Zur Teillegalisierung von Cannabis

Cannabis - oder wie es Jugend-Anbiederungs-Minister Lindner nennt: Bubatz - ist in Deutschland ab dem 01.04.2024 legal. Dass es noch nie vernünftige Gründe für ein Verbot gab, war in konkret 4/14 zu lesen. Genau zehn Jahre später lässt sich Günter Amendts ABC des THC dafür heranziehen, die Druckserei im Bundestag zu erklären, die nun zur Teillegalisierung, also zur Vollbürokratisierung von Cannabis führte. "100 Jahre Dämonisierung" gingen ihr voran.

100 Jahre Dämonisierung  

Irgendwann, in einer nicht allzufernen Zukunft, werden Sozialhistoriker in ihren Lehrveranstaltungen die Cannabisdiskussion des 20. Jahrhunderts als typisches Beispiel für eine geschürte Massenhysterie heranziehen. In einer Welt, in der Drogen für alle Lebenslagen längst zum selbstverständlichen Bestandteil des Alltags geworden sind, wird man sich verwundert fragen, wie es möglich war, daß ausgerechnet die harmloseste unter allen psychoaktiven Substanzen derart dämonisiert werden konnte.

Das Erstaunen darüber wird so groß sein wie unser Erstaunen heute über die Kaffee- und Teeverbote und deren repressive Durchsetzung zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters. Cannabis ist eine getrenntgeschlechtliche grüne Blätterpflanze mit charakteristisch einander gegenüberstehenden meist siebenfingrigen lanzettförmigen Blättern, die auf trockenen, sandigen, leicht alkalischen Böden mehr als sieben Meter hoch werden können. Vorwiegend bei den weiblichen Blüten bilden sich Drüsenhaare aus, die ein Harz absondern. Diese Drüsenknöpfchen finden sich am dichtesten auf den Kelchblättern und auf der Unterseite der Blätter, die am spätesten gebildet werden. Die weiblichen Pflanzen sind im Hinblick auf verschiedene Nutzungsformen wichtiger als die männlichen. Ihre Fasern sind stärker, sie bilden die nährstoffreichen Samen aus und enthalten den für die Haschisch- und Marihuanagewinnung begehrten psychoaktiven Wirkstoff THC. Das ist das Eigentliche, worum es geht. 

Die Kulturpflanze Hanf

Hanf ist eine seit Jahrtausenden von den Menschen genutzte Kulturpflanze, deren vielfältige Nutzungsmöglichkeiten allerdings in Vergessenheit geraten sind, auch weil sich im Verlaufe der von den USA ausgehenden Cannabis-Hysterie das gesamte öffentliche Interesse auf die Rauschsubstanz THC konzentrierte, während die restlichen 419 bislang nachgewiesenen Inhaltsstoffe mehr oder weniger ignoriert werden.

In China wurde die Pflanze schon vor 6.000 Jahren zur Herstellung von Nahrung, Kleidung, Öl und Arzneimitteln verwendet. Von Zentralasien aus verbreitete sich Cannabis in alle Kulturen des Mittleren Ostens und Asiens bis nach Europa und Afrika. Um 1200 n. Chr. entdeckte man auch in Europa, was man in China schon im 1. Jahrhundert v. Chr. wußte: Die Hanffaser ist bestens geeignet zur Herstellung von Papier. Ende des 19. Jahrhundert bestanden 75 Prozent des in der Welt hergestellten Papiers aus Hanf. Im Verlaufe der rasanten Industrialisierung und mit der Entwicklung der Petrochemie verlor Hanf als Faserlieferant und Brennstoff und auch Schmiermittel an Bedeutung. Hanf ist nur eine von vielen Pflanzen, die im Verlaufe dieses Prozesses ersetzt wurden, entweder durch andere, profitablere Agrarprodukte, etwa Baumwolle, oder durch synthetische Stoffe, die Naturprodukten konkurrenzlos überlegen waren, weil ihnen die Aura des Neuen und Fortschrittlichen anhaftete.

