ist komplex und naiv zugleich« – die Naivität ist uns auch aufgefallen, die Komplexität hat sich uns nicht erschlossen –, »wie eine Karte, die in einer Schule aufgehängt werden könnte, um zu zeigen, was dem palästinensischen Volk angetan wurde.« Jedenfalls in der Schule des Antisemitismus, Grundkurs »Geografie für angewandten Judenhass«. Wer erinnert sich nicht an die komplex-naiven Karten aus dem Erdkundeunterricht, auf denen Oświęcim einfach eine Stadt irgendwo in Polen ist? Hier wird das rasende Gefasel von Leuten, die nicht wissen noch wissen wollen, was deutsche Vernichtungslager waren, auch nicht, was ein Krieg ist und welche Unterschiede es gäbe, sich aber sicher sind, der Gazastreifen sei gleich Auschwitz, ins Bild erlöst.
Wäre das Weltbild des ausgezeichneten Karikaturisten nicht schon durch die eine Grafik zur Genüge illustriert, finden sich online noch diverse weitere, darunter ein, nun ja, »Porträt« von Anne Frank (die ja auch sonst allenthalben als Projektionsfläche für Geschichtsrevisionisten herhalten muss). Es zeigt sie mit ausgemergeltem Gesicht sowie Skeletten in den Augen, und ein Teil ihres Haarschopfes ist überzeichnet mit – exakt! – den Umrissen des Gazastreifens. »Poor Anne Frank«, so der Titel des Bildes, das im Juni 2025 auf der Webseite »Cartoons Movement« mit der Unterschrift »Anne Frank in mind … starving a population« veröffentlicht worden ist.
Was haben wir daraus zu lernen? Dass ein jüdisches Mädchen, das sich zwei Jahre lang mit seiner Familie in einem Hinterhaus verstecken musste, bis es erst nach Auschwitz und kurz vor Kriegsende – als es schon, wie eine Zeitzeugin berichtete, nur noch »ein Skelett war« – nach Bergen-Belsen verschleppt wurde, wo Anne Frank schließlich elendig krepierte, aus heutiger Perspektive als Opfer derer zu betrachten ist, die es nicht mehr gäbe, hätten die Nazis ihren Plan vollenden können. Und auch wenn dieses zeichnerisch umgesetzte Gedankenexperiment moralisch nicht vollumfänglich korrekt ist, so legt es doch den Finger in eine offene Wunde, von deren Urhebern sich Anne Frank nur darin unterscheidet, dass sie als personifizierte Unschuld ins kollektive Bewusstsein eingegangen ist. Was indes nichts daran ändert, dass sie Jüdin war und ewig bleiben wird – und gemäß einer aufgeklärten Logik, die in ihrer Perfidität nachgerade als Einmaleins des zeitgemäßen Antisemitismus gelten kann, in letzter Konsequenz ihrerseits Blut an den Händen hat. Folgerichtig hatten Unbekannte bereits im August 2024 die Hände der Anne-Frank-Statue in Amsterdam mit roter Farbe bemalt und »Free Gaza« auf den Sockel geschmiert. So nämlich!
Niemand, der noch ganz bei Trost ist, möchte gerne im Gazastreifen leben, nicht gestern, nicht heute, nicht morgen. Aber es ist Krieg, und dass auch und vor allem Unschuldige im Krieg sterben, ändert nichts daran, dass dieser am 7. Oktober 2023 begann und nicht erst, wie glauben wollen muss, wer die Israelis gleich Nazis gleich Völkermörder setzt, tags darauf. Wer aber die Geschichte Israels am 14. Mai 1948 beginnen lässt – und keinen Holocaust früher –, darf jede militärische Reaktion Israels als spontanen Ausdruck eines ganz typischen Vernichtungswillens – wie sagt man? – »lesen«. Und wird gewiss seine Gründe dafür haben, die man ebenso gewiss als antisemitisch bezeichnen darf.
Die »Jüdische Allgemeine«, die allerdings auch jüdisch ist, das heißt parteiisch, nicht wahr, sprach von einem »Eklat«. Schön wär’s, wäre’s wahr. Geschehen ist jedoch tatsächlich folgendes: Todessüchtige »Kämpfer« der Hamas haben grauenerregende Taten zumal an Frauen begangen, für die selbst die Bezeichnung »sexualisierte Gewalt« noch schönfärberisch klingt. Unausdenkliches haben die Männer aus dem Gazastreifen Frauen angetan, weil sie Frauen waren. Unvorstellbar das Männer-, Frauen- und allgemein das Menschenbild jener, die sich Leben nur als Vergewaltigungs- und Tötungspraxis denken können – eine Praxis, die Selbstzweck und zugleich Mittel zu einem höheren Zweck ist, nämlich den Opfern auf bestialischste Weise zu demonstrieren, was Adorno zufolge durch Auschwitz zur Realität geworden ist: dass es Schlimmeres zu fürchten gibt als den Tod.
Als Reaktion auf den Überfall auf Israelis in Israel jedenfalls rückt dessen Armee beim Angreifer ein, damit dieser Horror sich nicht wiederhole noch ähnliches geschehe. Als Reaktion wiederum darauf erbricht wer in Westeuropa behaglich ein Bild, das die Täter mit den Juden in den deutschen Vernichtungslagern verwechselt und die Israelis mit den Nazis. Reaktion: erster Preis in einem Zeichenwettbewerb.
Das ist kein Eklat, das ist Normalität. Und zu der gehört auch, dass das Massaker vom 7. Oktober endgültig und unmissverständlich gezeigt hat, was geschähe, wenn jene kartografische Vision, die landauf, landab unter der Losung From the River to the Sea fröhlich’ Urständ feiert, Wirklichkeit würde.
Dirk Braunstein und Simon Duckheim schrieben in konkret 5/25 über das stillgestandene Hirn von Bundeswehr-Reservisten
Rasterfahndung anno 2025
Deutsche Polizeichefs lieben Gotham, Datenschützer sind bestürzt. Wie geht es weiter mit der Datenanalyse-Software der US-Firma Palantir? Von Peter Kusenberg
Am 23. Juli 2025 erhob die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) Verfassungsbeschwerde »gegen systematische polizeiliche Datenanalysen in Bayern«. Das Werkzeug Vera, das dort zum Einsatz kommt, verwertet und verknüpft in einem als »Data-Mining« benannten Prozess riesige Datenmengen aus unterschiedlichen behördlichen Datenbanken. Der Vorwurf der GFF richtet sich gegen den unrechtmäßigen Einsatz der Software, der das Grundrecht des Einzelnen verletze, über private Daten zu bestimmen.
Vera heißt in Hessen Hessendata, in Nordrhein-Westfalen Datenbankübergreifende Recherche und Analyse (DAR). In Baden-Württemberg trägt die Software noch den Namen Gotham, unter dem das US-Unternehmen Palantir sie vermarktet. Die Regierung in Stuttgart hatte bis Ende Juli einen Dissens über den Einsatz von Gotham simuliert, damit die größere Regierungspartei, die Grünen, sich als »kritisch« inszenieren konnte. Doch, wie üblich bei jenen prinzipienlosen Gesellen, gilt nach der Einigung über die Polizeigesetz-Anpassung der bereits im März geschlossene Vertrag mit Palantir für mindestens fünf Jahre.
Jenes 2003/04 gegründete Unternehmen nutzte einen Algorithmus des Bezahldienstes Paypal, der zur Ermittlung von Online-Betrug eingesetzt wurde. Palantir, benannt nach einem der »allsehenden Augen« im Fantasy-Werk Der Herr der Ringe, wurde, wie Paypal, unter anderen von Peter Thiel gegründet, dem erzlibertären Investor aus Frankfurt, den der Satiriker Jan Böhmermann vor drei Jahren in einem martialischen Video besang: »Feel his German affection / For natural selection / Ja, ruling the world has a certain appeal.« Der gruselige Offshore-Liberalist operiert vornehmlich im Hintergrund, während Palantirs Vorstandsvorsitzender Alex Karp als das Gesicht des Unternehmens auftritt. Karp, gleichfalls Jahrgang 1967, und ebenfalls, dank seines Studiums in Frankfurt, deutsch sprechend, wirkt auf den ersten Blick einnehmend. In der Wikipedia heißt es über ihn, er sei »der Sohn eines jüdischen Kinderarztes aus New York und einer afroamerikanischen Künstlerin«. Im Dokumentarfilm des Regisseurs Klaus Stern, »Watching You – Die Welt von Palantir und Alex Karp« (2023), heißt es über ihn, er sei »einer der größten Nebelkerzenwerfer« und wolle »auf seine Art die Weltherrschaft«. Für Kai Diekmann, Ex-Chefredakteur der »Bildzeitung«, ist er folgerichtig ein »unglaublicher Typ«. In Sterns Film sagt Karp an einer Stelle, dass sein Programm »zum Töten von Menschen eingesetzt werden« könne.
Bei deutschen Ermittlungsbehörden beschränkt sich Palantirs Gotham darauf, Daten verschiedener Datenbanken miteinander zu verknüpfen und zu visualisieren, angeblich ohne Internetverbindung. Am 10. August 2025 meldete der IT-Nachrichtendienst »heise online«, dass sich die Firma »gegen Vorwürfe mangelnder Datensicherheit beim umstrittenen Einsatz ihrer Datenanalyse-Software bei deutschen Polizeien (!)« wehre: »Eine Übertragung oder ein Abfluss von Daten – etwa in die USA – ist technisch ausgeschlossen«, hieß es. Der Zugriff auf die Server in Hessen und Bayern mag aktuell beschränkt sein, doch die Schöpfer von marktbeherrschenden Programmen – das zeigt der Aufstieg von Meta, Alphabet und Amazon –sind an einer ständigen Erweiterung ihrer Macht interessiert. Peter Thiel nennt das Monopol ein Ideal seines unternehmerischen Handelns, das aktuelle Weltpolitik direkt beeinflusst. So konnte dank Palantirs Hilfe die Ukraine insbesondere in den ersten Kriegsmonaten die russischen Truppen enorm schwächen.
Seit beinahe zehn Jahren ist es staatlichen Ermittlungsbehörden erlaubt, Spähsoftware auf Smartphones einzusetzen, allerdings, das hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, nur in eklatanten Fällen mit Höchstfreiheitsstrafen ab drei Jahren. Der IT-Sicherheitsexperte Dennis-Kenji Kipker meint, die Gotham-Software bewirke einen »ganz erheblichen sicherheitspolitischen Beifang: Die sicherheitsbehördliche Datenauswertung, die bislang der begründete Ausnahmefall ist, wird dadurch zum begründeten Regelfall gemacht.«
Leider, wie »heise online« schreibt, schwindet der Enthusiasmus der Datenschützer, es werden »Aufsichtsbehörden verklagt, weil sie zu wenig tun«. Dabei wächst der Bedarf, da in den Gotham-Bundesländern jeweils mehrere tausend Beamte Zugriff auf das System haben, und dass die alle nach Terroristen fahnden, ist zweifelhaft. NRW-Innenminister Herbert Reul hält Gotham für ein »Riesending«, um Anschläge zu verhindern, der unkaputtbare Jens Spahn und Innenminister Alexander Dobrindt sind gleichfalls begeistert. »Offenkundig sieht Dobrindt sich als Lobbyist eines hochumstrittenen US-Unternehmens«, sagte Konstantin von Notz (Die Grünen) dem Magazin »Stern«. Also jammern die deutschen Palantir-Fans, ihnen seien die Hände gebunden, es gebe keine europäische Software gleicher Qualität.
Vor rund 50 Jahren ersehnte der deutsche Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), Horst Herold, eine »Superdatenbank«, wie es der bayerische Datenschutzbeauftragte Thomas Petri, Bezug nehmend auf das Überwachungs-Ideal im NS-Staat, nennt. Herold, »Computerfetischist« und Erfinder der Rasterfahndung, erklärte, »die Polizei könnte ihren Einsatz nach hochprognostischen Kriminalitätsballungen ausrichten, sie könnte zu der Zeit an dem Ort sein, an dem den Hochrechnungsergebnissen entsprechend das Verbrechen räumlich passieren muss.« Petri meint, Herold wäre begeistert gewesen von Gotham, damit hätte das BKA Folkerts, Klar und Mohnhaupt wohl schon nach 20 Minuten eingesackt – und alle Bundesbürger mit »klammheimlicher Freude« gleich mit.
