Der letzte Dreck 6/24
Karl Mang über Robert Menasses Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde.
Die Europäische Union muss arg lädiert sein, wenn als ihr wichtigster Hofsänger im deutschen Sprachraum einer gilt, der singt wie eine Säge und Sätze zusammennagelt, die bei der kleinsten Berührung zerfallen wie ein Haus aus gezinkten Karten: „Man sieht so manches deutlicher im Licht der untergehenden Sonne. Manche besonnen. Aber manche geblendet.“ Wie Geblendete jedoch überhaupt etwas sehen können und „deutlicher“ zumal, weiß kein Mensch außer Robert Menasse – der es natürlich auch nicht weiß, sondern mopsfidel hinschreibt, was ihm gerade durch den Schädel rauscht, und es zum Schaden des europäischen Baumbestands anschließend veröffentlicht.
Pünktlich zur Europawahl hat er eine Art Buch – es ist eher eine Klebearbeit aus lauter eitlen Leitartikeln – veröffentlicht, das den pompösen Titel Die Welt von morgen trägt, obwohl es darin bloß um jenen kleinen Teil der Welt geht, in dem die EU sich spreizt, als gäb’s kein Morgen. Menasse, der seit einiger Zeit als paneuropäischer Visionär herumstolziert und damit Ehrungen, Buchpreise und Stipendien stapelweise abgeräumt hat, verzichtet diesmal zwar darauf, als Kronzeugen seiner Vision einen alten Nazijuristen zu benennen. Aber Menasse braucht keinen Hallstein, um zu beweisen, dass er nicht der Hellste, sondern ein Dunkelmann erster Kajüte ist: „Das alte Europa – ich will es nicht idealisieren, aber ich finde, wir können doch einiges für die Zukunft lernen, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie ‚die Welt von gestern‘, wesentlich die Habsburgermonarchie organisiert war“, nämlich als ein Reich, „in dem die Sonne niemals aufgeht“ (Karl Kraus).
Menasse verabscheut, das spricht für ihn, den Nationalismus, doch sein Internationalismus ist letztlich bloß eine bourgeoise Halluzination von Weltgeltung und -macht, projiziert auf die EU. Bernhard Torsch fasste Menasses Europaphantasie in konkret 2/19 bündig so zusammen: „Nicht eine Welt ohne Staaten, sondern einen großen europäischen Staat“ wolle der „österreichische Nationalschriftsteller“ haben, ein Imperium, das „vor allem die Interessen des deutschen Kapitals … mit Macht vertritt“. An dieser gruseligen Vision malt Menasse auch in Die Welt von morgen, und er begegnet Torschs Kritik mit einer Geschichtsklitterei, die man sich erst mal trauen muss: Die „Idee des europäischen Projekts“ sei „ja die Überwindung der Nationalstaaten und nicht deren Aufhebung in einer Supernation“ gewesen. Wenn Adenauer und De Gaulle das gewusst hätten!
Obwohl Geschwätz seine Passion ist („die Geburt einer Epoche ist der Beginn ihres Endes“), mag Menasse, nicht grundlos SPÖ-Mitglied, über ein Ding nie reden, und das nennt sich Kapitalismus. Ein bisschen Geschimpfe auf die Korruption, ein wenig Wut auf die Multis, ein Tränchen für die Expropriierten, damit hat es sich. Wie es gehen soll, eine europäische Demokratie zu schaffen „in einem gemeinsamen Rechtszustand auf der Basis der Menschenrechte, gleicher Rahmenbedingungen und Chancen für alle“, so lange die Kapitalakkumulation noch die kleinste Lebensregung auszubeuten strebt und die Besitzverhältnisse unangetastet bleiben, kann Menasse nicht erklären. Vielleicht weil er sich in diesen Verhältnissen recht behaglich eingerichtet hat und die linke Pose der revolutionären Haltung allemal vorzieht.
Egal, wohin man in diesem Buch greift, gerät etwas in die Hände, das sich wie Kartoffelbrei anfühlt, aber seltsam riecht und nicht genießbar ist: „Wir haben unsere Werte. Ich sprach schon die Sonntagsreden an. Da werden die Werte beteuert. Nein, sie werden nicht teurer, sondern sehr wohlfeil.“ Mögen seine Wortspiele auch frei von Inspiration, Esprit und Wert sein – mit Sonntagsreden kennt Menasse sich aus, er hält in diesem Buch eine 190 Seiten lange: „Ich bin oft in Deutschland unterwegs, immer wieder beeindruckt mich die Vielfalt der Mentalitäten und der Kulturen, die in einem unglaublichen Reichtum landschaftlicher Schönheit historisch gewachsen sind, ich war beglückt von der Freundlichkeit und Offenheit der Menschen, die ich traf“ –, und ich bin beglückt, dass meine Vorurteile über Inzucht und Inkompetenz eines Kulturbetriebs, der solch aufgeblasene Abiturientenprosa nicht verlacht, sondern vergoldet, sich mit jedem Satz Menasses bestätigen: „Dieser Pluralismus der Angst ist sozusagen der Schatten, den unsere pluralistische Gesellschaft wirft.“
Zum Wortgeklingel gehört unabdingbar die Zeilenschinderei, die es allerdings braucht, um mit anderthalb Gedanken ein Buch zu füllen: „Die Funktion von Angst hat sich gewandelt, und mit ihr der Gebrauch des Begriffs Angst. Oder umgekehrt“, oder was oder wie. Menasses Prosa ist von jener Plump- und Plattheit, die in Österreich und Deutschland gern als intellektueller Plauderton missverstanden und als „süffig“ gelobt wird: „Das ist vielleicht auch der Grund, warum ich …. vernarrt bin in deutsche Literatur und glücklich geprägt von deutscher Philosophie.“ Dergleichen behauptet sich leicht, die Praxis jedoch kann’s nicht belegen.
Menasse weiß selbstverständlich, dass sein Plädoyer für ein entnationalisiertes Europa leeres, pathetisches Gerede ist. Aber in jenen Kreisen, die glauben, er biete „politische Aufklärung in Reinform“ („FAZ“) statt ins Unreine getippte Provinzblattpredigten, wird man ihn dafür als, mindestens, Utopisten feiern, als mutig, engagiert, unverdrossen et cetera pipapo, und damit sind der nächste Buchpreis, das nächste Stipendium, die nächste Talkshow-Tournee gesichert. Und weil Menasse die forcierte Militarisierung der EU sowie eine eiserne Front gegen China und Russland fordert, kommt er dem angesagten Kurs nie ernsthaft in die Quere, so blöd ist er nicht.
Die lustigste Stelle in diesem von Witz kaum erhellten Texthaufen ist eine, die gar nicht lustig gemeint ist. Menasse berichtet, wie er einst als Student der Germanistik gefragt wurde, warum er gerade dieses Fach gewählt habe. „Und ich antwortete: ‚Ich will ein deutscher Dichter werden!‘ Mich wunderte das Gelächter, das ich damit auslöste.“ Leider hat diese Demütigung ihn nicht davon abgehalten, den falschen Beruf zu ergreifen.
Robert Menasse: Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2024, 192 Seiten, 23 Euro