Von diesem Fortschrittsimage profitierten vor allem die synthetischen Produkte der Pharmaindustrie. Erst mit dem zu Ende gehenden 20. Jahrhundert, als das öffentliche Bewußtsein von der Knappheit der Ressourcen wuchs, kam es zu einer Neubewertung und – das kann man heute schon sagen – Rehabilitierung von Hanf. Denn die pflegeleichte, genügsame Pflanze hat als erneuerbarer Rohstoff eine ausgezeichnete Ökobilanz vorzuweisen. In den USA, später dann auch in Europa, formierte sich eine Hanflobby, die das Image der wegen ihrer Rauschwirkung zur »Mörderdroge« dämonisierten Pflanze zu korrigieren versucht, und zwar, indem sie in der Öffentlichkeit auf die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten aufmerksam macht. Die Botschaft ist angekommen: Hanf erlebt eine Renaissance nicht nur als Rauschmittel, sondern auch als industrieller Rohstoff. Es ist klar, daß in vielen Ländern erst einmal die Betäubungsmittelgesetzgebung revidiert werden mußte, um die Aussaat von THC-armem Industriehanf zur Öl- und Fasergewinnung überhaupt wieder möglich zu machen. Auch in Deutschland ist die Produktion von Industriehanf unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Grundsätzlich ist jeder Anbau meldepflichtig: Das schreiben die Richtlinien der EU vor; als EU-konforme Hanfsorten gelten nur solche Pflanzen, deren THC-Gehalt 0,3 Prozent nicht überschreitet. Hanf ist eine Dual-Use-Pflanze geworden, das heißt, sie kann sowohl als verbotenes Betäubungsmittel (Marihuana, Haschisch) konsumiert als auch legal in der Landwirtschaft als nachwachsender Rohstoff für die Textil-, Öl-, Papier-, Seil-, Bauindustrie, für die Herstellung von Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen sowie für Heilmittel verwendet werden.

Die Unterscheidung zwischen legalem und illegalem Gebrauch stellt die Kontrolle beim Hanfanbau und beim Verkauf der verschiedenen Produkte vor große Probleme. Die Autoren des Cannabis-Berichtes der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen haben damit das Dilemma nicht nur des Cannabis-Verbotes, sondern der Drogenprohibition insgesamt deutlich benannt. Denn praktisch alle gängigen Drogen sind Doppelgebrauchssubstanzen, legale Heilmittel und illegale Rauschmittel in einem. Beispielsweise ist keine der synthetischen Drogen, die heute von Jugendlichen bevorzugt konsumiert werden (Stichwort Ecstasy), nicht irgendwann einmal in den Labors der Pharmaindustrie entstanden und dann aus verschiedenen Gründen nicht in den Verkauf gekommen oder eben doch in den Verkauf gekommen und dann als Medikament vermarktet, aber als Droge gebraucht worden.

Die Anti-Marihuana-Lobby

Wann die Stigmatisierung von Cannabis als psychoaktive Substanz begann, läßt sich nicht auf Jahr und Tag bestimmen. Zwar wurden 1912 auf der Haager Konferenz, die den Beginn und die Grundlage für die Drogenprohibition im 20. Jahrhundert markierte, zunächst nur Opiate und Kokain thematisiert und schließlich geächtet, doch Cannabis war vorübergehend ebenfalls Thema, wenn auch nur aufgrund eines Mißverständnisses. Bei der Konferenz tauchte nämlich erstmals die Forderung auf, Cannabis weltweit zu verbieten. Alles staunte. Der italienische Abgeordnete, der die Forderung eingebracht hatte, erklärte daraufhin, er habe Haschisch mit Opium verwechselt, entschuldigte sich, und die Hanfwelt war wieder in Ordnung. Das Resultat der Konferenz war die Haager Opiumkonvention, die jedoch noch keine Restriktion gegen Cannabis enthält. Doch schon auf der Folgekonferenz, die 1925 in Genf stattfand, wurden für Cannabis weltweite Kontrollmaßnahmen beschlossen. Auf beiden Konferenzen führten die USA das Lager der Repressionsbefürworter an.

Die Motive für die restriktive und repressive Cannabispolitik der USA sind so vielfältig wie die Inhaltsstoffe der Pflanze: Massive ökonomische Interessen, ein religiös motivierter, zum Fanatismus neigender Puritanismus, offener und verdeckter Rassismus, eine faschistoide Law-and-order-Mentalität mischen sich zu einem Motivkonglomerat, das der 1930 zum Leiter des Federal Bureau of Narcotics ernannte Harry Anslinger idealtypisch verkörperte. Anslinger wurde zum selbsternannten Anführer und Chefpropagandisten der Anti-Marihuana-Lobby, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Aktivitäten auch auf Europa ausdehnte. Um gleich deutlich zu machen, wer die Konsumenten des gefährlichen »Mörderkrauts« sind, nämlich Mexikaner, Puertoricaner, Latinos insgesamt, nannte man die inkriminierte Substanz im Federal Bureau of Narcotics beharrlich Marihuana, obwohl Hanf im englischen Sprachgebrauch des Nordens traditionell hemp beziehungsweise Cannabis genannt wurde. Damit sollte dem englischsprechenden Teil der Bevölkerung suggeriert werden, es handle sich bei Marihuana um eine völlig neue gefährliche Droge.

