Zum Tod von Wolfgang Rihm

Am 27. Juli ist der Komponist Wolfgang Rihm gestorben, und die Presse überschlägt sich mit endlosen Trauergesängen auf den "Berührbaren" ("FAZ"). In konkret 10/21 reichte Frieder Reininghaus eine Heftspalte, um zu zeigen, weshalb Rihm in der deutschen Kulturindustrie als "großer Mann" (seine Biographin in der "NZZ") und "Schlüsselfigur" ("Spiegel") galt: Er war der "repräsentative Komponist der BRD" (Reininghaus).

Atemlos

Frieder Reininghaus über eine Sonntagsrede des Komponisten Wolfgang Rihm

Bei den Salzburger Festspielen 2021 war der Komponist Wolfgang Rihm der erste Festredner für die wiederaufgelegte Reihe »Reden über das Jahrhundert«. Mit den hochkarätigen Vorträgen sollen Betrachtungen »über das vergangene Jahrhundert angestellt werden, mit all seinen Höhen und Tiefen, … politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen und Errungenschaften«. Vordem lautete die mit neokonservativer Stoßrichtung gestellte Leitfrage, »ob der Glaube an die Kraft der Kunst, von der unsere Gründerväter überzeugt waren, den Festspielen auch in einem veränderten Jetzt noch Sinn gibt«.

Rihm, bereits 2001 Hauptfestredner, musste die Herausforderung des Bilanzierens und Zurechtrückens diesmal nicht allein stemmen. Er bekam einen als Rechtsausleger profilierten Würzburger Musikwissenschaftler als Gesprächsadjutanten zugesellt und vertraute den respektvoll Lauschenden an, »wie er sich und anderen mit Musik und Kunst die Welt erringt«. Übrigens sowohl im griechisch-römischen wie im Freistil: Rihm hat, durchaus programmatisch, unter anderem Ödipus, Penthesilea und Proserpina zu Titelheldinnen und -helden seiner bedeutungsschweren Werke erkoren, aber eben im Zuge seiner flächendeckenden Belieferung des Konzert- und Opernbetriebs auch den so böse behandelten Marinus van der Lubbe in Erinnerung gerufen.

Gestanzte letzte Worte des Meisters dienten dem neuen Salzburger Format als Trailer: »Für mich ist Kunst eine andere Form von Atmung, von Hingabe, von Erschrecken und Umarmung und Schönheit und Furcht, von Erhabenem und Niedrigem in unauflöslicher Mischung.« Mit dem Fortschrittsnarrativ, das Rihms furiose Anfänge in den siebziger und achtziger Jahren flankierte, ist’s längst vorbei. Angesichts der Pandemie scheint die Hauptsache: Hurra, dass wir noch atmen, uns hingeben oder Hergabe genießen – und möglichst oft eines der wenigstens 600 und inzwischen meist klangschönen Werke Rihms hören.

Wie nichts anderes eignen sich bei einer Sonntagsrede messerscharfe Kategorien wie »das Erhabene« und »das Niedrige« zur Illustration von politischer Schönheit und gesellschaftlicher Umarmung. Zeit für einen Aperitif in unauflöslicher Mischung. Wieder einmal hat Rihm, der vom Siemens-Konzern geförderte (und dort auch organisatorisch eingebundene) repräsentative Komponist der BRD, alles richtig gemacht. Er ist der größte der lebenden Komponisten seines Vaterlandes.