Peter Kusenberg schrieb in konkret 6/25 über die digitale Offensive der Regierung Merz
»Nazis melden ihren territorialen Anspruch an«
Neonazis mobilisieren gegen queere Gedenk- und Festdemonstrationen, die unter dem Namen Christopher Street Day (CSD) stattfinden. konkret sprach darüber mit Eike Sanders vom antifaschistischen Autor*innenkollektiv Feministische Intervention (AK Fe.In)
konkret: CSDs gibt es in Deutschland seit 1979. Nazi-Mobilisierungen dagegen sind erst seit 2024 in die Schlagzeilen geraten. Wurden CSDs vorher tatsächlich in Ruhe gelassen?
Eike Sanders: CSDs und die daran beteiligten Personen wurden in der extremen Rechten immer schon als feindlich wahrgenommen. Und klar ist, dass es auch in ihrer Anfangsphase Nazi-Mobilisierungen gegen CSDs gab. Seit mindestens 2019 führt die neonazistische Kleinstpartei Der Dritte Weg die Kampagne »Homopropaganda stoppen« durch. Ihre Aktionen blieben aber unter dem Radar. Was wir nun sehen, ist, dass mit neuen Gruppen von Neonazis eine neue Dynamik entstanden ist: Es ist letzten und diesen Sommer zu wesentlich größeren Mobilisierungen gekommen, und sie fanden in ganz Deutschland statt.
Die größte Mobilisierung mit rund 700 Nazis war 2024 in Bautzen. Wie kam es zu diesem Ansprung?
Antifeministische und queerfeindliche Einstellungen sind schnell abrufbar. 2024 musste niemand eine Kampagne konzipieren, um Leute zu überzeugen. CSD-spezifische Parolen waren 2024 noch eher die Ausnahme. Viel eher hörte man »Hier kommt der nationale Widerstand«, »Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen« und dergleichen. In Bautzen 2024 stand auf dem Fronttransparent der neonazistische Hegemonieanspruch programmatisch zusammengefasst: »Weiß, normal und hetero«. Das verdeutlicht, dass die CSDs als Ausdruck einer feministischen, antirassistischen, demokratischen, links-grün-versifften Zivilgesellschaft gesehen werden. Gegen diese melden die jungen Neonazis einen territorialen Anspruch an. Es geht ihnen um eine rechte Raumnahme, und CSDs scheinen ihnen dafür der richtige Angriffspunkt. Auf dieses Jahr hin hat sich der Auftritt professionalisiert, und man sieht vermehrt Transparente, die spezifisch für den Event gemacht wurden.
Wie erklären Sie diese neue Dynamik in der extremen Rechten?
2023/24 sind sehr viele Neonazi-Gruppen entstanden, vor allem mit jungen Leuten. Sie haben vereinzelt Kontakte zu bekannten Organisationen, zu Überresten der NPD, die mittlerweile Die Heimat heißt, oder zur JN als Jugendorganisation mit Spin-offs wie der Elblandrevolte, die in Bautzen, Görlitz und Dresden maßgeblich an der Mobilisierung beteiligt war. Heute stehen auch die Kinder der Nazi-Kader, die wir aus den neunziger Jahren kennen, auf der Straße. Soziale Medien spielen ebenfalls eine Rolle. Auf Tiktok gibt es eine rechte Subkultur, die sehr viel breiter Wirkung erzielt. Auffällig ist das kollektive Leitbild einer jungen gewaltbereiten Männlichkeit, die sich in sexistischen, queerfeindlichen und rassistischen Posts ausdrückt. Soweit wir aber sehen, entsteht der Erstkontakt nicht im Netz. Man kennt sich, wo nicht aus der Familie, aus der Schule oder aus Sportvereinen, und da vor allem aus Fussballfangruppen. Es ist also der gesamtgesellschaftliche Aufschwung der extremen Rechten durch alle Sozialisierungsinstanzen des Alltags, der sich auf die Einstellungen der Jungen auswirkt.
Die Mobilisierungen dürften also zunehmend Erfolge verzeichnen?
2025 blieb der »Erfolg« von Bautzen 2024 aus. Zwar war dort dieses Jahr mit rund 450 Nazis wieder der größte Aufmarsch gegen CSDs, aber schon merklich weniger. Außerdem begleitete eine eigens organisierte queerantifaschistische Gegendemonstration die Parade, die dafür sorgte, dass Nazis nicht direkt im Nacken der CSD-Teilnehmenden gehen konnten, wie es die Polizei auch dieses Jahr zuließ. Und doch wird leider viel bleiben: Eine neue Generation von Nazis hat Lernerfahrungen gemacht, ihre Sozialisierung wird dahingehend bestärkt, dass es für sie normal wird, am Wochenende irgendwo hinzufahren, um zu schauen, wen sie zusammenschlagen oder wenigstens, wem sie mit Gewalt drohen können, und sie konnten einmal mehr ihren territorialen Anspruch anmelden.
Und die CSDs?
Dort gibt es eine besorgte Stimmung, aber auch eine kämpferische. Auch in diesem Jahr sind weitere Veranstaltungen dazugekommen, teilweise in kleinen Städten, wo es noch nie einen CSD gab. Und wir sehen, dass sich viele CSDs ein politischeres Motto gegeben haben, beispielsweise »Nie wieder still«. Das Bewusstsein, dass queeres Leben angegriffen wird, ist da, und man geht in die Offensive.
Antifeminismus und Queerfeindlichkeit werden auch aus der sogenannten Mitte heraus praktiziert. Wie wirkt sich das auf die CSDs aus?
Solange die Bundesregierung der AfD nach dem Mund redet und handelt, werden die jungen Nazis, wie es in den Neunzigern der Fall war, sich als Vollstrecker des Volkswillens sehen. Dazu gehören auch Merz’ Aussage vom »Zirkuszelt« oder dass Klöckner der queeren Gruppe der Bundestagsverwaltung die Teilnahme am CSD in Berlin untersagte. Und es hat natürlich Auswirkungen auf CSDs, wenn die Regierung sicher geglaubte, feministische oder queerpolitische Errungenschaften in Frage stellt oder gar zurückdreht. Die meisten Medien und auch die Verwaltungen nannten die Nazi-Mobilisierungen »Gegendemonstrationen«, als ob sie eine legitime Meinungsäußerung darstellen. Dadurch ist etwas entstanden, das vor 2024 nicht so war. Nämlich, dass die Existenz eines CSDs verhandelbar ist, dass es Pro und Contra gibt, dass es lokalen Behörde offensteht, CSDs nicht zu genehmigen oder absurde Auflagen zu erlassen. Nazis sind dann längst nicht das einzige Problem für queeres Leben.
Ein Zwischenfazit Eike Sanders Recherche, veröffentlicht auf dem Portal NSU Watch, finden Sie hier.
Putins Pyrrhussieg
Ein »Deal« zwischen Russland und den USA wäre für Russland bei weitem nicht so vorteilhaft, wie es der europäische Mainstream darstellt. Von Reinhard Lauterbach
Mitte August, als diese Zeilen geschrieben wurden, war nicht klar, was aus dem Putin-Trump-Gipfel in Alaska und dem anschließenden Auftritt der versammelten Ukraine-Unterstützer aus Europa in Washington in Sachen Beendigung des Ukraine-Konflikts tatsächlich herauskommen würde. Ein schneller »Deal« war ohnehin unwahrscheinlich angesichts des hinhaltenden Widerstands, den gerade die EU und ihre größeren Mitgliedsstaaten allem entgegensetzen, was in ihren Augen wie der kleinste Vorteil für Russland aussieht. Aber selbst in dem Fall, dass die USA die russischen Friedensbedingungen im Kern annehmen sollten und die »Europäer« verstünden, dass sie dem nichts Ernsthaftes entgegenzusetzen haben, wäre die Lage Russlands im Anschluss bei weitem nicht so triumphal, wie es westeuropäische Kommentatoren als Schreckensszenario an die Wand malen.
Denn was hätte Russland in diesem Fall gewonnen? Etwa 120.000 Quadratkilometer schwer zerstörtes Land mit einer Bevölkerung, deren Loyalität vor allem in den besetzten Teilen der Bezirke Cherson und Saporischschja mit einigen Fragezeichen zu versehen ist. Ein Wiederaufbau, der Abermilliarden kosten und Jahre oder auch Jahrzehnte dauern würde. Kurz: Russland hätte wirtschaftlich einen schweren Klotz am Bein gewonnen. Die Vorkommen an Lithium und anderen strategischen Metallen im Donbass, aus deren Verkauf sich der Wiederaufbau vielleicht anteilig finanzieren lassen könnte, sind zwar geologisch seit Jahrzehnten nachgewiesen, aber bis heute nicht ansatzweise erschlossen.
Von der »Demilitarisierung« und »Denazifizierung« der Ukraine hat Wladimir Putin zuletzt nicht mehr gesprochen – es sieht so aus, als ob er sich damit abgefunden habe, dass Russland einen feindseligen und angesichts der vermutlich nicht zu umgehenden Gebietsverluste zum Revanchismus angestifteten südwestlichen Nachbarn behält. Was Russland versucht, ist, diese absehbare Gegnerschaft der Ukraine auf einem für Moskau militärisch handhabbaren niedrigen Niveau zu halten. Ob das gelingt, ist mehr als fraglich; die ukrainische Armee ist heute kriegserfahren und nach Urteilen militärischer Fachleute die kampfstärkste in Europa westlich von Russland. Darauf, dass die Ukraine ihre Armee freiwillig reduziert – auch aus finanziellen Gründen –, braucht Russland nicht zu hoffen, und das schon deshalb, weil Horden enttäuschter demobilisierter Soldaten ein ähnlicher innenpolitischer Unruhefaktor wären wie die Freikorps in der frühen Weimarer Republik.
Auf irgendwelche Bündnispartner in der politischen Klasse der heutigen Ukraine kann Russland nach heutigem Stand nicht setzen; Kräfte, die vor 2022 als »prorussisch« galten, sind aus dem politischen Feld eliminiert, ihre führenden Vertreter leben im Moskauer Exil oder haben ihre politische Aktivität eingestellt. Ihre Chancen auf eine Massenbasis dürften angesichts der Zerstörungen, die der Krieg gerade in den östlichen – und früher tendenziell russlandfreundlichen – Teilen der Ukraine angerichtet hat, aller Wahrscheinlichkeit nach als bestenfalls gering einzustufen sein. Wenn Russland versuchen sollte, sich die Loyalität der Bevölkerung in den eroberten Gebieten durch Sozialleistungen zu kaufen, wird das irgendwann auf politischen Widerstand in der Bevölkerung im »alten« Russland stoßen, die auch nicht auf Rosen gebettet ist und nicht auf Dauer irgendwelche Solidaritätsopfer wird bringen wollen.
Wie Russland seine sicherheitspolitischen Interessen – im Kern, sich die Nato vom Hals zu halten – vertraglich garantieren will, ohne permanenten militärischen Druck ausüben zu müssen, ist nicht minder unklar. »Die Europäer« werden einige Kreativität entwickeln, alle Demilitarisierungs- und Neutralisierungspläne zu unterlaufen. Denn für sie wäre mit einem Misserfolg in der Ukraine schon der erste Versuch, wenigstens vor der eigenen »Haustür« Weltmacht zu spielen, gescheitert. Und auf die Treue der USA gegenüber einem eventuellen Friedensvertrag zu vertrauen, wäre auch einigermaßen leichtfertig. Russland würde also auch bei einem »Deal« nicht darum herumkommen, erhebliche Teile seiner Streitkräfte zur Grenzsicherung nahe der Ukraine stationiert zu halten – wodurch sie zur Machtprojektion an anderer Stelle fehlen würden. Auch in diesem Fall würde eine Überlegung wahr, die der private Nebengeheimdienst Stratfor im Herbst 2013 anstellte – kurz bevor EU und USA den Euromaidan lostraten: Russland durch »trouble in its backyard« von einer an anderer Stelle raumgreifenden Politik – wie damals in Syrien – abzuschrecken. Trumps »Deal«-Szenario macht da offenbar keinen großen Unterschied in der allgemeinen Stoßrichtung.