Alle 16 Bundesstaaten, die bereits Ende der 1920er Jahre Gesetze gegen Cannabis verabschiedet hatten, lagen im Süden der USA, wo die hispanische Bevölkerung Cannabis Marihuana nennt. Aber die afroamerikanische Bevölkerung galt als anfällig für das grüne Kraut. Anslinger knüpfte sich die wenigen prominenten Repräsentanten der schwarzen Bevölkerung vor. Schon bald kursierten Listen von des Marihuana-Konsums verdächtigten schwarzen Bluessängern und -sängerinnen. In den Verfolgungsphantasien der Drogenfahnder wurden Jazz und Marihuana zum Synonym.

Die von Anslinger propagandistisch angeleitete und von der Hearst-Presse – vergleichbar mit Springer bei uns – im Boulevardstil verbreitete Hetzkampagne nahm immer groteskere Züge an. Wissenschaftliche Erkenntnisse ignorierte Anslinger systematisch, Forschung wurde massiv behindert – und allenfalls dann gefördert, wenn sie zu im Sinne Anslingers genehmen Ergebnissen führte. Selbst als Experte des US-Kongresses geladen, bezeichnete Anslinger Marihuana als »die am meisten Gewalt erzeugende Droge in der Geschichte der Menschheit «. Das Federal Bureau of Narcotics ließ einen »Aufklärungsfilm« produzieren, der den Ruf von Marihuana als »satanische Mörderdroge « festigen sollte. Der Plot von »Reefer Madness« (so der Titel des Films): Ein junger middleclass everybodies’ darling-Amerikaner raucht einen Joint und wird zur reißenden Bestie.

Die in ihrem Kern rassistische Anti-Marihuana-Kampagne der dreißiger Jahre war eine Koproduktion von Anslingers Drogenagentur und Randolph Hearsts Presseimperium. Hearst hatte dabei allerdings weniger die Rauschwirkung als das Profitpotential der Pflanze im Sinne. Denn als das Landwirtschaftsministerium in einer Studie vorrechnete, daß dank moderner Fasergewinnungstechniken aus einem Hektar Hanf dieselbe Papiermenge hergestellt werden könne wie aus vier Hektar Wald, und das alle Jahre wieder, waren Hearsts Interessen als Eigentümer von profitablen Papierfabriken und als Besitzer riesiger Waldbestände unmittelbar berührt. Er hatte also gute Gründe, bei seinen Presseorganen die Hetzkampagne von Anslingers Drogenagentur zu unterstützen mit dem Ziel, die Pflanze zu stigmatisieren. Nach Kriegsende 1947 machten die USA ihren Mann zum Vorsitzenden der UN-Drogenkommission, die von da an bis heute im Geiste Anslingers wie eine US-Regierungsstelle agiert. Als Haschisch und Marihuana in den frühen Sechzigern auch in Westeuropa populär wurden, griffen die jeweiligen Regierungen bei ihrem panischen Versuch, eine Abwehrstrategie zu entwickeln, auf Anslingers Lügenpropaganda zurück. Auch die Medien ließen sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in die Anti-Marihuana-Propaganda einspannen; im Detail angepaßt an ihre jeweiligen nationalen Besonderheiten und Traditionen, übernahmen die westeuropäischen Regierungen die Argumentationsstruktur von Anslingers Propagandakampagne – die Pflanze wurde dämonisiert, und ihre Nutzer wurden diskriminiert und kriminalisiert.

Die harmloseste der illegalen Drogen

Doch so einfach sind moralische Standards und strafrechtliche Normen nicht von einer Kultur auf eine andere zu transplantieren. Die von den meisten europäischen Regierungen entfachte Horrorpropaganda traf auf das hellwache Publikum der sechziger und siebziger Jahre und damit auf eine kritische Öffentlichkeit, in der man gerade dabei war, die gesellschaftlichen Verhältnisse grundsätzlich in Frage zu stellen. Trotz massiver strafrechtlicher Konsequenzen und gesellschaftlicher Diskriminierung eroberte Cannabis innerhalb kürzester Zeit die damals dominante Jugendkultur. Und es ist aus den folgenden Jugendkulturen auch nicht verschwunden. Das der Pflanze anhaftende Stigma verlieh ihr in der Szene, gerade weil sie stigmatisiert war, das Prädikat »besonders wertvoll«. Mit Verblödungspropaganda im Stile Anslingers war dieser Generation von Hanffreunden und potentiellen Usern nicht beizukommen. Sie taten das, was sie taten, ohne Unrechtsbewußtsein.

