Zum Tod von Ernst Kahl
Nach langer und schwerer Krankheit ist vergangene Woche Ernst Kahl gestorben.
konkret hat ihm sehr viel zu verdanken: Geniale Titelbilder (wie das von konkret 4/91), komische Gemälde, satirische Grafiken und irritierende Collagen. Nachgerade legendär ist die Beilage »kongretchen«, die Ernst Kahl viele Jahre lang gestaltete.
Gelegentlich schrieb Ernst Kahl auch für konkret. In der Novemberausgabe 2015 zum Beispiel über Wilhelm Busch und dessen berühmteste Figuren, Max und Moritz. Der Text ist auch eine Selbstbeschreibung, denn Kahl verrät hier einiges über seine Ästhetik und seinen Begriff von Komik in der Kunst.
Ein für allemal vorbei deren Übeltäterei?
Eine Kindheit mit Wilhelm Busch. Zum 150. Geburtstag von Max und Moritz.
Ich war vier Jahre alt, als mich die Viren der Kinderlähmung heimsuchten. Ich wollte partout nicht ins Krankenhaus, saß in der Wohnstube vor der herausgezogenen großen Schublade mit dem bisschen Spielzeug und schmollte. Die in Aussicht gestellte Fahrt in einem Automobil soll mich schließlich umgestimmt haben. Die erste Autofahrt meines Lebens! Aus dem vertrauten Dorf in die im Krieg zerstörte und 1953 immer noch ziemlich kaputte Stadt Kiel. Im Krankenhaus der Abschied von den Eltern. Alles fremd und ich allein. Mein Bett erschien mir sehr groß. An Sachen zum Spielen kann ich mich nicht erinnern, nur an ein Buch, ein mächtiges Buch mit einem bärtigen Mann vorn drauf, stechender Blick, breitkrempiger Hut: Das große Wilhelm-Busch-Album. Es war mein Kinderkino während des Klinikaufenthalts. Der kleine Junge, alleingelassen mit Busch und dessen eigenartigen Bildergeschichten und Zeichnungen: Ein beidseitig angespitzter, riesiger Bleistift durchbohrt zwei Liebende, mit der Schere trennt ein hagerer Mann eines Knaben Kopf von dessen Rumpf, ein Kinderleichnam im aufgeschnittenen Fisch … – jeder Psychologe würde vermuten, dass so etwas dem Seelenleben eines Kindes in dieser Situation Schaden zugefügt haben muss.
Wenn man mich heute fragt, wie die oft makabren und absurden Inhalte meiner Erzählungen und Bilder zu erklären seien, verweise ich aus Bequemlichkeit auf jene Zeit im Krankenhaus, doch glaube ich nicht wirklich, dass da Zusammenhänge bestehen. Ich weiß nicht, ob Busch meine Psyche damals verletzte, nach fünf Wochen jedenfalls wurde ich als geheilt entlassen.
Der Höhepunkt eines jeden Kindergeburtstags daheim: wenn Vater, umringt von uns Kindern, aus jenem dicken Buch vorlas. Mitunter ergänzte er den einen oder anderen Vers.