Im übrigen gilt alles, was Donald Trump Wladimir Putin vielleicht zusagen mag, nur für ihn selbst und in geringerem Maße für seine Partei, die auch ihren »Falkenflügel« hat. Im Fall, dass die nächste US-Präsidentenwahl wieder die Demokraten gewinnen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch eine auf Ausgleich mit Russland zielende US-Politik wieder revidiert würde. Und sei es im Namen des ideologischen Arguments der »Bekämpfung von Autokraten«. Ganz abgesehen von Trumps notorisch sprunghafter Natur und der Tatsache, dass er Russland gerade erst im Südkaukasus einen heftigen Tritt vors Schienbein verpasst hat: durch den Anspruch, unter US-Regie eine direkte Straßenverbindung von Aserbaidschan durch armenisches Territorium in dessen Exklave Nachitschewan und weiter bis in die Türkei – und natürlich auch umgekehrt von der Türkei zum Kaspischen Meer – zu bauen und diese von amerikanischen Söldnerfirmen »sichern« zu lassen. Das würde den Zugriff der USA auf die zentralasiatischen Rohstoffvorkommen ermöglichen, die bisher über das russische Leitungsnetz exportiert werden, womit Moskau die Hand am Regler behält – und wäre ein empfindlicher Rückschlag für Russlands Position im Südkaukasus.
Zusammengefasst: Russland hat den Ukraine-Krieg begonnen wie nach dem Lehrbuch von Clausewitz: als »Fortsetzung der Politik unter Einmischung anderer Mittel«. Wie es von diesen »anderen Mitteln« jetzt wieder herunterkommen will, ohne an seinen politischen Zielen Abstriche zu machen, ist derzeit kaum absehbar. Genausowenig, welche innenpolitischen Folgen das für das System Putin haben könnte.
Mars macht mobil
Thomas Schaefer über Douglas Rushkoffs Abrechnung mit den Tech-Oligarchen
Derzeit scheint es so, als müssten sich Trump, Musk, Thiel, Bezos und Konsorten vor nichts und niemandem fürchten – außer vor den Konsequenzen ihres eigenen Handelns. Was es mit »Longterminism«, mit der aufs Armageddon abzielenden Parareligiosität von Trumps »Vordenker« Steve Bannon, dem »Technofaschismus« et cetera auf sich hat, weiß man mittlerweile. So krankt denn auch das vieldiskutierte Buch des »Medientheoretikers« Douglas Rushkoff daran, dass es Dinge repetiert, die nicht nur bekannt, sondern in manchen Aspekten bereits überholt sind (etwa die volatile Position Musks im amerikanischen Machtapparat betreffend). Problematischer ist, dass Rushkoffs Analyse mitunter etwas oberflächlich ist und merkwürdig zu Naturüberhöhung und Aufklärungsfeindlichkeit neigt. Und es gehört fast schon zum unvermeidlichen Wesensmerkmal solcher Bücher, dass sie dünn werden, wenn es um Krisenauswege geht. Rushkoff jedenfalls folgt einer gegenwärtig offensichtlich beliebten These, derzufolge alternative Lebensformen in kleinen Einheiten wie etwa der Nachbarschaft den Königsweg darstellen.
Dass es sich dennoch lohnt, Survival of the Richest zu lesen, liegt daran, dass eine Schwäche gleichzeitig die Stärke des Buches ist: Es ist sehr unterhaltsam, in diesem typisch amerikanischen Sound gehalten, der flott daherkommt und den Eindruck vermittelt, der Autor habe wirklich Ahnung, nicht zuletzt, weil er immer dabei ist, wenn es spannend wird. Das gilt gleich für die erste Episode, in der Rushkoff irgendwo in der Wüste zu einem Vortrag vor ausgesuchten Milliardären eingeladen wird. Sie haben allerdings kein Interesse an seinen grundlegenden Erkenntnissen zu Digitalisierung und so weiter, sondern wollen aus Expertenhand erfahren, ob sie sich auf ihre Security verlassen können, wenn es zum Armageddon kommt, welche Bunkertypen zu empfehlen sind und dergleichen mehr. Insiderschnurren wie diese sind tatsächlich dazu geeignet, Probleme zu konkretisieren, und wenn sie dazu beitragen, dass Leute, die sich bislang nicht mit den »Richest« beschäftigt haben, mehr wissen als zuvor, ist das ja auch in Ordnung.
Douglas Rushkoff: Survival of the Richest. Warum wir vor den Tech-Milliardären noch nicht einmal auf dem Mars sicher sind. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp, Berlin 2025, 282 Seiten, 22 Euro
Kritik der Politik – kurzer Lehrgang
Zum hundertsten Geburtstag von Johannes Agnoli ist ein Buch über seine politische Theorie erschienen. Von Axel Berger
Der Marxismus ist nicht die Lehre von den Revolutionen, sondern die Lehre von den Konterrevolutionen«, schrieb einst Amadeo Bordiga. Denn, so der von Stalin geschasste erste Vorsitzende der Kommunistischen Partei Italiens weiter, »alle wissen sich zu bewegen, wenn sich der Sieg abzeichnet, jedoch nur wenige wissen dies zu tun, wenn die Niederlage kommt, sich kompliziert und andauert«. Isolation und Verzweiflung, vor allem aber fehlende analytische Klarheit, und nicht etwa plumpe Vorteilsnahme, seien die Grundlagen des Opportunismus. In der Tat war und ist das Wühlen der wenigen Anhänger/innen einer klassenlosen Gesellschaft in nicht-revolutionären Zeiten meist weniger von historisch-materialistisch begründeter Strategie als von taktischen Winkelzügen geprägt: Wählen des kleinsten Übels, Märsche durch fremde Institutionen, fragile Bündnisse mit ihren eigentlichen Gegnern, isolierte Kampagnen gegen die größten Zumutungen, (sub-)kulturelle Selbstbehauptung.
Einer der wenigen marxistischen Intellektuellen, der sich substantiell mit diesem Dilemma und seiner Basis – der Analyse des bürgerlichen Staats – befasste, war Johannes Agnoli. Am Anfang stand für ihn die Illusion: »Es liegt eine Faszination in der Vorstellung, das Proletariat bemächtige sich gerade der demokratischen Staatsorgane, die von der Bourgeoisie zwar in die Geschichte eingeführt, von ihr aber aufgegeben und verraten worden sind«, schrieb der 1925 in den italienischen Dolomiten geborene und jahrelang an der Berliner Freien Universität lehrende Politikwissenschaftler 1968; um anschließend zu verdeutlichen, dass er diese Faszination ganz und gar nicht teile.
Überraschend war das nicht. Im Jahr zuvor hatte der bis dahin weitgehend unbekannte Agnoli mit seiner Schrift Die Transformation der Demokratie einen der zentralen Orientierungspunkte für die im Entstehen begriffene Außerparlamentarische Opposition (Apo) vorgelegt. Darin hatte er die Tendenz des parlamentarischen Verfassungsstaates zur »Involution«, der Transformation demokratischer Rechte zur Nutzung als reine Herrschaftstechniken, aufgezeigt. Der Sinn bestehe letztlich darin, heißt es weiter, »einen Zustand des sozialen Friedens zu garantieren, in dem gesellschaftlicher Antagonismus und politische Opposition entkräftet« würden. Nicht im Parlamentarismus, sondern nur in den Kämpfen gegen ihn könnten die Besitzlosen also ihre Emanzipation erreichen.
Acht Jahre später legte Agnoli nach. Sein zweites Buch, Der Staat des Kapitals – das Gesamtwerk besteht neben diesen beiden Schriften lediglich aus kaum zwei Dutzend Aufsätzen sowie seiner von einem Studenten mitgeschnittenen Abschiedsvorlesung –, stellt trotz des geringen Umfangs von kaum siebzig Seiten die bis heute vielleicht konziseste marxistische Analyse des Wesens des »ideellen Gesamtkapitalisten« (Friedrich Engels) dar. Dieses Wesen bestand für ihn vor allem darin, dass die Handlungsfähigkeit des formal gegenüber einzelnen gesellschaftlichen Gruppen autonomen Staats völlig »vom Zwang zur Verwertung und Akkumulation« abhängig sei. Damit aber wäre die grundsätzliche Richtung staatlicher Politik, allen partikularen Aushandlungsprozessen zum Trotz, immer gesetzt: »Die Herren des Staates üben Macht über das Volk aus; und keine gesellschaftliche Herrschaft, die sich gegen die Herren der Ökonomie kehren könnte.« Nur der »auf der gesellschaftlichen Ebene und in der unmittelbaren Produktion vorangetriebene Angriff gegen das Kapital und seinen Organisator« könne den »regenerativen Charakter« des Kapitalismus sprengen, so Agnolis Fazit.
Angesichts solcher Sätze verwundert es nicht, dass sich der 2003 Verstorbene in den Jahren der Krise und der Domestizierung der Linken zu den vielen Vergessenen gesellt hat. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Politologe Michael Hewener zum hundertsten Geburtstag Agnolis nun eine kurze Sammlung von Texten samt biografischer Einleitung vorgelegt hat. Hewener, der auch für die neue fünfbändige Werkausgabe mitverantwortlich ist, beschreibt darin die Genese des jungen Faschisten und Wehrmachts-Freiwilligen zum Marxisten und dessen politisches Wirken in der Apo und an der Universität, gibt aber auch einen Einblick in die »Kritik der Politik«, als die Agnoli seine Analysen und Interventionen stets verstanden wissen wollte.
Wozu aber sollte man sich diese aneignen? Zum Beispiel, um sich der überall in den westlichen Demokratien stattfindenden autoritären Wende, im Agnolischen Jargon: der Involution, bewusst zu werden. Mit Sicherheit aber, um sich auch in der Niederlage zumindest im Denken weiterbewegen zu können: »In der dürftigen Zeit finden wir (das Denken) nur in der Negation«, gab Agnoli 1990 den Leserinnen und Lesern von konkret mit auf den Weg. Denn: »Die Utopie, die aus der Destruktion aller Strukturen der Ungleichheit, der Unterdrückung, der Herrschaft entsteht, das ist heute der einzig mögliche Ausweg aus der sich anbahnenden Vernichtung.« (Beide Zitate stammen aus konkret 2/90.) Es sind Sätze wie diese, die man allzu lange nicht vernommen hat.
Michael Hewener (Hg.): Johannes Agnoli oder: Subversion als Wissenschaft. Dietz, Berlin 2025, 176 Seiten, 14 Euro
Axel Berger schrieb in konkret 5/25 über die Folgen des Klimawandels für den afrikanischen Kontinent
Who cares!
Care-Arbeit ist im Kapitalismus vor allem ein Verlustgeschäft und wird deshalb prinzipiell geringgeschätzt, wie die dänische Autorin Emma Holten in ihrem Buch Unter Wert eindrücklich nachweist. Von Klara Hohnke
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) will, dass mehr gearbeitet wird. Dabei haben fast zwei Millionen Menschen in Deutschland einen Zweitjob, mehr als die Hälfte aller Überstunden ist unbezahlt. Vor allem Frauen sollen aus der Teil- in die Vollzeit wechseln und »die Wirtschaft stärken«. Am Kampftag der Arbeitenden warnte der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke vor dem Ende des Achtstundentags. Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung sieht vor, dass die tägliche Höchstarbeitszeit in eine wöchentliche geändert werden kann. Laut Werneke »werden 13 Stunden Arbeit am Stück möglich und rechtlich zulässig«. Die Warnung kommt zu Recht, die große Empörung bleibt erschreckenderweise aus. Trotzdem werden gerade pflegende Personen nur müde die Köpfe schütteln. Welcher Achtstundentag?
Care-Arbeit kennt keine Arbeitszeitbegrenzung. Hausarbeit, Mental load, Pflege und Betreuung von Personen oder Beziehungen finden permanent statt. Und sie sind sehr ungleich verteilt. Wer online nach Bildern zu »Altenpflege«, »Pflege von Kindern« oder einfach nur »Pflege« sucht, findet meistens Fotos weiblicher Pflegekräfte. Immer lächelnd. Diese Ergebnisse sind ein Abbild der Gesellschaft, ihrer Erwartungen und Stereotype. Aufgaben, die von Fürsorgeberufen übernommen werden, waren traditionell bei Frauen in der als privat und unpolitisch dargestellten Familie angesiedelt. Die Care-Arbeit der Mutter, Schwester oder Oma wurde als natürlich, nicht aber als Tätigkeit, geschweige denn produktive gesehen.