Auch wollten weder der indische Hanfdrogenreport von 1893 noch die 1944 nach dem New Yorker Bürgermeister La Guardia benannte Cannabis-Studie noch der 1968 von der britischen Regierung veröffentlichte Cannabis-Report die von den USA behauptete Gefährlichkeit der Droge bestätigen. In die Defensive gedrängt, blieben der Anti-Cannabis-Lobby nur noch zwei wissenschaftlich verbrämte Argumente gegen Cannabis und dessen Liebhaber. Doch die vor allem in Strafverfahren vorgebrachte Behauptung, Cannabis verursache bei Jugendlichen ein amotivationales Syndrom, sowie die Theorie, Cannabis sei die Einstiegs- und Umsteigedroge auf härtere Stoffe, waren wissenschaftlich nicht haltbar. Was allerdings große Teile der politischen Klasse Westeuropas nicht daran hinderte, mit diesem Argument weit über sein Verfallsdatum hinaus hausieren zu gehen.

Völlig unbeeindruckt vom öffentlichen Diskurs und der von den Regierungen ihrer Länder angezettelten Lügenpropaganda experimentierten immer mehr Jugendliche in ganz Europa mit nordafrikanischem und zentralasiatischem Haschisch und lateinamerikanischem und südostasiatischem Marihuana. Die aus den USA exportierte Anti-Marihuana-Propaganda erwies sich als ein gigantischer Public-Relations-Flop, auch deshalb, weil die Propaganda der Regierung von einer Gegenkampagne, die sich in Theorie und Praxis um Aufklärung bemühte, konterkariert wurde.

Heute kann man davon ausgehen, dass allein in Deutschland zwischen drei, manche Untersuchungen sagen sogar: bis zu fünf Millionen Menschen aller Altersgruppen mehr oder weniger regelmäßig Cannabis konsumieren, und viele Millionen haben im Verlaufe der zurückliegenden Jahrzehnte die Droge einmal probiert mit dem Ergebnis, daß sie ihnen nicht zusagte. Auch Cannabis, ich bleibe dabei, ist eine Droge, bei der es ein Zuviel und ein Zuoft gibt. Zwar gilt der Stoff als der harmloseste aller am illegalen Markt angebotenen Drogen, doch um in den Genuß einer positiven Erfahrung zu kommen, ist auch mit Cannabis ein bewußter und sorgfältiger Umgang erforderlich. Die Mehrzahl aller Konsumenten und Konsumentinnen ist sich der Tatsache bewußt, daß auch der Gebrauch von Cannabis als Rauschsubstanz gewisse Risiken in sich birgt.

Im übrigen kann nicht überraschen, daß es auch bei Cannabis, wie bei allen psychoaktiven Substanzen, Problemuser gibt. Menschen, bei denen sich aufgrund psychischer oder physischer Besonderheiten unerwünschte Reaktionen und Nebenwirkungen einstellen. So kann Cannabis eine schlummernde Psychose oder eine negative Stimmung auslösen oder verstärken. Zu einer vernünftigen Risikoabwägung gehört deshalb, neben dem Wissen über Anwendung, Dosierung und Wirkung der Droge, eine nüchterne Selbsteinschätzung der eigenen psychischen und physischen Konstitution. Die geringe Zahl von Zwischenfällen ist eindeutiger Beleg dafür, daß die Mehrzahl aller Konsumenten und Konsumentinnen zu dieser Einschätzung in der Lage ist.

Cannabis hat sowohl anregende und beruhigende als auch betäubende und halluzinogene Wirkung. Welche Wirkungsweise gerade dominiert, hängt neben der Persönlichkeit des Konsumenten oder der Konsumentin und den Umständen des Konsums vor allem von der höchst unterschiedlichen Qualität des Stoffes ab. Die Droge erlaubt eine Konzentration auf das Wesentliche, auf das, was man sich in einer bestimmten Situation vorgenommen hat und erreichen will. Die Wirkung kann aber genausogut in Zerstreuung und bis ins Gefühl der Ich-Auflösung umschlagen. Cannabis hilft, Außenreize zu aktivieren. Die Droge intensiviert die akustische und optische Wahrnehmung, sie sensibilisiert den Tastsinn und das Hautempfinden; insofern ist sie auch eine Sexdroge.