Wilhelm Busch: »Und endlich schlachtet man das Schwein / Da freute sich das Bäuerlein.«
Mein Vater: »Das ist des Schweines Lebenszweck / Es schenkt uns Menschen Wurst und Speck.«
Ich weiß nicht, ob eine pädagogische Absicht dahintersteckte, wenn Vater uns Max und Moritz betrachten ließ. Meine und meines Bruders Streiche wurden oft mit körperlicher Züchtigung geahndet, und wir waren froh, nicht wie die beiden zwischen Mahlsteine gesteckt worden zu sein, sondern nur Schläge eingesteckt zu haben. Insofern war Busch eine Lebenshilfe für uns. Und dass ich heute so lieb zu Tieren bin, habe ich ihm auch zu verdanken: »Ernst riss ’ner Fliege ’nen Flügel raus / Arme kleine Fliege … fliegt nie mehr geradeaus / Und dein Gesumm ist leiser als leis’ / Doch der dir das antat, lacht eiskalt / Und ist gerad mal fünf Jahre alt.«
Warum das? Ich weiß es nicht. Verzeihlich, wenn’s ein wissenschaftliches Experiment gewesen wäre, aber ich ging damals noch nicht mal in die Schule. Es war wohl die dem Kind innewohnende Grausamkeit, die mich leitete. Der Tag mit der Fliege war ein Tag ohne besondere Vorkommnisse. Abendbrot und ab ins Bett. Ein Sturm kommt auf und rüttelt am Fenster, reißt es auf, tobt in den Vorhängen. Dahinter ein bärtiger Mann mit glühenden Augen und breitkrempigem Hut. Seine Lippen sind ohne Bewegung, als er mit Grabesstimme ein »Quäle nie ein Tier zum Scherz / denn es fühlt wie du den Schmerz« vernehmen lässt. Ein kahlköpfiger Schlachter packt mich, steckt mein linkes Bein in den Trichter eines Fleischwolfes und beginnt zu kurbeln. Das Bein wird kürzer und kürzer, und der Hackfleischberg wächst. »Witwe Bolte, herbei!«, ruft der Bärtige hinter dem Vorhang. Da erscheint sie auch schon, lässt sich das Fleisch einpacken und verschwindet. Gestützt von Max und Moritz hinke ich hinterher. In ihrer Pfanne brutzeln Frikadellen, ihr Spitz tut sich gütlich an einem Klacks frischen Hackfleisches, und endlich wache ich auf. Nun müssten wohl alle schlussfolgern, dass Busch für Kinder schädlich sei. Liebe Leserin, lieber Leser, ich habe Sie auf die falsche Fährte gelockt. Der Traum ist erfunden, nur das mit der Fliege stimmt. Viele Alpträume plagten mich als Kind, doch keiner war mit Geschichten Wilhelm Buschs verwoben.
Die Kinderbuchabteilungen heutiger Buchläden öden mich an. Titel wie Armes kleines Schwein, Resi im Regenbogenland, Mausi backt Kuchen haben Struwwelpeter und Max und Moritz aus den Regalen verdrängt. Es würde mich nicht ärgern, wenn »Max, mein Maikäfer, läuft Amok«, »Bobby, der brutale Boxer« oder »Strolche auf heißer Strecke« die Bücher meiner Kindheit für die heute Heranwachsenden überflüssig gemacht haben würden, aber so etwas gibt es nicht im Handel, und die Kleinen sind gezwungen, nachts, wenn die Eltern schlafen, heimlich das Fernsehgerät einzuschalten, um sich von irgendwelchen Monstern das lebenswichtige Fürchten lehren zu lassen. Dann doch lieber Der gewandte, kunstreiche Barbier und sein kluger Hund von Wilhelm Busch. Oder meinetwegen seine nicht so bekannte Maulwurfgeschichte, in der ein gewisser Knoll den frechen Wühler beim Schwänzchen packt, um ihn mit aller Wucht zu Boden zu werfen: »Da liegt der schwarze Bösewicht / Und wühlte gern und kann doch nicht / Denn hinderlich wie überall / Ist hier der eigne Todesfall.«
Dass Knoll dann wenig später in seinem feuchten Bett als Regenwurm langsam und genüsslich von einem Maulwurf verzehrt wird, hat Busch zwar nie erzählt und gezeichnet, kindlicher Phantasie sind aber keine Grenzen gesetzt. Nehmen wir uns jetzt die Geschichte Die Brille vor: Ein Ehemann entwickelt sich nach Entdeckung eines Haares in der Suppe zum Haustyrannen. Seine Gattin entwendet ihm darauf die Brille, und schon sieht alles ganz anders aus, er sieht nämlich gar nichts mehr, verbrennt sich Finger und Hintern am Ofen, schlägt mit dem Stock wild herum. Seine Nase knallt gegen die Türkante, als die Frau sich seiner endlich erbarmt und ihm die Brille reicht. Am Schluss küsst er devot des triumphierenden Weibes Hand. Schluss? Für mich nur das Ende des ersten Aktes. Im zweiten darauf … – ja, glauben Sie denn, diesem Herrn sind Rachegedanken fremd?