Der berechnete »Gender Care Gap«, das heißt das Gefälle der Zeitdauer, die von Frauen und Männern für unbezahlte Fürsorgearbeit aufgewendet wird, liegt in Deutschland derzeit bei 44,3 Prozent. In einer Woche verbringen Frauen neun Stunden mehr mit unbezahlter Arbeit als Männer. Der geschlechtsbezogene Unterschied existiert auch bei bezahlter Pflegearbeit. Kaum überraschend ist daher ein aktueller Befund des Paritätischen Wohlfahrtsverbands: Junge Frauen haben ein besonders hohes Armutsrisiko. Sie sind häufiger in sozialen Berufen angestellt, in denen die Bezahlung schlecht ist. Ebenso wenig überraschend rechnet das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung im Bereich von Erziehung, Sozialem und Gesundheitswesen mit Schwierigkeiten, Fachkräfte zu bekommen.
Zur systematischen Unsichtbarmachung und Entwertung von Care-Arbeit ist jetzt ein Buch erschienen. Mit Unter Wert gelingt der Dänin Emma Holten eine spannende Aufarbeitung von Fürsorgearbeit in den westlichen Wirtschaftssystemen. Doch das kapitalistische Ideologem von Arbeit, Preis und Wert ist im gesellschaftlichen Denken fest verankert. Der Verlag zitiert stolz das Magazin »Woman«: »Emma Holten klärt in Unter Wert auf, warum wir auch für Care-Arbeit ein Preisschild brauchen.« Weder DTV noch »Woman« scheinen Unter Wert verstanden zu haben. Holten betont mehrfach, dass Care-Arbeit sehr wohl ein Preisschild hat. Nur ist der Preis eine Null. Im Kapitalismus sind Preis und Wert nie dasselbe. Es ist die willkürliche Zuschreibung, die durchgerechnete, effizienzgetrimmte Einordnung von Care-Arbeit, die Holten zu Recht kritisiert. Fürsorge soll nicht einfach monetarisiert, sondern ihr gesellschaftlicher Wert anerkannt werden: »Der Kampf um Selbstbestimmung, Freiheit und ein eigenes Einkommen darf nicht zu einer Idealisierung des Arbeitsmarktes verkommen«, denn Gefühle und Fürsorge lassen sich nicht in Zahlen übersetzen. Aber was nicht passt, wird passend gemacht. Care-Arbeit bringt keine materiellen Produkte hervor. Darum wird sie als Verlustgeschäft dargestellt.
Fürsorgearbeit wird außerdem nicht anerkannt oder wertgeschätzt, weil niemand bedürftig oder auf Pflege angewiesen sein möchte. Abhängigkeit gilt als Schwäche. Und Schwäche darf sich niemand leisten. »Wenn Freiheit als die Freiheit von Fürsorge definiert wird, heißt das auch immer, dass eine unsichtbare, abgewertete Person … diese Fürsorge übernehmen muss.« Pflege wird so zu einer Konfrontation mit Körpern, die nicht, nicht mehr oder noch nicht so funktionieren, wie es die Produktionsweise für ihr Fortbestehen braucht. In einer kapitalistischen Gesellschaft, in der Produktivität, Leistung und ein selbständiger Beitrag zur Akkumulation Status bringen, gilt es jeden Anschein von Bedürftigkeit zu vermeiden. Der notorische Tellerwäscher wird zum Millionär nur durch harte Selbstausbeutung, nicht weil er zwischendurch eine Umarmung bekommt oder jemand im Verborgenen seine Wäsche reinigt.
Spannend ist die Unterscheidung zwischen Care-Arbeit, die eine Person leisten muss, und der, die sie leisten darf. Ähnlich wie durch die neokoloniale Praktik des Brain drain sind es in den reicheren westlichen Staaten vor allem marginalisierte Frauen, die die Fürsorgearbeit übernehmen. In den letzten Jahren ist laut der Agentur für Arbeit die Zahl der Angestellten in Pflegeberufen um 22 Prozent gewachsen. Das liegt an den Fachkräften, die aus dem Ausland angeworben worden sind, um die Leerstellen im Pflegesystem zu füllen. Dadurch verlagert sich nicht nur die Pflegelücke. Care-Arbeit wird gleichermaßen zu einer ausbeuterischen Arbeit wie zu einem Privileg. Personen, die in der Lohnarbeit beschäftigt sind, werden
Zeit und Möglichkeit genommen, sich in fürsorglichen und liebevollen Beziehungen zu entfalten. Und wer zu Hause mit Hausarbeit, Pflege und Versorgung von Angehörigen beschäftigt ist, kann sich nicht gleichzeitig auf dem Arbeitsmarkt verausgaben. Care-Arbeit führt zum ökonomischen Fortbestehen des Systems, aber zu individueller Armut. Das ist der Widerspruch der Fürsorge: »Unwert schafft Wert.«
Angesichts der Debatte um mehr Arbeit ist Unter Wert hochaktuell, doch die nötige radikale Neuaushandlung des Wirtschaftssystems wird es kaum geben. »Deutschland wird wieder ein Land werden, in dem Fleiß, Leistung und Erfolg anerkannt und belohnt werden«, verspricht Kanzler Merz. Man darf bezweifeln, dass er dabei an die Care-Arbeitenden dachte. Vielleicht klatschten wir statt dessen alle noch einmal dankbar vom Balkon.
Emma Holten: Unter Wert. Warum Care-Arbeit seit Jahrhunderten nicht zählt. Aus dem Dänischen von Marieke Heimburger. DTV, München 2025, 288 Seiten, 22 Euro
Klara Hohnke schrieb in konkret 7/24 über das kapitalistische Interesse am Gender Pay Gap
Sozis in der Dissidenz
Das »Friedensmanifest« einiger SPD-Mitglieder sollte ein Protest gegen die Parteispitze sein, weicht aber von Deutschlands Kriegskurs kaum ab. Von Johannes Schillo
War da nicht was? Ein heißer Konflikt, bevor die sommerliche Hitzeperiode begann? Ach ja, Anfang Juni erblickt ein »Manifest« das Licht der Welt, das ein paar Tage lang für größte Aufregung sorgt. Unerhört, leibhaftige SPD-Mitglieder fangen an, mit der Friedensbewegung zu liebäugeln! Genauer gesagt: Verunsicherte Altfunktionäre geben zu bedenken, ob sich nicht verbreitete Friedenshoffnungen und Kriegsängste – gegen den eigenen Niedergang und in Konkurrenz zu BSW/AfD – in Wahlstimmen ummünzen lassen. Dazu verfassen parteieigene »Friedenskreise« ein Manifest, das mit der umwerfenden Losung »Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung« antritt.
Es benennt mit den ersten beiden Punkten das, was die deutsche Politik sowieso vorhat – eine gigantische Aufrüstung im Rahmen neu gewonnener europäischer Eigenständigkeit, die aber koordiniert und kontrolliert, ohne Erzeugung der bekannten »Rüstungsspirale«, stattfinden soll. Und am Ende irgendwie zu Abrüstung führen könnte – wenn man sich nur oft genug auf dieses Ideal beruft.
Die Notwendigkeit, sich mit dem russischen Kriegsgegner zu verständigen, liegt zwar noch etwas in der Ferne, aber auf irgendeinen Vertrag muss es ja hinauslaufen; benutzbar soll »unsere« östliche Einflusssphäre schließlich wieder werden. Wozu sonst der ganze militärische Aufwand? Und das Nato-Oberhaupt im Weißen Haus hat sowieso keine Hemmungen, entsprechende Gespräche zu führen und Geschäftsgelegenheiten zu sondieren.
Angesichts der allgemeinen Empörung reibt man sich die Augen. Das soll eine »Kampfansage« (»FR«, 12.6.) sein, die sich »frontal gegen die Pläne von Regierung und SPD-Spitze« (»Stern«, 10.6.) stellt? Ein paar verstaubte Ideale aus der Zeit, als der Kalte Krieg mit Entspannungsmaßnahmen flankiert wurde, sollen die radikale Infragestellung der Verteidigung gegen Putins Reich des Bösen sein? Im Grunde weiß das auch die Presse besser und kann sich nebenbei über die Nostalgie altgedienter Sozis lustig machen: »Gegen einen solchen Kracher vermag nicht einmal das Furzkissen des Überschall-Teslas anzustinken« (»FAZ«, 13.6.).
Trotzdem wird gehetzt, dass es nur so kracht, und klagt die »FAZ« im selben Atemzug über »Realitätsverweigerung« (12.6.). Die Autoren des Manifests seien als »Sicherheitsrisiko für Deutschland und Europa« einzustufen, als »Tauben am Tor zur Hölle«, wie der Spruch von Kanzler Scholz, Pazifisten seien »Engel aus der Hölle«, zeitgemäß abgewandelt wird.
Das Stichwort »Realitätsverweigerung« macht sich auch die SPD-Spitze zu eigen und stellt dann auf dem folgenden Parteitag klar, dass es nur einen realistischen Kurs gibt, nämlich den, den die SPD gemeinsam mit CDU/CSU eingeschlagen hat. Das heißt: alles dafür tun, dass zum Ende des Jahrzehnts Kriegstüchtigkeit hergestellt ist und der Iwan einpacken kann. Von Skepsis, geschweige denn von Widerstand ist beim Parteitag kaum etwas zu spüren.
Die Presse ist etwas überrascht; die »Grabenkämpfe von einst brechen nicht auf« (»General-Anzeiger«, 30.6.), heißt es. Entdeckt wird vielmehr »eine gewisse Wurstigkeit« der Delegierten (»FR«, 30.6.), andere Kommentare sprechen von der Feigheit der Dissidenten, denn keiner von ihnen habe den Mut gefunden, »auf offener Bühne auch nur ein kritisches Wort gegenüber ihrem Parteivorsitzenden zu äußern« (»FAZ«, 30.6.). Eine Debatte über den Wehrdienst findet nicht statt, statt dessen wird im Hinterzimmer mit den Jusos ein Kompromiss ausgehandelt, der ganz auf der offiziellen Linie (siehe konkret 6/25) liegt: Vorerst keine Wehrpflicht, sondern erst, wenn man sie brauchen kann. Und auch ein paar Bedenken, ob die Aufrüstung mit der Fünf-Prozent-Marke solide eingefädelt ist, dürfen laut werden.
Erstaunlich ist, wie wohlwollend die selbsternannte Gegenöffentlichkeit (»Overton«, »Nachdenkseiten«) auf den Vorstoß der SPD-Dissidenten reagiert. Als würde der Antikriegsprotest hier seinen entscheidenden Schub erhalten. Ausgerechnet die »Junge Welt«, die von den regierenden Sozialdemokraten in die Extremistenecke gestellt wird, sieht hier den »Auftakt für einen aktiven Kern der Friedensbewegung« (20.6.). Als ob nicht mit einer Initiative wie »Sagt nein!« aus der Verdi-Opposition, unterstützt von mehr als 25.000 Unterzeichnern, längst ein wirklicher Einspruch gegen den Kriegskurs der (in der Regel SPD-nahen) DGB-Führung erfolgt wäre.
Die Kritik der Initiative am halbherzigen SPD-Dissidententum gilt solchen Altlinken als »sektiererisch«. Anscheinend träumen sie vom legendären »breitesten Bündnis« der Friedensbewegung, in dem auch gemäßigte Kriegstreiber ihren Platz finden. Immerhin, Nico Popp fällt dann im »JW«-Interview mit Peter Brandt die Harmlosigkeit des Manifests auf; das Bekenntnis zum Kombinat von Rüstung mit Kontrolle und Diplomatie sei eine Position, »die bis in die Union hinein mal Konsens war« (20.6.).