Die wichtigsten Indikatoren bei der Bewertung des Gefahrenpotentials einer Droge, Todesfälle, Organschäden, Suchtabhängigkeit, soziale Auffälligkeit, sind im Falle von Cannabis negativ und machen deshalb die Droge zur harmlosesten von allen Substanzen, die am Drogenmarkt angeboten und nachgefragt werden. Die Gefahr, beim Rauchen eine Überdosis zu erwischen, ist gering, weil die Wirkung so schnell eintritt, daß der Raucher oder die Raucherin in der Lage ist, sie zu dosieren und den Joint weiterzureichen oder wegzulegen. Gegessen oder getrunken wirkt Cannabis anhaltender und stärker als geraucht. Wie lange und wie intensiv, hängt von der Dosierung ab. Die Gefahr, beim oralen Konsum eine Überdosis zu erwischen, ist nicht zu unterschätzen. Wichtig ist, nach der Einnahme auf die Wirkung zu warten; sie tritt gewöhnlich 30 bis 60 Minuten nach Einnahme ein, manchmal auch erheblich später, je nach Mageninhalt. Cannabishaltiges Gebäck sollte man deshalb nie seines Geschmacks wegen essen, oder weil man Hunger hat. Überdosierung bei oraler Einnahme kann zu LSD-ähnlichen Halluzinationen bis zum Horrortrip führen. Die Nachwirkungen von Cannabis sind mild und harmlos: Müdigkeit und Kopfschmerzen können vorkommen. Einen Hangover, vergleichbar dem Kater nach übermäßigem Alkoholkonsum, gibt es nicht, vorausgesetzt, der Konsument beziehungsweise die Konsumentin achtet auf ausreichenden Schlaf. Bei richtiger Anleitung und ausreichender Information sind all diese Risiken beherrschbar.

Traditionelles Arzneimittel

Nach wie vor wollen einflußreiche populistische Kräfte aus anderen als gesundheitspolitischen Gründen am Cannabis-Verbot festhalten. Ihnen geht selbst die medikalisierte Abgabe von Cannabis an Aids-Kranke, Schmerz- und Tumorpatienten zu weit. Mit dem Cannabis-Verbot wird nicht nur ein beliebtes Genuß-, sondern auch ein potentes Heilmittel vom Markt genommen. Zögernd und mit erkennbarem Widerwillen mußte die pharmafixierte Schulmedizin in den vergangenen Jahren die nachweislich heilsame Wirkung von Cannabis eingestehen. Die positiven Erfahrungen vieler Patienten und Patientinnen konnten auf Dauer nicht ignoriert werden. In einigen Bundesstaaten der USA ist es per Volksabstimmung gelungen, die medikalisierte Abgabe von Cannabis durchzusetzen, oft allerdings nur in Form von Marinol, der synthetischen, in den Labors der Pharmaindustrie hergestellten Variante der Pflanze.

Die ersten schriftlichen Angaben zur medizinischen Nutzung von Cannabis gehen vermutlich auf ein etwa 4.700 Jahre altes chinesisches Lehrbuch über Botanik und Heilkunde zurück. Ab dem 16. Jahrhundert fand Cannabis Eingang in die Kräuterbücher. Es wurde seit dem ersten Kreuzzug in die Volksmedizin eingeführt und figuriert in vielen Klostermedizinen. Anwendungsbereiche waren rheumatische und bronchiale Erkrankungen, auch wurde Cannabis allgemein als Opiumersatz verschrieben. Im 19. Jahrhundert wurde es außerdem gegen Migräne, Neuralgie, epilepsieähnliche Krämpfe, Schlafstörungen und anderes eingesetzt.

Marihuana war, bis es im Jahre 1898 von Aspirin Konkurrenz bekam und schließlich als Heilmittel durch eine breite Palette von neuen, synthetischen Arzneimitteln abgelöst wurde, in Amerika das am häufigsten benutzte Schmerzmittel. Zwischen 1842 und 1900 machten Cannabis-Präparate dort die Hälfte aller verkauften Medikamente aus.

Auch der 1999 von der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen vorgelegte Cannabis-Bericht hält ausdrücklich fest, daß Hanf derzeit nicht nur eine Renaissance bezüglich seiner Qualität als nachwachsender Rohstoff erlebt, sondern auch in der Medizin wieder Beachtung findet: »Cannabis wird erneut als Arzneimittel benutzt und kann Erfolge verbuchen. « Nachdem sie alle Aspekte der Hanfnutzung untersucht haben, halten die Autoren des Berichts »eine Neubewertung der Stellung für Cannabis für dringend erforderlich. Ein unverändertes Weiterbestehen der Repression im Cannabis-Bereich und die Tatsache, daß ein nichtverwerflich empfundenes Verhalten verfolgt wird, beeinträchtigt zunehmend die Glaubwürdigkeit von Gesetz und Justiz.«