Und Max und Moritz – ein für allemal von der Bildfläche verschwunden, tot? Ein für allemal vorbei deren Übeltäterei? Wie war das noch: Rickeracke, rickeracke ging die Mühle mit Geknacke, und zwei Enten verzehrten dann die zu Schrot vermahlenen Lausbuben, nichts sollte von ihnen übriggeblieben sein. Aber verdaute das Federvieh nicht, schied es nicht auch aus? Und so geht die Geschichte weiter: In zwei Häufchen Entenkot kommt urplötzlich Bewegung, das Zeug kriegt Konturen, Frisuren, sie rütteln und schütteln sich: Max und Moritz, die glänzendste Wiederbelebung seit Lazarus! Die beiden blinzeln keck und machen sich aus dem Staub, spannenden Abenteuern entgegen. So beginnen alle Folgen einer Max und Moritz-Zeichentrickfilmserie, für die ich das Drehbuch schreiben sollte. Die beiden als Zivildienstleistende, Max und Moritz im Krieg, … – das würde mir Spaß gemacht haben. Leider fehlte mir die Zeit.
Warum hat Wilhelm Busch seine Helden nicht zu neuem Leben erweckt, was mag ihn dazu bewogen haben, sie so jämmerlich und für immer enden zu lassen? Keine Chance denen, die, wie es heute so schön heißt, Leben in die Bude brachten. Die von ihm kreierten wackeren Kämpfer gegen den Biedersinn, deren Possen ihn vergnügt haben mussten, lieferte er, gesellschaftskonform resümierend, gnadenlos aus. Fipps, der Affe, stirbt durch die Kugel, der fröhliche Zecher Hans Huckebein macht sich ungewollt mittels eines Stricks den Garaus, wie’s Max und Moritz ergeht, habe ich bereits erwähnt. Eigenartig. Denn war’s nicht auch Buschs eigenes Spiel, das er seine dreisten Frechdachse spielen ließ? Und wollte es dann letztlich doch nicht gewesen sein. Er stahl sich davon, wechselte über zu Recht und Ordnung. Bestraft er sich damit nicht selber? Oder tat er das, um aus seinen Figuren Märtyrer machen zu können, Märtyrer der Spaßbewegung gegen Kleinkariertheit und sittliche Norm seiner Zeit? Wären dann aber später nicht Max und Moritz als »Volksschädlinge« von den Nazis aus dem Verkehr gezogen worden? Nur der beiden grausames Ende und die Moral von der Geschicht ermöglichte denen, Max und Moritz zu mögen. Also doch keine Märtyrer. Gemeine Strauchdiebe, die bestraft gehören, oder?
Kommt darauf an, wie man’s sieht. Beispielsweise Fipps, der Affe als Kinofilm. Letzte Sequenz: Das freche Tier, dessen Streiche uns so zum Lachen brachten, verfolgt vom mordlüsternen Spießermob. Dramatische Flucht. Wir drücken Fipps die Daumen, es hilft nichts, die Kugel trifft. Musik: eines von Mendelssohn-Bartholdys elegischen Liedern ohne Worte. Im Kino bleibt kein Auge trocken, die Meute auf der Leinwand hingegen zeigt nicht ein Quentchen Mitgefühl. Nur ein kleines Mädchen …: »Nur Elise fasst Fippsens Hand / Während ihr das Aug voll Tränen stand / Armer Fipps, so spricht sie herzig treu / Damit stirbt er, alles ist vorbei.«
Mit einem Stück aus Jean Sibelius’ sinfonischer Dichtung Der Sturm schließt sich der Vorhang, und wir begeben uns traurig aus dem Kino, doch draußen schon keimt Wut in uns auf, Wut auf die Spießer, deren Intoleranz und Unduldsamkeit.
Ernst Kahl bekam 2011 den Wilhelm-Busch-Preis.
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