Die Sache mit Röhm
Kein Nachruf auf den Gesellschaftswissenschaftler Reinhard Opitz, der diese Woche seinen 90. Geburtstag gefeiert hätte. An dessen Stelle die Wiederveröffentlichung einer Kritik an seinen Ausführungen zur »Monopolgruppen-Theorie«: Georg Fülberth schrieb in konkret 6/00, was diese zum Verständnis des historischen Faschismus beiträgt. Er konstatiert: »Reinhard Opitz hat riesige Fakten-Massen über Ideologien und Organisationen ausgebreitet, um deren Funktionieren im monopolkapitalistischen Kalkül nachzuweisen. Er schuf dadurch die Möglichkeit, gerade diese seine Zentralthese zu relativieren, indem nämlich jener Überschuß sichtbar wird, der auf die Interessenwahrnehmung des Kapitals zurückwirkt.«
Reinhard Opitz ist nicht wie ein Gemeinde-Denker zu behandeln, der gegen eine Welt von Feinden verteidigt werden muß. Seine Faschismus-Interpretation liegt nicht nur quer zum Mainstream, sondern auch zur Mehrheit der in der Linken vertretenen Positionen. Das muß diskutiert werden. Von Georg Fülberth
Was ist dran an der Monopolgruppen-Theorie? Worum es dabei gehen muß, läßt sich anhand der unvollendet gebliebenen Expertise Opitz’ zur Röhm-Affäre 1934 zeigen. Er widerlegt dort die These, damals sei ein sozialistischer Flügel der NSDAP ausgeschaltet worden. Röhm und Strasser waren seiner Meinung nach die Prätorianer eines Flügels des Monopolkapitals: Chemie- und Elektro-Industrie, Deutsche Bank. Bei der Kabinettsbildung am 30. Januar 1933 sei dieser nicht ausreichend zum Zuge gekommen und habe danach aussichtsreich auf eine Umgruppierung innerhalb des faschistischen Systems hingearbeitet. Im Juni 1934 aber habe die Gruppe Schacht-Thyssen-Göring (eine frankreichfeindliche Richtung vor allem der Montanindustrie) blutig zugeschlagen, nachdem es ihr gelungen sei, den bis dahin schwankenden Hitler auf ihre Seite zu ziehen.
Diese Interpretation ist nicht neu. Opitz übernahm sie, worauf er selbst hinweist, aus einer bei der Abfassung seiner Schrift (1979/81) noch ungedruckten Dissertation aus dem Jahr 1963 von Kurt Gossweiler, mit dem er zusammenarbeitete. Sie beruhte auf der sogenannten Monopolgruppen-Theorie. Opitz stützte sich auf sie, war aber zugleich unzufrieden: »Diese politischen Fraktionen sind freilich nicht fest gegeneinander abgegrenzt, sie überschneiden sich vielfältig und verändern sich vor allem auch hinsichtlich ihres Umfanges entsprechend der jeweiligen politischen Situation. Daher sind gerade die bislang gründlichsten, von Historikern der DDR unternommenen Versuche, diese ›Monopolfraktionen‹ zu beschreiben und gegeneinander abzugrenzen, trotz der außerordentlich wichtigen archivalischen Materialien, die dafür erschlossen und vorgelegt wurden, auch durchaus problematisch und in der wissenschaftlichen Literatur zu Recht umstritten geblieben. (Dies gilt insbes. für die bisher bei weitem materialreichste Untersuchung über die Hintergründe der Röhm-Affäre, die bisher nicht als Buch veröffentlicht wurde, nur als Ms.Diss.)«. Gemeint war die Arbeit von Gossweiler.