In allen westeuropäischen Staaten, von Schweden einmal abgesehen, hat man begonnen, nach einem Ausweg aus diesem Dilemma zu suchen und wenigstens eine Teillegalisierung ins Auge zu fassen. Auch die politischen Parteien haben sich des Themas angenommen. So beschloß die SPD auf ihrem Wiesbadener Parteitag 1993: »Zu einer legalen Abgabe von Cannabisprodukten müssen Bedingungen für einen kontrollierten Verkauf geschaffen werden. « Daß die Grünen das sogar zu einem Wahlkampfversprechen gemacht haben, soll bei der Gelegenheit noch einmal in Erinnerung gerufen werden. Als allerdings die Sozialministerin von Schleswig-Holstein, Heide Moser, vorschlug, Cannabis über Apotheken zu vertreiben, erfuhr sie nicht nur wenig Unterstützung in ihrer Partei. Einige ihrer Genossen machten sie auf eine geradezu widerwärtige Weise nieder, unter anderem der damalige Ministerpräsident von Niedersachsen, der dann später wegen einer Alkoholfinanzierungsaffäre von seinem Amt zurücktreten mußte. Moser erklärte: »Das Apothekenmodell ist kein Gegenmodell zum Coffeeshop, sondern es ist sozusagen der erste Schritt und die deutsche Variante desselben Gedankens, wie ihn die Niederländer schon seit Jahren umgesetzt haben. Und da wir das Legalitätsprinzip haben und nicht das Opportunitätsprinzip, und es sehr schwer vermittelbar ist, in Deutschland zu sagen, … wir dulden etwas, was eigentlich verboten ist, … bis hin zur Konzessionierung von verbotenen Verkaufsstellen, haben wir gesagt, wir müssen den geraden Weg gehen, wir wollen es wirklich legalisieren und kontrolliert abgeben. Dies alles führte uns dazu, daß es sich um ein sehr langfristiges Verfahren handelt und wir viel Akzeptanz dafür brauchen. Diese Akzeptanzüberlegung hat dann auch dazu geführt, wo eine Vertriebsstelle sein könnte, die in der öffentlichen Wahrnehmung als solide und fachkundig gilt, und da bieten sich die Apotheken als Vertriebsnetz an.

« Der im Grundsatz legitime Vorschlag, Apotheken mit dem Verkauf von Cannabis zu beauftragen, ist unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität fragwürdig. Denn offen ist, ob die Konsumenten die Abgabe über Apotheken überhaupt akzeptieren würden. Darauf macht auch der Lübecker Richter Wolfgang Neskovic aufmerksam, der Anfang der neunziger Jahre als Vorsitzender einer Kammer beim Landgericht Lübeck das Bundesverfassungsgericht aufforderte, die Verfassungsmäßigkeit der geltenden Cannabis-Rechtsprechung zu überprüfen. Neskovic versteht das Coffeeshop-Modell in den Niederlanden auch als Ausdruck einer bestimmten Kultur der Begegnung. Wir kaufen Alkohol und bringen ihn nach Hause, lieben es aber auch, in der Kneipe zu sitzen und bei einem Schluck Alkohol miteinander zu schwatzen und uns auszutauschen. Dieses Bedürfnis sei bei Cannabis ebenfalls vorhanden. Neskovic sieht aus politischen und rechtlichen Gründen zunächst eine größere Akzeptanz des Apothekenabgabemodells, ist aber dagegen, das eine Modell gegen das andere auszuspielen.

Dem populistischen Argument von der kulturfremden Droge entgegnet auch die Eidgenössische Kommission für Drogenfragen, »daß sich die Bedeutung, die dem Cannabis-Konsum beigemessen wird, die Wahrnehmung von Cannabis als Suchtmittel wie auch die sozialen Vorstellungen, denen es unterliegt, erheblich verändert hat. Es ist zunehmend die Entstehung einer Kultur zu beobachten, die sich immer weiter von dem Bereich entfernt, der den sogenannten harten Drogen zugeordnet werden kann. Auf diese Entwicklung zu reagieren ist Aufgabe des Gesetzgebers.« 