Dem Manifest steht ja auch die eigentliche Sorge – Mitglieder-, Wähler- und Profilschwund – auf die Stirn geschrieben, und Mitverfasser Mützenich dementiert gleich, dass man »ein Stachel im Fleisch der SPD oder der Koalition sein« wolle (»Junge Welt«, 14./15.6.). Gerade angesichts dieser konstruktiven Haltung stellen die Reaktionen aus der SPD-Führung und dem Regierungslager eine erklärungsbedürftige Hetze dar. Sie geht nur aus dem bedingungslosen Schulterschluss hervor, der der Nation bei der Kriegsvorbereitung abverlangt wird und der gegen einen traditionellen Friedensidealismus durchgesetzt werden muss.
Das Feindbild Russland steht felsenfest, und selbst eine minimale Abweichung wird bestraft, sogar eine, die die Ziele im Groben teilt und die sich der westlichen Feindschaftserklärung – wegen Putins »Angriffskrieg« – anschließt.
Johannes Schillo schrieb in konkret 6/25 über die Wehrpflicht in Deutschland
Nacht und Nebel
Birgit Weyhe zeigt in ihrem Comic Schweigen, wie eng die Geschichte der argentinischen Militärdiktatur mit dem Nationalsozialismus verbunden ist. Von Peter Kusenberg
Dann plötzlich fing er an zu sprechen, und wir wünschten uns sehnlichst sein Schweigen zurück«, heißt es in Primo Levis Roman Die Atempause, denn das Mitleid, das der Schweigensbrecher »in uns erregte, war mit Schrecken gemischt«. In Birgit Weyhes umfangreichem Comic-Werk Schweigen heißt es zu Beginn: »Wer im Nationalsozialismus verschwieg, dass seine Nachbarn untergetauchte Juden versteckten, hat genauso geschwiegen wie diejenigen, die wegschauten, wenn am hellichten Tag die Menschen zu den Deportationszügen gebracht wurden.« Die Ambivalenz des Schweigens durchzieht die historische Erzählung von den 30er Jahren bis in die Gegenwart. Als erste Hauptfigur tritt Ellen Marx auf, der 1939 als jüdischer Schülerin in Berlin die Ausreise nach Argentinien gelingt, wo sie als einziges Mitglied ihrer Familie die Shoa überlebt. Ellens Tochter Nora, die zweite Protagonistin, »verschwindet« knapp vierzig Jahre später in einem Foltergefängnis.
Als dritte Hauptfigur wählte Weyhe die deutsche Studentin Elisabeth Käsemann, die sich im SDS um Rudi Dutschke politisierte und 1970 nach Buenos Aires übersiedelte. Dort setzte sie ihre politische Arbeit fort, was ab 1976 zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit geriet, nachdem sich die Militärjunta an die Macht geputscht hatte. Käsemann agitierte im linken Untergrund gegen das Regime, hoffend, dass ihr bundesdeutscher Pass sie vor dem Zugriff des Regimes schützen werde. Ihre britische Freundin Diana erzählte Jahre später, dass sich die beiden am Vortag der Verhaftung zum Frühstück verabredet hatten. Als Elisabeth nicht auftauchte, befürchtete Diana das Schlimmste und vernichtete heikle Dokumente. Am zweiten Tag wurde Diana »abgeholt«, gefoltert und in ein Lager entführt, wo sie die in einem Nebenraum vor Schmerz schreiende Elisabeth wegen ihres deutschen Akzents identifizieren konnte. Die Britin wurde vergewaltigt und entlassen, woraufhin sie das Auswärtige Amt benachrichtigte. Doch, wie es in konkret 10/86 heißt, lagen den »Damen und Herren im Hause Genscher Atom- und Rüstungsgeschäfte näher … als die Erhaltung linken Lebens«. Weyhe illustriert dies mit Schaubildern, die die extreme Steigerung der BRD-Exporte nach Argentinien zeigen, während im folgenden Panel der Kapitän der DFB-Auswahl während der Fußball-WM 1978 das eklige Sätzchen spricht, er, Berti Vogts, »habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen«.
Dennoch erregte der Fall Käsemann im Heimatland einige mediale Aufmerksamkeit, so dass im Juni 1977 der Leichnam des Folteropfers freigegeben wurde. Nora Marx’ Leiche hingegen wurde nie gefunden. Weyhe beschreibt die Bemühungen der Eltern, insbesondere der Mutter, das Schicksal der Tochter zu ermitteln. In Buenos Aires demonstrierte Ellen mit anderen Müttern, den »Madres de Plaza de Mayo«, für Aufklärung der Verbrechen, wobei sie meist zwischen dem Platz und ihrer Arbeitsstelle bei der jüdischen Gemeinde pendelte. Weyhe verweist auf den hohen Anteil jüdischer Menschen an den Opfern der Junta. »Die Zahl der verschwundenen Deutschen war bis zum Ende der Diktatur auf Hunderte gewachsen. Ein Drittel von ihnen waren Nachkommen deutsch-jüdischer Emigranten«, was nicht verwundert, wenn man weiß, dass seit 1945 via »Rattenlinie« mindestens 10.000 Nazis nach Südamerika entkamen, rund die Hälfte davon nach Argentinien. Weyhe spekuliert, dass sich die Machthaber ein Beispiel an Hitlers »Nacht-und-Nebel-Erlass« von 1941 nahmen und die Opfer »lautlos« und »systematisch« zum »Verschwinden« brachten, um die Angehörigen zu verunsichern.
Die Autorin erzählt das Schicksal der drei Frauen chronologisch und beschreibt zuletzt das weitere Leben der Marxens. Noras Vater etwa verunsichert Jahre nach den Ereignissen eine Reisegesellschaft damit, dass er unaufgefordert davon erzählt, wie sein Sohn bei einem Autounfall in Israel starb, und dass seine jüngste Tochter verschleppt, gefoltert und vermutlich ermordet wurde, und er fragt, wie er dieses Wissen ertragen soll. Seine ebenfalls anwesende Gattin ist entsetzt, doch sie schweigt, weil sie, wie ihre zweite Tochter spekuliert, nur »weiterleben kann, wenn sie ihren Schmerz verdrängt«. Weyhe zeichnet die historischen Ereignisse in einfachen, dezent kolorierten Bildern. Quälerei, Ungewissheit, Schmerz und Vergewaltigung erscheinen als krakelige Schraffur oder als Schwarzfläche, Folterknechte als Scherenschnitt, während der Admiral und Massenmörder Emilio Massera mit blutroten Flecken in Szene gesetzt ist.
Die im Anhang dokumentierte Recherche hat zu einem ebenso aufklärerischen wie anschaulichen Historiendokument geführt, das die Nazi-Herrschaft, Argentiniens Militärdiktatur und deren Verharmlosung durch die Regierung Milei miteinander verbindet. Anders als die Autoren Pascal Bresson und Sylvain Dorange, die in ihrem Comic Beate und Serge Klarsfeld: Die Nazijäger (Carlsen 2021) komische Szenen integrierten, bleibt Weyhe weitgehend nüchtern in ihrer Schilderung. Dabei hätte sie die Lebensumstände der beiden Frauen Nora und Elisabeth gern ein wenig ausführlicher schildern können, damit das Werk nicht in Gefahr gerät, zum Lehrbuch für deutsche Oberstufen zu verkommen.
Doch der Fokus aufs große Ganze mindert nicht das Gelingen der Inszenierung des Grauens, das bei Weyhe entsetzlicher wirkt als der aktuelle argentinische Horrorfilm »1978« über den Terror der »freundlichen Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft« (Hermann L. Gremliza).
Birgit Weyhe: Schweigen. Avant-Verlag, Berlin 2025, 386 Seiten, 39 Euro
Peter Kusenberg schrieb in konkret 6/25 über den Comic Zwei weibliche Halbakte
Humboldts vergessenes Erbe
Die Menschheit wird ärmer, weil ihre Sprachen verarmen – zu diesem deprimierenden Schluss kommt der Kognitionswissenschaftler Caleb Everett. Von Jürgen Roth
Farbbegriffe«, schreibt der US-amerikanische Kognitionswissenschaftler Caleb Everett in seinem Buch 1000 Sprachen – 1000 Welten, seien »die am gründlichsten untersuchten Sinneswörter in den Sprachen der Welt«. In manchen Sprachen gebe es fünfzehn (zum Beispiel im Koreanischen), in anderen lediglich zwei Grundfarbwörter (»grün« und »rot« in südamerikanisch-indigenen Idiomen). Doch warum dem so ist – man weiß es trotz aller Forschungsanstrengungen nicht. Genügt es der einen Sprachgemeinschaft, die Objekte der physischen Welt in ihrer flamboyanten, schillernden Beschaffenheit mit einem kargen Kategorienapparat zu erfassen, so spürt die nächste den unendlichen Abstufungen der optischen Töne mit einer ausladenden Palette bedeutungstragender Laute nach.
Erstaunlich, dass die in der Geschichte der abendländischen Philosophie gut gereiften Korrespondenztheorien bei näherem Betrachten ihrer Grundlagen verlustig gehen: Just die Völker des Amazonas, deren Sprachen Everett über viele Jahre hinweg katalogisiert hat, benötigen angesichts einer überbordend üppigen Natur nur einen rudimentären Farbwortschatz, derweil dem Englischen diesbezüglich ein ziemlich aufgemotzter Thesaurus zur Verfügung steht. Deshalb scheint der These, es spielten »kulturelle Faktoren« (gewissermaßen als Konstruktionsprinzipien) und nicht außenweltliche die Hauptrolle bei der Ausbildung von Sprachsystemen, die sich unter anderem an der Bewältigung lebenspraktischer Aufgaben zu bewähren haben, eine gewisse Plausibilität zuzukommen.
Die Bildung von Substantivklassen, die Raumvorstellungen sortieren, folgt einem ähnlich erratischen Muster, das eben deshalb keines ist. Everett widerspricht über Hunderte von redundant gefüllten Seiten dem Modell einer universalistischen Sprachtheorie, ohne bis zum Schlusskapitel Noam Chomsky zu erwähnen. Dessen Konzept einer Tiefenstruktur, die, in ihrer Wirkungsweise über apart gezeichnete Bäume mit Nominal- und Verbalphrasen darstellbar, sämtlichen Einzelsprachen zugrunde liege, mag eine abstrakte Syntaxtheorie begründen; die Ebene des Gebrauchs, der Bedeutung, die in ihrer Vagheit und Regellosigkeit in Metaphern und Redewendungen besonders deutlich wird, erreicht es nicht (und, nebenbei, nicht einmal jene der Satzbildung und Wortstellung). Da war nicht erst Wittgenstein weiter, sondern bereits Wilhelm von Humboldt, der zusammen mit Herder und als sachte abtrünniger Kantianer für den ersten linguistic turn in der Geschichte des Denkens verantwortlich zeichnete.
Everett konstatiert, »dass die Sprache einen Einfluss auf das hat, was wir früher als tiefverwurzelte, universelle Facetten der menschlichen Raumwahrnehmung betrachteten«. Bei allem empirischen, feldlinguistisch und datenbankgestützt untermauerten Fleiß – das hätte er einfacher haben können. Humboldt erhob entschieden Einspruch gegen den dieser Tage unter dem Banner der »Weltgesellschaft« segelnden »Vulgärrealismus« und eine mechanistische Sprachvorstellung, die »allen Geist und alles Leben verbannt«. Man nehme den Polen ihr »Flussbein« weg und den Deutschsprachigen ihren »Flussarm«, die Welt wäre nochmals karger.
Wir bahnen uns einen Zugang zur Wirklichkeit durch die je eigene, bildlich prägende, in Analogien aufgefächerte Sprache, »welche der Geist zwischen sich und die Gegenstände durch die innere Kraft seiner Arbeit setzen muss«. Humboldt sprach von »Weltansicht« (nicht von Weltanschauung!). Sprache sei kein »Inbegriff gesellschaftlich erfundener, in sich gleichgültiger Zeichen, deren lästige Verschiedenheit man nun einmal nicht loswerden kann«, sondern tätiger Ausdruck und Medium der Verschiedenheit, die sich bis in jedes Individuum hinein fortpflanze. So viele Sprachen gebe es, wie es Menschen gibt.
