Mehr Klassismus!

Der Begriff »Klassismus« bedeutet die Herabsetzung einer Person aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit. Das Problem an dem Begriff ist, dass er aus Ausbeutung eine Respektlosigkeit und aus Unterdrückung eine Diskriminierung macht. Bei der Lektüre von Marlen Hobracks munterem Büchlein Klassismus fallen noch zwei weitere Probleme auf: Ihn zu bekämpfen, drängt in die Defensive und verewigt die Verhältnisse.

Es gibt mehr über die proletarische Lebensweise zu sagen, als dass sie dick macht. Hobrack aber verteidigt die Proletarier, die sie nicht so nennt, immerzu dagegen, dass sie noch keine Bourgeois sind: Es fehle ihnen an Geld für gutes Essen, für Bildung, für Geschmack. Sogar das Mozzarella-Essen will gelernt sein, schreibt sie aus eigener Erfahrung. Die aufschlussreichsten Passagen ihres Textes handeln von Erlebnissen während einer Armutsperiode, als sie nach der Geburt eines Kindes von Sozialgeld abhängig war und die üblichen Demütigungen über sich ergehen lassen musste. Nun ist sie aus dem Gröbsten raus, hält sich für eine Aufsteigerin und hat sich eine Goethe-Büste angeschafft. 

Auch wenn sie völlig richtig feststellt, es dürfe nicht allein um Sprache, sondern müsse auch »um konkrete strukturelle und systemische Formen der Benachteiligung« gehen, schreibt sie doch immer nur über Sprache und Symbolisches. Nichts wichtiger im Leben der Armen, glaubt sie, als dass sie es sich »irgendwie schön machen«. Und damit das gelingt, sollten Bourgeois wie Jan Fleischhauer sich ihrer Herablassung bewusst werden. Dem lässt sich nur widersprechen. Es sollte nicht weniger, sondern mehr Fleischhauer geben, die die Armen als faul und verblödet hinstellen und damit ihre eigene Faulheit und Verblödung beweisen. Wie sollten wir sonst wissen, woran wir miteinander sind? Nur mehr Klassismus treibt den Klassenkampf an. Und ohne Klassenkampf kein Klassenbewusstsein, ohne Klassenbewusstsein keine Überwindung der Klassengesellschaft und damit des Klassismus. Die Proletarier können in diesem Punkt ausnahmsweise von der Bourgeoisie lernen, die in den Jahrhunderten ihrer traurigen Existenz doch wenigstens eine zündende Idee hatte: »Zur Bastille!«

Stefan Ripplinger

Marlen Hobrack: Klassismus. Reclam, Ditzingen 2024, 100 Seiten, 12 Euro