Gefährlichkeit neu bewerten

Die Legalisierung von Cannabis ist derzeit in Deutschland kein Thema. Immerhin hat der Vorstoß des Lübecker Landgerichts Bewegung auch in die deutsche Cannabis-Diskussion gebracht. Mit seiner Entscheidung vom 9. März 1994 legte das Bundesverfassungsgericht neue Normen im Umgang mit Cannabis beziehungsweise Cannabiskonsumenten fest; und in ihrem Beschluß haben die Verfassungsrichter vier Botschaften formuliert, die Neskovic so zusammenfaßt: »Die erste – und das ist das wirklich Neue – ist die Gefährlichkeitseinschätzung, die ursprünglich der Gesetzgeber gehabt hatte, als er Cannabis auch in das Betäubungsmittel-Strafrecht eingeführt hatte. Diese Gefährlichkeitseinschätzung ist unzutreffend. Wir müssen Cannabis in seiner Gefährlichkeit neu bewerten «, sagt Neskovic beziehungsweise das Bundesverfassungsgericht. Die zweite Botschaft des BVG: Das geltende Betäubungsmittelstrafrecht ist grundsätzlich verfassungskonform, aber es gibt bestimmte Fälle, und das betrifft die Mehrzahl der Konsumenten, bei denen eine strafrechtliche Verfolgung nicht eintreten darf, weil das unverhältnismäßig ist. Gemeint sind Fälle, in denen jemand geringe Mengen für den Eigenverbrauch bei sich führt oder erwirbt und keine Fremdgefährdung vorliegt.

Die dritte Botschaft des BVG: Die uneinheitliche strafrechtliche Praxis und Rechtsanwendungspraxis, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben (recht milde und liberal in Norddeutschland, recht hart und streng in den südlichen Teilen), soll vereinheitlicht werden. Und die vierte Botschaft schließlich ist, daß das BVG dem Gesetzgeber den Auftrag gegeben hat zu überprüfen, ob eine Trennung der Märkte mit der Freigabe von Cannabis unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist, weil das BVG erkannt und akzeptiert hat, daß die eigentliche Gefahr von Cannabis nicht in seinen gesundheitlichen Wirkungen besteht, sondern darin, daß es eine kriminelle Szene gibt, daß diejenigen, die Cannabis konsumieren wollen, sich in diese Szene begeben müssen.

Soweit die Botschaften des BVG, wie Neskovic sie zusammenfaßt, und es ist überhaupt keine Frage, daß hier nach wie vor ein gesellschaftliches und politisches Vollzugsdefizit besteht. Juristen sagen mir, daß das, je länger es dauert, aus rechtsstaatlichen Gründen problematisch ist. Es steht heute ohne Zweifel fest, daß sich der Cannabis-Konsum durch Prohibition nicht verhindern läßt. Um dieser Schlußfolgerung der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen nicht zuzustimmen, bedarf es eines hohen Maßes an Informationsresistenz. Die Konsequenz aus dieser Schlußfolgerung kann nur eine Legalisierung der Droge mit differenzierter, reglementierter Zugänglichkeit sein, wie sie schon 1986 von der Eidgenössischen Betäubungsmittelkommission vorgeschlagen worden ist Davon ist man in der Bundesrepublik weit entfernt.

Legalisierung – das Gebot der Stunde

Immerhin ist in der Arbeit an gesetzlichen Grundlagen für die medizinalisierte Abgabe von Cannabis weltweit etwas in Bewegung geraten. Doch es gibt gute Gründe, auch diese Entwicklung mit Mißtrauen zu verfolgen, so sehr man aus pragmatischen Gründen für die legale, medizinisch indizierte Abgabe von Cannabis eintreten mag, wenn und weil damit Menschen Zugang zu dieser von ihnen gewünschten Droge verschafft wird, die ihnen andernfalls verwehrt würde oder sie unter ständigen Kriminalisierungsdruck setzt. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dafür einzutreten, daß diese Menschen Cannabis bekommen. Doch die Cannabis-Diskussion ist längst mehr als nur ein akademischer Austausch von Argumenten. Es sind unterdessen massive ökonomische Interessen im Spiel. Das Thema ist im Kommen, auch weil die Pharmaindustrie sich in den Austausch von Argumenten eingeklinkt hat und ihr spezifisches Interesse am Thema bekundet. Cannabis ist da nur eine von vielen Pflanzen, deren Heilwirkung pharmakologisch nutzbar gemacht und patentrechtlich geschützt werden soll. Doch das ist ein anderes Thema.