»Kommunikation ist Schwindel«, meinte Adorno, sich gegen die rationalistische Reduktion des Äußerungs- und Darstellungsvermögens wendend. Everett ratifiziert das pausenlos. Sprache ist kein bloßes Austauschmittel, sondern eine anthropologische Konstante, die jene Grenzen setzt, ohne die kein Lebewesen zu existieren vermag. »Nur durch die Untersuchung verschiedener kognitiver Bereiche unter völlig unterschiedlichen sprachlichen, kulturellen und ökologischen Umständen kann das Studium des Geistes das wahre Ausmaß der begrifflichen Vielfalt unter den Menschen erfassen«, heißt es bei Everett, und sein Resümee ist deprimierend: »Wir stehen am Schnittpunkt zweier Entwicklungen: der zunehmenden Anerkennung der kognitiven und sprachlichen Vielfalt in den menschlichen Populationen und des unaufhaltsamen Rückgangs der sprachlichen Vielfalt, die diese Anerkennung überhaupt erst ermöglichte.«
Es gibt doch in Berlin diese Universität. Vielleicht sollte man an der mal wieder die Abhandlung Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts lesen – sofern es dort noch um geistige Entwicklung und nicht bloß um »inklusives« Gefasel geht.
Caleb Everett: 1000 Sprachen – 1000 Welten. Wie sprachliche Vielfalt unser Menschsein prägt. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus de Palézieux. Westend, Neu-Isenburg 2025, 320 Seiten, 26 Euro
Jürgen Roth schrieb in konkret 5/25 über die Staatsmedien im Vorkrieg
All Greens Are Bastards
Deutschlands Spießbürger toben, seit die Covorsitzende der Grünen Jugend, Jette Nietzard, sich mit einem »ACAB«-Pulli zeigte – am lautesten aber schreit die Führungsriege ihrer eigenen Partei. Von Elena Wolf
Eigentlich ist die ganze Chose viel zu beknackt, um überhaupt darüber zu schreiben. Jede Woche sagen oder tun ein orangener Mann in den USA und seine (Ex-)Freunde irgendeine so irre oder dumme Scheiße, die man nicht glauben würde, wenn man nicht seit Corona daran gewöhnt wäre. Und auch in Deutschland ist es mittlerweile völlig normal geworden, dass Rechte hanebüchenen Quatsch in Markus Lanz’ rechterülpsegeiles Gesicht rülpsen und sich in Interviews mit dem reichsten Mann der Welt einig sind, dass Hitler Kommunist war. Lügen wurden Wahrheit. Krieg wurde Frieden. Sklaverei soll Freiheit werden, Ignoranz obsiegen. Und von den öffentlich-rechtlichen über die bürgerlichen bis zu den Trash-Medien erscheinen Storys mit klickgeilen Überschriften zu jeder noch so absurden Hirngülle in immer höherer Schlagzahl. Nach ein paar Tagen ist bekanntlich wieder Schluss. Bis die nächste Sau durch die Empörungsmaschine gewolft wird.
Okay, Wahrheit war nie die größte Stärke von Rechtsextremen. Die sind eben aktuell am Drücker. Und Medien müssen halt verkaufen. Klar. Und der Orangenmann, sein verflossener Elmo und die deutsche, gesichert rechtsextreme Parteiführerin reden ja auch wirklich am laufenden Band Quark. Aber dass Menschen im Jahr 2025 in einer Gaga-Pandemie leben würden, in der sich Polit- und Finanzeliten überhaupt keine Mühe mehr machen müssen, offensichtlich Falsches als wahr zu verkaufen, und die Welt ernsthaft darüber diskutiert, ob Hitler Sozialist oder Kommunist war, stand wahrscheinlich nicht einmal auf der Bingokarte von Polemikpapst Hermann L. Gremliza. Falls doch, gerne mit Quellenangabe per Leserbrief an die Redaktion. (Spaß! Um Gottes willen bitte keine digitalisierten Analogfotos von Gremliza-Textstellen auf CD-ROM brennen und schicken. Bitte einmal durch die Jogginghose atmen und nicht auf jeden, fast täglich durchrauschenden Empörungszug aufspringen.)
Stichwort: Jette Nietzard – die Ikkimel des deutschen Politikzirkus. Ja, genau: Die 26jährige Bossbitch der Grünen Jugend, die im Mai ein Selfie in ihrer Instagram-Story gepostet hatte, auf dem sie zum obligatorischen Duckface einen petrolfarbenen (steht ihr gut!) Pulli mit einem kleinen »ACAB«-Logo im Stil des Adidas-Logos trug. »ACAB« bedeutet »All Cops Are Bastards«. Schon tausendmal online wie offline auf Shirts und Buttons gesehen. Seit anno punkzumal unendlich oft gehört. Ideologisch traditionell links verortet. Im Steinbruch des linksliberalen Post-Pop zum Etsy-Item verkommen.
Allein auszuführen oder gar zu begründen, warum »ACAB« eine völlig legitime Bekundung ist, würde der reaktionären Dampfplauderei recht geben, derzufolge sich Menschen irgendwie zu verteidigen hätten, die sie tätigen. Und jetzt ist sie sogar bei einer Grünen angekommen. Haha. Das hat die Polizei nicht verdient. Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits im Jahr 2016 geurteilt, dass »die Kundgabe der Buchstacbenkombination ›ACAB‹ im öffentlichen Raum … vor dem Hintergrund der Freiheit der Meinungsäußerung nicht ohne weiteres strafbar« ist, weil schlichtweg keine Beleidigung vorliege, die bestimmte Personen benenne. Ein Schuh, so alt wie Franz Josef Wagners Weinbrand.
Da der Dauerempörungszug aber höchste Eisenbahn hat und ein ständiger Erregungszustand nicht nur durch obsessiven Pornokonsum dazu führt, dass immer härteres Material gebraucht wird, um überhaupt noch irgendwas zu spüren, musste Nietzard natürlich eine Woche lang fürs obligatorische Empörungswichsen in Politik und Medien herhalten. Und das nicht nur in Wagners »Bildzeitung« und bei Wein- sowie Reichstagskönigin Julia Klöckner (CDU), bei sämtlichen Parteigrößen und den üblichen Verdächtigen der ganz normalen bürgerlich-rechten Presse wie Nikolaus Blome. Der hat in seinem Hirnstübchen für eine seiner jüngsten Kolumnen mal wieder mit Fäkalien gemalt und Nietzard im »Spiegel« kurzerhand mit Neonazis verglichen, die ja auch »das System« hinter einzelnen Menschen hassen würden.
Ganz vorne mit dabei beim Staffellauf der Berufsempörten waren die Grünen selbst. Grünen-Chef Felix Banaszak fand Nietzards »ACAB«-Pulli-Selfie »inakzeptabel«, sein Stellvertreter Konstantin von Notz plärrte auf X, Nietzards Foto sei ein »völlig unterirdischer, inakzeptabler und beleidigender Take für alle Polizistinnen und Polizisten«, und auch die sonst für ihre kessen Sprüche bekannte Ricarda Lang hält »ACAB« für »kompletten Schwachsinn«, weil sie in den vergangenen Jahren nur noch politisch arbeiten konnte, weil sie »vom BKA geschützt« worden ist. Alle waren sich einig: Jette geht gar nicht. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann legte ihr den Rücktritt nahe, und auch Cem Özdemir nutzte die Causa, um sich für die Nachfolge Kretschmanns in Stellung zu bringen: »Die Polizei verteidigt in höchstem persönlichen Einsatz jeden Tag Werte, die uns als Partei ausmachen. Wer das nicht kapiert, ist bei uns falsch«, biederte sich Özdemir auf X in hyperassimilierter Kartoffelrage an. Und er hat vollkommen recht.
Nietzard ist in der falschen Partei. Denn der Shitstorm um »ACAB« zeigt herrlich unfreiwillig, was für ein reaktionärer Verein die Grünen sind, die in blanker Panik, konservative Wählerschaft zu verlieren, alles abgestoßen haben, was mal mit Stricken im Plenarsaal anfing. Nietzard bedroht die im vergangenen Wahlkampf formvollendete Verspießbürgerung der Grünen, und das muss bestraft werden. Doch das Dümmste an der ganzen Nummer ist nicht der Shitstorm um die Modepunkerin Nietzard. Das Dümmste ist, dass Nietzards »ACAB«-Pulli das rechte Gaga-Narrativ nährt, Grüne hätten irgendwas mit Linken zu tun – die größte Schmeichelei, die Rechten Grünen antun können, um deren verzerrte Selbstwahrnehmung zu befördern. Und mit jedem weiteren Selfie, das Nietzard der Öffentlichkeit androht (»Ich habe noch ein paar andere Pullis im Schrank«), wacht ein rechter Clown mehr morgens auf, der glaubt, wenn er irgendwas mit »linksgrünversifft« ins Internet wichst, Grüne zu beleidigen.
Elena Wolf schrieb in konkret 4/25 über die Ausstellung »PROTEST!« im Landesmuseum Stuttgart
Ende der Schonzeit
Ein halbes Jahrhundert nach der Nelkenrevolution nähert sich Portugal wieder dem Faschismus. Von Carmela Negrete
Noch immer feiert Portugal den 50. Jahrestag der Nelkenrevolution von 1974. Bis 2026 läuft ein staatliches Programm, das die bürgerliche Demokratie Portugals an das Ende der Diktatur von António de Oliveira Salazar erinnern soll. Und während dieser Feierlichkeiten zur kommunistischen Revolution und zum Beginn der Demokratie erzielt ausgerechnet die rechtsextreme Partei Chega unter André Ventura mit 22 Prozent ihr bislang bestes Ergebnis.
Der Weg vom revolutionären Ursprung des heutigen portugiesischen Staates über die Anpassung an das Europa von Maastricht bis zum Widerstand gegen Finanzkrise und Troika ist zugleich die Geschichte des Niedergangs der Linken in Portugal. Das letzte Kapitel dieser Entwicklung wurde am 18. Mai geschrieben, als innerhalb von drei Jahren die dritten Wahlen stattfanden. Dabei errang die rechtskonservative Koalition Aliança Democrática (AD) unter dem derzeitigen Premierminister Luís Montenegro von der irreführend benannten Partido Social Demócrata einen Wahlsieg.
Montenegro hatte die Wahlen vorgezogen, weil er in eine Immobilienaffäre verwickelt war und sich des Vertrauens der Bevölkerung vergewissern wollte. Offenbar besitzt er dieses noch: Von den 116 Abgeordneten, die für eine absolute Mehrheit nötig wären, erhielt seine Koalition immerhin 89 Sitze – und wird voraussichtlich weiterregieren. Die Öffentlichkeit scheint von solchen Skandalen nicht mehr sonderlich beeindruckt zu sein. Es hat sich das Gefühl verbreitet, dass die Justiz wiederholt Verfahren einleitet, um Regierungen zu stürzen. Geradezu grotesk wurde es im Fall von Montenegros Vorgänger António Costa: Er trat zurück, nachdem gegen ihn Anklage erhoben wurde – nur um später, bereits nicht mehr im Amt, zu erfahren, dass die Justiz den »falschen« António Costa im Visier hatte.
Im kurzen Wahlkampf hetzte die extreme Rechte erneut gegen Migranten, insbesondere gegen Angehörige der Roma, und versprach, »Portugal zu retten«. Die Bestrafung »korruptionsverdächtiger Eliten« gehört schon länger zu den zentralen Versprechen von Chega – die Partei erinnert in Tonfall und Strategie zunehmend an Donald Trump. Dieser Diskurs ist allerdings längst bis in die politische Mitte vorgedrungen: So versprach auch die rechtskonservative PSD im Wahlkampf, massenhaft Migranten abzuschieben – ähnlich wie in Deutschland die CDU.
Die wirtschaftsliberale Partei Iniciativa Liberal gewann sieben Sitze und könnte Montenegro unterstützen – für eine Mehrheit reicht das allerdings nicht. Die 58 Abgeordneten der PS könnten gemeinsam mit der AD eine große Koalition bilden. Dies wäre jedoch ein riskanter Schritt, der – wie in Deutschland bei der SPD – langfristig zum weiteren Niedergang der Sozialdemokraten führen könnte. PS-Parteichef Pedro Nuno Santos will dies offenbar nicht mittragen und trat zurück. Noch vor kurzem hatte die PS unter António Costa eine absolute Mehrheit errungen – nun kam sie lediglich auf 23 Prozent und erhielt genauso viele Sitze wie Chega.