Der Zweifel, welcher hier zum Ausdruck kommt, ist verständlich. Es handelte sich ja nicht etwa nur um zwei »Monopolgruppen«, sondern um mindestens drei mit mehreren Filiationen, Querverbindungen, schwankenden Gestalten und Überschneidungen. Die im Röhm-Band mit abgedruckten Exzerpte belegen Opitz’ Anstrengungen, plausible und eindeutige Zuordnungen zu erreichen. Wer das nachvollziehen will, ist geneigt, nach einiger Zeit erschöpft den Griffel hinzulegen und Eric Hobsbawm zuzustimmen, welcher die Ansicht vertritt, daß der Faschismus »niemals Ausdruck des ›Monopolkapitalismus‹ oder Großunternehmertums gewesen« sei. Er führt im einzelnen aus:
»Was nun die ›monopolkapitalistische‹ These betrifft, so kann man nur sagen, daß das wirkliche Großunternehmertum mit jeder Art von Regime zurechtkommt, das nicht zu Enteignungsmaßnahmen greift, und daß jedes Regime mit dem Großunternehmertum zurechtkommen muß. Der Faschismus war kein stärkerer ›Ausdruck der Interessen des Monopolkapitals‹ als der amerikanische New Deal, die britischen Labour-Regierungen oder die Weimarer Republik. Das Großunternehmertum der dreißiger Jahre hat Hitler nicht ausdrücklich herbeigewünscht und hätte wohl auch einen orthodoxeren Konservativismus vorgezogen. Daher erhielt Hitler bis zur Weltwirtschaftskrise aus seinen eigenen Reihen auch nur geringe Unterstützung; und selbst in der ersten Zeit danach lief diese Unterstützung nur zögernd an und blieb relativ uneinheitlich. Aber als Hitler an die Macht kam, da kollaborierte das Großunternehmertum aus vollem Herzen und ging während des Zweiten Weltkriegs sogar so weit, Sklavenarbeiter und Häftlinge in den Konzentrationslagern für seine Geschäfte zu nutzen. Und das Großunternehmertum profitierte genauso wie die kleinen Geschäftsleute von der Enteignung der Juden.«
Deutscher Sonderweg
Wir haben hier zwei Auffassungen von Marxisten, die einander strikt widersprechen. Wer unbedingt eine ideologische Einheit der Linken braucht, wird sich in Eklektizismus retten, etwa so: Mag das Großkapital mit sehr verschiedenen Formen bürgerlicher politischer Herrschaft zurechtkommen, so habe es die Weimarer Republik aber doch mehrheitlich abgelehnt und letztlich auf Hitler gesetzt. Auf der Suche nach den Gründen für diese Besonderheit hält sich Opitz nicht bei Versailles auf, sondern greift weit zurück ins 19. Jahrhundert. Schon dort fand er eine spezifische Dynamik des deutschen Kapitals, welches anders als das britische, französische und US-amerikanische sich nicht von Anfang an in einem bereits bestehenden Nationalstaat entfalten konnte, sondern dem das preußische Militär erst allerlei Königreiche, Kurfürsten- und Herzogtümer aus dem Weg räumen mußte und das dann, nach der Reichsgründung, auf die gleiche Weise das internationale System zu zertrümmern suchte.
Damit kommen wir aber zu einer neuen Frage, nämlich: Wie soll man sich »das deutsche Kapital« als politisch handelndes Subjekt vorstellen? Geht das überhaupt ohne andere Akteure? Wie wichtig sind sie?
Damit kommen wir aber zu einer neuen Frage, nämlich: Wie soll man sich »das deutsche Kapital« als politisch handelndes Subjekt vorstellen? Geht das überhaupt ohne andere Akteure? Wie wichtig sind sie?
Unter den so zahlreichen Dokumenten des 1977 von Opitz herausgegebenen Bandes Europastrategien des deutschen Kapitals sind Äußerungen von fungierenden Kapitalisten weniger zahlreich als die Publikationen von Politikern und Intellektuellen. Was letztere angeht, so ist Bethmann Hollwegs Vorzimmer-Herr Kurt Riezler durchaus typisch für sie: ein halbliterarisches Talent, das sich zu Gedanken über die große Politik berufen fühlt. Ähnliches ließe sich über Heinrich Claß vom Alldeutschen Verband und den Sozialliberalen Theodor Heuss sagen. Im Vergleich zu den blutbeschwipsten Auslassungen des Pfarrers Friedrich Naumann während des Ersten Weltkriegs lesen sich die Memoranden der Herren Ballin, Duisberg, Röchling, Stinnes, Thyssen trotz der dort vorgebrachten großen Forderungen nachgerade buchhalterisch nüchtern. Die einzelnen Kapitalisten sind an ihren Unternehmenszweck gebunden, verlangen einen weiten Rahmen für diesen, aber sie schwärmen nicht. Wo sie allgemeiner argumentieren, wird allerdings schon jene deutsche nationaldarwinistische Rhetorik hörbar, die man nicht im Kontor lernte, sondern wenn man hauptberuflichen Ideologen zuhörte. Diese waren studierte und nichtstudierte Intellektuelle. Auch Hitler (in seiner Eigenschaft als Kommunikator) gehörte dazu, so sehr er auch gegen diese Menschengruppe hetzen ließ. Sie benutzten die für ihre Zeit typischen Medien: nicht nur Zeitungen, sondern auch Parteien und Verbände. Opitz weist nach, daß diese – auch die NSDAP – von Anfang an durch Großkapitalisten, die häufig sogar schon ihre Gründung unterstützten, finanziert und beeinflußt worden sind.
Dies bedeutet aber nicht, daß Monopolvertreter sich Vereine gehalten hätten, denen sie die Ideologie vorschrieben. Es wäre interessant, die Entstehungsgeschichten noch detaillierter zu eruieren, als Reinhard Opitz dies ohnehin tat. Dabei wird wahrscheinlich herauskommen, daß in der Regel intellektuelle Existenzgründer sich ihren Mäzen gesucht haben, von dem sie annehmen durften, daß die von ihnen propagierten Ziele mit den seinen übereinstimmten. (Eine Ähnlichkeit mit modernem »Fundraising« ist nicht ausgeschlossen.) Und auch da, wo Monopolisten selbst organisierend aktiv wurden, mußten sie nicht erst als Theoretiker auftreten – es genügte, wenn sie sich auf dem Markt aus dem schon vorhandenen Angebot bedienten. (Daß ein Industriekapitän zugleich selbständiger Ideologe gewesen ist, war sehr selten: Walther Rathenau.)