Die derzeit geführte Diskussion, die die medizinisch-therapeutischen Aspekte der Pflanzen betont, birgt die Gefahr, die überfällige Legalisierungsdiskussion auf ein Nebengebiet zu verlagern, wo der Genuß- und Rauschaspekt von Cannabis aus Vermarktungsgründen als suspekt betrachtet und möglichst verleugnet wird. Das folgt einer gewissen Logik, denn auf der Pharmastrecke ist Cannabis nur clean als Medikament zu vermarkten, indem man so tut, als sei in der Realität eines Konsumenten die Heilungs- von der Genußwirkung zu unterscheiden und zu trennen. Eine von der Schweizerischen Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme durchgeführte Studie, in der unter anderem auch nach den Motiven des Konsums von Haschisch und Marihuana gefragt wurde, macht deutlich, daß Cannabis oft auch als Mittel der Streßbewältigung eingesetzt wird oder als Downer, um vom Speed runterzukommen. Mit Genuß oder gar rauschender Ekstase hat diese Art von Selbstmedikation nur noch wenig zu tun; dagegen viel mit nüchterner Kalkulation und Risikoabwägung, mit Einsatz von Drogen zur Bewältigung des Alltags.

Den Interpretationsansatz der sozialdemokratischen Drogenbeauftragten, die für den in der Tat beachtlichen Anstieg des Drogenkonsums von Jugendlichen die Spaßgesellschaft verantwortlich macht, kritisiert Petra Steinberger in der »Süddeutschen Zeitung« zu Recht: »Wie jede Gesellschaft ihre eigenen Formen psychischer Krankheiten erzeugt, so erschafft sie auch ihre eigenen Drogen. Vielleicht ist es ja weniger die Spaß- als die Streßgesellschaft, die nach immer schneller wirkenden, immer dröhnenderen Substanzen verlangt. Und nach Substanzen, die den Speed abbremsen und verlangsamen sollen.«

Problematisch an der Diskussion um den medizinisch-pharmakologischen Einsatz von Cannabis ist die Willkür der Indikationsstellung. Wo endet der Spaß, und wann beginnt der Schmerz, und wer entscheidet das? Und warum sollten Schmerzpatienten und -patientinnen, die mit der Cannabispflanze bereits positive Erfahrungen gemacht haben, auf das pflanzliche Produkt freiwillig verzichten und sich auf ein verschreibungspflichtiges synthetisches Produkt umstellen, von dessen Wirkung und Nebenwirkungen sie nichts wissen beziehungsweise bei dem sie auf die Informationen der Pharmaindustrie angewiesen sind?

Im übrigen verlangt die enorme Nachfrage nach Cannabis – egal, ob als Genuß- oder als Heilmittel, ich trenne das nicht – nach staatlichen Eingriffen und Regulierungsmaßnahmen, die Qualitäts- und Schadstoffkontrollen erlauben sowie Dosierungsgarantien ermöglichen. Die Verweigerung eines staatlich garantierten Verbraucherschutzes bei einer so erheblichen Konsumentengruppe ist rechtsstaatlich höchst problematisch und gesundheitspolitisch riskant. Es häufen sich die Warnungen vor mit toxischen Stoffen besprühtem Marihuana und vor mit Herbiziden und Pestiziden kontaminiertem Stoff, der in Lateinamerika, aber auch in den USA rücksichtslos auf den Markt gepumpt wird. Auf die obskuren hochprozentigen Züchtungen aus holländischen Treibhäusern würden viele Konsumenten und Konsumentinnen ebensogerne verzichten, wenn sie über die entsprechenden Produktinformationen verfügten beziehungsweise ohne strafrechtliche Risiken ihren Stoff selbst anbauen dürften. Es wäre fatal und ein gesellschaftlicher Rückschritt, wenn es der Pharma- und Medizinlobby gelänge, die Cannabis-Diskussion in die Pharmaecke zu verlagern. Damit böte sich der politischen Klasse erneut eine Gelegenheit, sich auf einem weiteren Nebenkriegsschauplatz auszutoben.

Die Legalisierung von Cannabis ist aus all den genannten Gründen der erste und wichtigste Punkt auf der drogenpolitischen Tagesordnung. Das setzt voraus zu akzeptieren, daß Menschen, aus Genußgründen und/oder weil sie sich Heilung beziehungsweise die Linderung vom Schmerz versprechen, Cannabis ohne Unrechtsbewußtsein konsumieren und niemand das verhindern kann. Dem kann sich nur entgegenstellen, wer, wie nach wie vor der erhebliche Teil dieser politischen Klasse, das Recht auf Denkfaulheit für sich in Anspruch nimmt.

 

Redaktionell leicht bearbeiteter und gekürzter Vorabdruck aus Günter Amendt: Legalisieren! Vorträge zur Drogenpolitik. (Hg.: Andreas Loebell, Mitarbeit: Alfred von Meysenbug).

Der Text basiert auf einem Vortrag, den Günter Amendt vor Drogenfachleuten und Sozialpolitikern beim Kongreß zur medizinischen Verwendung von Cannabis in Saarbrücken im Mai 2001 gehalten hat.