Noch düsterer sieht es für die politische Linke aus: Sie ist im Parlament praktisch bedeutungslos geworden. Der Bloco de Esquerda kam auf nur 2 Prozent der Stimmen und stellt einen einzigen Abgeordneten. Der Partido Comunista Português (PCP) sackte auf drei Prozent ab und erhielt nur drei Sitze. Den einzigen Aufstieg im progressiven Bereich verzeichnete die Partei Livre. Sie konnte von vier auf sechs Mandate zulegen. Damit ergibt sich ein Panorama, das eine rechtskonservative Regierung mit knapper Mehrheit zeigt – und mit einer erstarkten extremen Rechten in der Opposition. Für Portugal ist das ein Novum.
Eine treffende Analyse der Wahlergebnisse lieferte das Editorial der spanischen Online-Tageszeitung »Diario Red«, herausgegeben vom ehemaligen Vizepräsidenten und Podemos-Gründer Pablo Iglesias. Er weist darauf hin, dass der Zusammenbruch progressiver Kräfte derzeit in ganz Europa stattfinde und das »das Ergebnis einer strukturellen Strategie« sei, »die seit über einem Jahrzehnt von den Machtzentren Europas verfolgt wird, um zu verhindern, dass der Ausweg aus der Krise von 2008 aus antineoliberaler, demokratischer und transformativer Perspektive erfolgt«.
So sei Syriza in Griechenland zerstört, Podemos in Spanien diffamiert und das Bündnis Geringonça in Portugal gesprengt worden. »Mediale und politische Apparate wurden massiv mobilisiert, um zu verhindern, dass diese Kräfte an die Macht gelangen oder sich dort konsolidieren.« Iglesias sieht keine materiellen Voraussetzungen, um aus der politischen Mitte heraus eine Neugründung Europas zu führen: »Das derzeitige europäische Modell garantiert weder Frieden noch Wohlstand, soziale Stabilität oder Menschenrechte.« Der portugiesische Fall – ein Land, in dem die extreme Rechte bisher kaum eine Rolle spielte und das sich durch eine Revolution neu gegründet hatte – sei »eine Warnung für ganz Europa: Wenn der demokratische Fortschritt der Linken systematisch verhindert wird, ist das Ergebnis nicht Ausgewogenheit, sondern autoritäre Reaktion.«
Eines ist jedenfalls klar: Die wirtschaftliche Krise ist in Portugal chronisch geworden. Die EU-Mitgliedschaft hat die Lage nicht verbessert – im Gegenteil, die Industrie hat darunter gelitten. Trotz niedriger Arbeitslosigkeit können viele Menschen von ihrem Lohn nicht leben. Der Tourismusboom hat vor allem zu unbezahlbaren Mieten geführt, insbesondere in Lissabon. Viele junge Menschen wandern deshalb aus, und die Politikverdrossenheit ist groß. Die Medien diskreditierten systematisch die sozialdemokratische Regierung, an der die Linke beteiligt war – obwohl diese überwiegend sozialdemokratische Politik betrieb.
Carmela Negrete schrieb in konkret 9/24 über den Internethetzer »Alvise« Pérez, der es bis ins Europaparlament geschafft hat
Kann das weg?
Stefan Gärtner über die AfD-Verbotsdebatte
Wäre das Leben einfach, wär’s diese Sache auch: Eine Partei, die Massendeportationen fordert und Deutsche mit Migrationsgeschichte völkisch als »Passdeutsche« verunglimpft; eine Partei, die von einer unwoken Behörde wie dem Verfassungsschutz als »gesichert rechtsextremistisch« eingestuft wird und Leute in den Bundestag entsendet, die sich als »freundliches Gesicht des NS« verkaufen; eine Partei, wie sie sächsischen Handwerksmeistern gefällt, die per Zeitungsannonce Lehrlinge suchen, aber »keine Hakennasen« oder »Bimbos« – eine solche Partei gehört verboten, und man darf dem Heribert Prantl gern recht geben, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes sich genau das gedacht haben, als sie die Möglichkeit des Parteiverbots vorsahen.
Nun ist das Leben auch deshalb so kompliziert, weil sich so gut der rechte Zeitpunkt verpassen lässt. Im zweiten NPD-Verfahren 2017 kam es nicht zu einem Verbot, weil die NPD eine Kleinpartei war und Karlsruhe »hinreichende Anhaltspunkte von Gewicht« fehlten, »die eine Durchsetzung der von ihr verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele möglich erscheinen lassen«. Der Gegner war damals zu klein, jetzt er ist eigentlich zu groß: Im Osten ist die AfD flächendeckend stärkste Partei, stellt im Bundestag knapp hinter der CDU die zweitgrößte Fraktion und hat im braven Baden-Württemberg sogar die staatstragenden Grünen in Umfragen überholt. »Das Bundesverfassungsgericht«, weiß Wikipedia, »orientiert sich bei einem Parteiverbot zusätzlich an dem Kriterium des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, wonach ein ›dringendes soziales Bedürfnis‹ Voraussetzung ist«, ein Bedürfnis, das über zehn Millionen Deutsche nachweislich nicht haben.
Die Angst ist berechtigt, dass ein AfD-Verbot wie eine politische Entscheidung zur Konkurrenzbeseitigung aussieht, und das Gros der AfD-Wähler, zumal im Osten, wird hernach nicht zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung zurückkehren, sondern endgültig für sie verloren sein. Dieser Ungeist ist aus der Flasche, und nicht einmal Zahnpasta geht ja in die Tube zurück. Den Versuch ist es trotzdem wert, und sei’s, damit ich nicht unken muss, die Drohung mit dem »Anstreicher« (Brecht) Chrupalla diene dazu, mich »linksradikalen Satiriker« (»Die Zeit«) auf Kurs zu bringen.
Leerstelle
Das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) bemühte sich in seinen ersten Jahren weniger um Erforschung als Verschleierung der NS-Vergangenheit. Von Gerhard Henschel
Die Erforschung der jüngsten deutschen Vergangenheit durch das IfZ stand in den ersten Jahrzehnten unter keinem guten Stern. Was rückblickend auffalle, schreiben die Herausgeber Frank Bajohr und Magnus Brechtken im Vorwort zu dem profunden Sammelband Zeitzeugen, Zeitgenossen, Zeitgeschichte, sei »die faktische Leerstelle einer Darstellung zur nationalsozialistischen Judenverfolgung«. Es passt dazu, was Johannes Hürter in seinem Beitrag über die Tätigkeit des Generalleutnants a. D. Hans Speidel im IfZ mitteilt: »Seit seiner Teilnahme an der ersten (und für eineinhalb Jahre einzigen) Sitzung des Wissenschaftlichen Rats am 28. Februar 1949 bemühte sich der Ex-General, am Institut eine apologetische Geschichtsschreibung zu etablieren.« Speidel regte dort unter anderem die Untersuchung solch interessanter Themen an wie »Die deutsche Führung als Schöpferin neuzeitlicher Panzeroperationen« und »Von der Leistung des deutschen Soldaten«.
Als wissenschaftlichen Mitarbeiter engagierte das IfZ den einstigen Wehrmachtsgeneral Hermann Foertsch, der in seinem 1951 veröffentlichten Buch Schuld und Verhängnis alle noch lebenden ehemaligen Generäle von jeglicher Schuld freisprach und ihnen eine »Verstrickung in Umstände« bescheinigte, auf die sie keinen Einfluss gehabt hätten. »Über die weitere aktive Integration in die NS-Politik, etwa über die willfährige Beteiligung der Militärelite am Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und am Holocaust, verliert der Verfasser kein Wort« (Johannes Hürter).
Gleichfalls 1951 gab Gerhard Ritter im Auftrag des Instituts Adolf Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier heraus und scherte sich dabei herzlich wenig um die Quellenkritik. Einwände empfand er als anmaßend, obwohl er sich als Historiker doch eigentlich hätte denken können, dass auch er selbst einmal zum Gegenstand der Geschichtsforschung werden und dann so schlecht wegkommen dürfte wie in dieser von Brechtken gezogenen Bilanz: »Machtbewusst und überzeugt von seiner Überlegenheit, meinte er, Kritik leichthändig abtun und Fragen nach seinem Geschichtsbild ignorieren zu können.« Der Institutsleiter Helmut Krausnick wiederum hielt 1965 einen Vortrag mit dem Titel »Unser Weg in die Katastrophe von 1945«, wobei ihm, wie Bajohr und Brechtken schreiben, »offensichtlich gar nicht auffiel, dass die Mehrheit der NS-Verfolgten das Jahr 1945 keineswegs als Katastrophe, sondern vielmehr als Ende der Katastrophe empfunden hatte«.
Aus anderen Beiträgen erfährt man unter anderem, dass Krausnick sich 1959 gegen den Abdruck eines Einsatzgruppenberichts sträubte, in dem der Heeresgruppe des Generals Erich Hoepner die Anerkennung für die Zusammenarbeit bei den Judenverfolgungen ausgesprochen worden war, denn man müsse doch berücksichtigen, dass Hoepner im Gefolge des 20. Juli hingerichtet worden sei; dass der IfZ-Mitarbeiter Hans Mommsen den Historiker Hans Schneider 1962 an der Veröffentlichung einer dem Institut nicht genehmen Studie über den Reichstagsbrand zu hindern versuchte, weil – wie Mommsen sich ausdrückte – »aus allgemeinpolitischen Gründen eine derartige Publikation unerwünscht zu sein scheint« (es wäre, so Mommsen, »indessen vielleicht angezeigt, durch Druck auf Schneider vermittels des Stuttgarter Ministeriums ihn zur Nachgiebigkeit zu bewegen«); oder auch, dass der Institutsleiter Martin Broszat 1973 in einem Gutachten zu dem IfZ-Projekt »Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933–1945« feststellte, die Judenverfolgung in Bayern sei bereits »relativ gut dokumentiert« und müsse deshalb nicht vordringlich weiter erforscht werden. Man kann sich nur immer wieder die Augen reiben.
Frank Bajohr und Magnus Brechtken (Hg.): Zeitzeugen, Zeitgenossen, Zeitgeschichte. Die frühe NS-Forschung am Institut für Zeitgeschichte. Göttingen, Wallstein 2024, 390 Seiten, 34 Euro
Gerhard Henschel schrieb in konkret 4/25 über die zweiten Karrieren vormaliger Nazi-Größen in der BRD
Kosmos aus Kraut
Zwischen analogem Futurismus und sozialistischem Alltag: Was bleibt von der »Sattelzeit« des deutschen Pop zwischen 1968 und 1982? Von Barbara Eder
Wenn Germanistenseminare sich dem Populären zuwenden, bleiben die Annäherungsversuche oft ungelenk. Die Ambition, musikalisches Nachkriegsgeschehen auf deutschen Bühnen zu erkunden, endet nicht selten in Songtextexegesen, die sich selbst zu genügen scheinen. Eine hermeneutische Herangehensweise allein offenbart noch kein Protestpotential. Vielleicht haben die Herausgeber der mit 18 Aufsätzen bestückten Anthologie Protestpop und Krautrock deshalb so großzügig Anleihen bei den britischen Cultural Studies genommen – aus dem veränderten Fokus heraus gelingt es ihnen, immer wieder bescheidene Anflüge von Subversion zu orten.
Mit modifiziertem Begriffsbesteck und ethnografischer Distanz haben sich Markus Joch, Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser auf vermintes Gebiet begeben. Ihr Gegenstand: die kurze und vergebliche Hoffnung, dass Populärmusik, made in Germany, mehr sein könnte als eine Fußnote zum angelsächsischen Original. Das Ergebnis ist eine Vermessung jenes Unvermögens, welches am Rio-Reiser-Platz in Berlin-Kreuzberg beginnt. »Es stimmt, Rio Reiser war keine Frau«, zitieren die Herausgeber die frühere Kulturstaatsministerin (und noch frühere Managerin von Ton Steine Scherben), Claudia Roth, im Vorwort. Sie bereicherte damit die Diskussion um die Neubenennung des Heinrichplatzes im August 2022. Mit dem Gegenteil hätte Rio Reiser vermutlich kein Problem gehabt. »Meine Väter sind schwarz und meine Mütter sind gelb, meine Brüder sind rot und meine Schwestern sind hell«, heißt es in seinem Song »Mein Name ist Mensch« von 1971. Die Herausgeber verbuchen dies als Bekenntnis zu einer Diversitätskultur, die ihre Ursprünge anderswo hat.