Die Deutsche Ideologie, auf welche zurückgegriffen wurde, entstand im Prozeß der später von Georg Lukács beschriebenen »Zerstörung der Vernunft«. Nietzsche war der gemeinsame Bezugs-Theoretiker – jetzt aber in einer zur chauvinistischen Tages-Agitation verkommenen Form.
Die herrschenden Gedanken waren nicht nur die Gedanken der herrschenden Klassen. Dies ergibt sich aus ihrem auch durch Opitz herausgearbeiteten demagogischen Zweck, gerade in der sozialen Frage. Antisozialismus und Expansionismus hatten die nichtmonopolistischen Klassen und Schichten zu berücksichtigen. Für deren Integration und Mobilisierung war eine relative Distanz zu jenen Eliten nötig, die auch einmal als »Plutokraten« und »Reaktion« beschimpft werden durften.
Um im Interesse der herrschenden Klassen funktional zu sein, bedurfte die faschistische Agitation eines Überschusses gegenüber dem letztlich zu verfolgenden ökonomischen Zweck. Sie hatte ein relatives Eigenleben und kann deshalb nicht ausschließlich als Nachvollzug bereits getroffener Entscheidungen der tatsächlichen Machteliten dargestellt werden. Dieses Moment der teilweisen Verselbständigung kommt bei Opitz nicht klar genug heraus.
Faschismus und Antisemitismus
Das wird unter anderem dort deutlich, wo er sich folgende Frage stellt: »Wie hingen im deutschen Faschismus der Antisemitismus, die Judenverfolgungspolitik und die Judenvernichtung mit den Interessen des Monopolkapital zusammen?« Auch hier behauptet er eine strenge ökonomisch und machtpolitische Funktionalität. Seine eigene Frage beantwortet er so: »Der für das Verständnis der Art des Zusammenhangs von ›Judenpolitik‹ und Kapitalinteressen im deutschen Faschismus schlechthin zentrale Punkt ist das von der Sache her tatsächlich zwanghafte Wechselverhältnis zwischen der demagogisch-antisemitischen Mobilisierung gegen die Arbeiterbewegung einerseits und der demgegenüber dann gleichsam ›nüchternen‹, jedenfalls hier keineswegs mehr die Funktion einer demagogischen Quid-pro-quo-Setzung erfüllenden Einschätzung der Juden aus großraumpolitisch- expansionistischer Sicht als ein reales ›Feind‹- oder Störpotential andererseits.«
Diese Funktionsbestimmung erörtert nicht, daß das ideologische Material – der Antisemitismus – , welches in Deutschland in Bewegung gesetzt wurde, älter war als die politischen Zwecke, denen es jetzt diente. Nicht durch seine strategische Anbindung allein, sondern auch durch seine relative Selbständigkeit wurde es wirkungsmächtig.
Das Problem, auf welches Opitz hier stößt und an dem er scheiterte, könnte klarer dargestellt werden, als er es tat, wenn vier Ebenen zu analytischen Zwecken auseinandergehalten würden, die historisch allerdings nicht völlig zu trennen sind.
Die erste besteht aus der monopolkapitalistischen Organisation einer bestimmten – im nichtfinalen Sinne »späten« – Phase der kapitalistischen Gesellschaft. Die zweite sind die historisch und sozialräumlich (»national«) bedingten Mentalitäten, welche nicht ausschließlich auf diese zurückzuführen, aber mit dieser kompatibel und durch sie neu geformt sind. Im Falle Deutschlands zum Beispiel kann dabei an die dortige Art der Ausformung des Antisemitismus gedacht werden. Wiederum hiervon zu unterscheiden, aber als mit beiden in einem Zusammenhang stehend zu betrachten ist – drittens – die Arbeit der Ideologen. Sie ist international gleichermaßen monopolkapitalistisch bedingt, aber auch durch nationale Besonderheiten geprägt. Zuletzt – viertens – kommt die politische Aktion einschließlich der Propaganda, die einen Teil derselben darstellt. Sie macht sich die Mentalitäten zunutze, plündert das, was sie von den Ideologen gebrauchen kann, und bleibt zurückgebunden an die monopolkapitalistische Voraussetzung, ohne daß man dabei notwendigerweise an ein »Prinzipal-Agent«-Verhältnis (im akteurstheoretischen Sinne) denken muß.
Reinhard Opitz hat riesige Fakten-Massen über Ideologien und Organisationen ausgebreitet, um deren Funktionieren im monopolkapitalistischen Kalkül nachzuweisen. Er schuf dadurch die Möglichkeit, gerade diese seine Zentralthese zu relativieren, indem nämlich jener Überschuß sichtbar wird, der auf die Interessenwahrnehmung des Kapitals zurückwirkt. Als Ideologie-Theoretiker war er am besten. Dies war sein Fach, nicht die Ökonomie.