Folgt man Diedrich Diederichsen, dann stehen Ton Steine Scherben am Zenit der von ihm konstatierten »Sattelzeit«. Als historische Übergangsphase kennt die von 1968 bis 1982 dauernde Periode keinen Höhepunkt und steht doch für eine Zäsur: Krautrock, Protestpop und Neue Deutsche Welle (NDW) markieren diesen Moment – ausgehend von einem imaginären »Nicht-Drüben«. Wer sich auch im anderen, sozialistischen Deutschland nicht zu Hause wähnte, fand hier einen Zufluchtsort – oder brach im Kopf zum »Kosmos« auf. Neben diesen beiden Territorialitäten nennt Diederichsen noch das »Ausland« – berechtigterweise: Wer etwa erinnert nicht Paul Wellers ungeschönten Arbeiterklasseakzent, der in Songs wie »Saturday’s Kids« oder »That’s Entertainment« lyrische Sozialreportagen aus südostenglischen Arbeiterstädten untermalt? Oder die politische Poetik von The Style Council, die mit »Walls Come Tumbling Down« den Protest während des Bergarbeiterstreiks tanzbar machte? Pop, made in Britain, gelang es, die Thatcher-Regierung offen zu attackieren und doch soulful zu sein – der Widerspruch zwischen Feiern und Streiken schien aufgehoben.
Vorbilder wie diese erschweren es, sich abzustoßen. Die deutsche Antwort darauf war rabiat: Nachdem Ton Steine Scherben das freie Menschsein besungen hatte, mussten ihre Nachfolger feststellen, dass mitten im Industriegebiet kein Platz für romantische Schreikrämpfe mehr war. Keine Empörung, keine Emotion, kein Hüftschwung – der Sound der Düsseldorfer Synthetikformation Kraftwerk folgte nicht ironiefrei dem Takt der Fließbänder, auf denen die BRD ihre Kühlschränke, Karrieren und Kanonen fertigen ließ. Während Rio Reiser von Liebe und Revolution träumte, tickte bei Ralf Hütter schon der Zeitzünder des Atomsprengkopfes. Von der deutschen Autobahn ist es nicht weit zum Pop-Nationalismus – diese Gewissheit erschüttert Florian Völkers Text über die Düsseldorfer Kältepriester keineswegs. Der Autor will Kraftwerk nicht als »deutschen Beitrag zum Pop« eingemeindet wissen – und spricht doch von einer »Betonung des Widerstands gegen den vermeintlichen angloamerikanischen ›Kulturimperialismus‹ bei gleichzeitiger Präsentation einer vermeintlich spezifisch ›deutschen‹ Musik«.
Im Gegensatz zum frei mäandernden Krautrock der frühen Siebziger steckten die deutschen Politbands der achtziger Jahre in einem trostlosen Repertoire aus agitatorischer Holzschnittlyrik und musikalischer Magerkost fest. Deklamierte Utopien stießen auf Krautrock-Relikte, durchdrungen von einer typisch deutschen Mischung aus Selbstmitleid und Größenwahn. Der »kosmische Jam« als Fluchtpunkt derer, die den Marsch durch die Institutionen mit dem ersten Takt abbrachen, erweist sich als Splitter einer nie realisierten Möglichkeit.
»Drüben« sang es sich zur selben Zeit nicht viel besser. Michael Rauhut zufolge tobte der politische Kampf in der DDR auf anderen Ebenen. Das östliche Deutschland – mit seiner staatlich gelenkten Kulturindustrie – erwies sich als Sonderzone für subtile Sprachverschiebungen. Auf ihrem Album »Mont Klamott« von 1983 etwa brachte die Rockformation Silly so viel Polysemie in ihre Lyrics, dass die Aufpasser im Kulturministerium zuerst applaudierten – und dann den Bandmitgliedern bis zu siebzehnmal unterschiedlich zensierte Versionen vorlegten.
Was also hatte die »Sattelzeit« der deutschen Musikproduktion zu bieten? Krautrock: Eskapismus durch Auflösung der Songstruktur, Tonbandschleifen und schroffe Lyrics von der Stange. Agitpropformationen wie Floh de Cologne: die Hoffnung, dass politische Parolen doch noch über ängstlich gewienerte Akkorde hinweghelfen können. NDW: die vollständige Kapitulation – Ästhetik ohne Ethik, Pop als subversive Affirmation. Dass das Buch stellenweise versucht, dieses Trauerspiel in einen »internationalen Kontext« einzufügen, erscheint wie ein Akt der Verzweiflung. »Hurra die Welt geht unter« von K.I.Z. als »deutscher Beitrag zur globalen Popgeschichte«? Diederichsens Einsicht, dass es Songs wie diese nicht wegen, sondern trotz Deutschland gibt, hätte allen Beiträgen im Band vorausgehen müssen. Am Ende bleibt der schale Eindruck von einer Musik, die in ihren besten Momenten Anlauf nahm, um weit zu springen – und doch »daheim« landete.
Markus Joch, Christoph Jürgensen, Gerhard Kaiser (Hg.): Protestpop und Krautrock. Band 18 der Reihe Kontemporär. Schriften zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. J. B. Metzler (Springer Nature), Heidelberg 2024, 322 Seiten, 59,99 Euro
Barbara Eder schrieb in konkret 4/25 über die TV-Serie »Euphoria«
Analphabeten für Deutschland
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat die »beliebteste Partei Deutschlands« als »gesichert rechtsextrem« eingestuft. Von Bernhard Torsch
Während die üblichen Propagandatruppen der deutschen Bourgeoisie von »FAZ« und »Welt« ausritten, um die AfD gegen den Verfassungsschutz in Schutz zu nehmen (»Welt«: »Die Mehrheit der AfD-Mitglieder ist nicht rechtsextrem«; »FAZ«: »Sollen wir nur glauben, aber nicht wissen, dass die AfD eine rechtsextremistische Bestrebung ist? Der Geheimdienst muss seine Gründe offenlegen.«), hätten diese sich gar keine so großen Sorgen um ihre Partei gewordene Schutzmauer gegen eventuell aufmüpfig werdende Proleten machen müssen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ruderte nämlich schon Anfang Mai wieder über den halben See zurück und gab bekannt, es werde die AfD nicht mehr als »gesichert rechtsextrem« bezeichnen und auch alle mit dieser Bezeichnung einhergehenden Überwachungsmaßnahmen einstellen, bis ein Gericht die Einschätzung des BfV bestätigen oder verwerfen werde.
Das heißt auch, die ohnehin nur theoretischen, weil den Wünschen einflussreicher Kapitalfraktionen zuwiderlaufenden Chancen auf ein Verbot der AfD sind für die nächsten Jahre vom Tisch, denn solche Gerichtsverfahren pflegen sich in die Länge zu ziehen, und ohne den Segen der Gerichte mag sich die deutsche Politik nur dann zu Parteiverboten aufraffen, wenn diese Parteien kommunistisch sind. Seit 2021 schon klagt sich die AfD durch die Instanzen, um die damalige Einschätzung des BfV, die Partei sei ein »rechtsextremer Verdachtsfall«, vom Tisch zu bekommen, und immer noch ist die Sache nicht rechtskräftig entschieden.
Das BfV hatte nicht weniger als 1.108 Seiten Material zusammengetragen. Das Parteiprogramm und andere Grundsatzpapiere dienten hierbei ebenso als Quellen wie Wahlkampfreden, Interviews und Social-Media-Posts einzelner AfD-Politker/innen. Der Zeitraum dieser intensiven Beobachtung erstreckt sich über drei Jahre, wobei in den Endbericht auch frühere Dokumente des Verfassungsschutzes einflossen. Im einzelnen wurden die Aussagen von 353 Politikern der AfD in den Bericht ebenso aufgenommen wie Papiere und Stellungnahmen von mehr als hundert AfD-Teilorganisationen. Es scheint so, als hätte das BfV sich bemüht, einen wasserdichten Bericht zu verfassen. Ob das nur so aussieht oder doch juristische Angriffsflächen für die Parteianwälte der AfD und für eventuell mit der AfD sympathisierende Richter eingebaut sind, kann nur wissen, wer den ganzen Bericht gelesen und juristisch verstanden hat und darüber hinaus das esoterische Wissen um die politischen Neigungen aller künftig damit befassten Juristen besitzt.
Die deutsche Öffentlichkeit macht derweil deutsche Sachen. Der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann wollte am 6. Mai in einer Talkshow mit dem hinterfotzigen Hufeisentheorie-Titel »Wie umgehen mit AfD und Linke?« auf »Welt TV« von einem Verbotsverfahren gegen die AfD nichts wissen. Die vorliegenden Fakten seien für ein Verbot nicht ausreichend, relativierte Linnemann 1.108 Seiten dokumentierter rassistischer und antidemokratischer Hetze, und schob nach, solch ein Verbotsverfahren wäre »politisch hochgradig gefährlich«. Warum? Erstens könnten die Gerichte ein Verbot ja ablehnen, was der AfD dann auf eine von Linnemann nicht erklärte Weise nützen könnte. Zweitens, und hier müssen wir das Linnemannisch ins Deutsche zu übersetzen versuchen, hätten im Falle eines erfolgreichen Parteiverbots zehn Millionen AfD-Wähler keine »politische Heimat« mehr und müssten sich daher eine neue suchen. Was von all dem gegen ein Verbot der AfD spricht, außer Linnemanns Wunsch, diese Partei solle der Union als mögliche Koalitionspartnerin erhalten bleiben, weiß allein der liebe Gott.
Da wir gerade von einem höh’ren Wesen sprechen: Am 2. Mai beglückte der an jenem Tag Gerade-noch-Bundeskanzler Olaf Scholz den Evangelischen Kirchentag in Hannover und warnte in Bezug auf ein Verbot der AfD vor einem »Schnellschuss«. Wichtiger als rasches Handeln sei nun, dass die »vielen Seiten von vielen gelesen werden«, sprach Scholz, als hätte ihn der Geist der Deutschen Christen überkommen. Andere Teile der SPD, etwa die Frankfurter Stadtorganisation, sind hingegen sehr wohl für ein rasch eingeleitetes Verbotsverfahren gegen die AfD. Immerhin wollten die Parlamentsfraktionen von Union und SPD in Zukunft keine AfD-Abgeordneten mehr zu Ausschussvorsitzenden wählen. Friedrich Merz bezeichnete solche Bestellungen als »unvorstellbar«, der SPD-Bundesvorsitzende und Neo-Finanzminister Lars Klingbeil versprach, er würde »niemandem von uns, egal in welcher Funktion, empfehlen, für die AfD zu stimmen«.
Stellungnahmen zur Einstufung der AfD als »gesichert rechtsextrem« kamen natürlich auch aus dem Ausland. US-Außenminister Marco Rubio postete auf X, der Plattform des AfD-Fans und Hitler-Grüßers Elon Musk: »Das ist nicht Demokratie, das ist Tyrannei in Verkleidung.« US-Vizekanzler JD Vance schob nach: »Die AfD ist die beliebteste Partei Deutschlands. Nun wollen die Bürokraten sie zerstören.« Aus Russland eilte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow seinen in Schwierigkeiten geratenen deutschen Freunden verbal zu Hilfe und sagte, die Einschätzung des Verfassungsschutzes sei »eine restriktive Maßnahme gegen eine Partei, die nicht mit dem dominanten Mainstream übereinstimmt«.
Und was sagt die AfD selbst? Björn Höcke, gerichtlich bestätigter Faschist, postete auf X die Drohung, die Mitarbeiter/innen des Verfassungsschutzes sollten sich schon mal nach neuen Jobs umsehen, denn »am Ende wird es wie immer in der Geschichte heißen: Mitgehangen – mitgefangen.« Dass es noch nie in der Geschichte so hieß, sondern immer »mitgefangen, mitgehangen«, also wieder einmal einer der Ober-Deutschen kein Deutsch kann, ist eine hübsche Nebenpointe dieser Farce, überrascht bei den Analphabeten für Deutschland aber nicht mehr.
Bernhard Torsch schrieb in konkret 3/25 über Herbert Kickl