Aids für alle, alle für Aids

Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch ist am 7. Februar verstorben. Sigusch war 1986 für das in der Reihe Sexualität konkret erschienene Heft »Operation Aids« verantwortlich. In einem eigenen Beitrag beschrieb er die Schwulen- und Lustfeindlichkeit, die der damaligen Panikmache zugrunde lag.

Ein Regen von Verseuchungen geht auf uns herunter, dringt in alle Häute ein, durchlöchert, färbt, trocknet aus. Man möchte, wie Kafka in der Nacht, alles bleiben lassen, nichts mehr schreiben. Das, was man schon geschrieben hat über die allgemeinen Vernebelungen, über das Austreiben des Triebes, über Menschenverachtung in Liebe, über das Verramschen der Perversion, über den Massagecharakter der Liberalität und den Warencharakter der Sexualität war auch übertreibend, verdichtend, theoretisch. Die Hoffnung, dass das alles nicht im einzelnen praktisch sei, ist jetzt wieder einmal als trügerisch zu erkennen.

Gesagt worden ist, man hätte Aids erfinden müssen, wenn es nicht gekommen wäre. Richtig daran scheint zu sein, dass die seelische bis politische Indienstnahme dieser Krankheit, gäbe es den gesellschaftlichen Immanenzzusammenhang in persona, als ein raffiniertes Restaurations- und Ablenkungsmanöver zu verstehen wäre.

Restauration. Nichts ist verlässlicher als Sicherheit und Ordnung. Das Sexuelle ist durch und durch gefährlich, das Homosexuelle infektiös. Der Verkehr von Mann und Frau ist natur- wie gottgewollt. Genitalien, After und Darm sind zum Ausscheiden da. Sicherheit bieten nur Abstinenz und lebenslange Monogamie. Die Frau ist für Aidsverhütung zuständig wie für Empfängnisverhütung. Erfassungen zahlen sich aus. Jeder muss sehen, wie er durchkommt.

Ablenkung. Bedrohlicher als die Atomrüstung ist die individuelle Abwehrschwäche. Die politische Aufgabe der Stunde ist nicht, Bürgerrechte zu verteidigen, sondern abzubauen. Nicht Denken und Empfinden sind verseucht, sondern Blut und Samen. Wird die Umwälzung des Ganzen objektiv immer dringlicher, scheint die nicht gestellte Sinnfrage gesellschaftlich entschieden, geht der allgemeine Zug immer rasender auf die totale Katastrophe, sticht die alte liberale Phrase, es komme auf einen selber an, wieder so richtig. Wer mit seinen »eigenen« Problemen befasst ist, hat keine Kraft für generelle Es ist, als würde um das Überleben einzelner gerungen; doch im Ganzen zählt das nur als Schein.

Restauration, Wende, Ablenkungsmanöver, meinetwegen. Der Kern aber ist, dass sich alles so einstellt, wie es zu befürchten war. Das gilt auch für das Gerede vom Ende der »sexuellen Befreiung«. Deren ausgereifte Frucht kann jetzt ohne Reue genossen werden: Weichgumminoppen mit Himbeergeschmack.

Bei Aids, sagte der Infektologieprofessor zu mir, sei es ja üblich, kumulativ zu zählen. Wieso nur bei Aids? Gibt es für manchen nicht genug Kranke und Tote pro Jahr? Kumulativ heißt, alle werden für immer zusammengezählt. Täten wir das bei den Verkehrsunfällen, könnten uns jetzt Industrie, Regierung und Presse mehr als 500.000 Tote seit 1950 präsentieren. Man ahnt, warum sie es nicht tun. Wäre das Beseitigen tödlicher Gefahren ein gesellschaftliches Anliegen, gäbe es nicht jedes Jahr das Tauziehen um die sogenannte Krebsliste der Deutschen Forschungsgemeinschaft. In die Liste des Jahres 1986, man höre und staune, soll nach langem Drängen des DGB das hochgiftige 2,3,7,8-TCDD aufgenommen werden, wohl auch, weil es als »Seveso-Dioxin« nicht mehr zu verharmlosen ist. Vielleicht erübrigt sich das Tauziehen bald. Die Gentechnologen jedenfalls bieten an, widerstandsfähige Arbeiter für die jeweilige Schadstoffkonzentration auszuwählen.

Roboter aber wird man einsetzen müssen, wenn die lästigen Arbeitsunfälle der Menschen beseitigt werden sollen. Gegenwärtig kommt es in unseren Betrieben alle 18 Sekunden zu einem Arbeitsunfall, alle drei Stunden zu einem tödlichen. In der Zeitung aber steht: »Jetzt rüstet Grönland zum Kampf gegen Aids«. Zwar gäbe es »bisher noch keinen akuten Fall von Aids auf der Insel« - doch man kann nicht wissen.

Jede Sensation verhüllt, jede Panik schweigt gezielt über anderes Grauen, letztlich übers allgemeine. Die, die an Todes- wie Glücksspiralen drehen, tun augenblicklich so, als stürben wir zuallererst an Aids. Vielleicht, weil in dieser Kultur zuallererst an der allgemeinen Sinn- und Hoffnungslosigkeit gestorben wird, seelisch wie körperlich. Wir kommen um, weil wir überflüssig sind, ersticken an Verdrehung und Versachlichung.

Statistisch fassbar, sterben bei uns jedes Jahr Hunderttausende an Herzversagen, Krebs, Alkohol, Nikotin und anderen Drogen, Hunderttausende wollen sich selber das Leben nehmen. Es gibt bei uns Infektionskrankheiten, an denen sehr viel mehr Menschen sterben als an Aids. Die 63 alten Menschen, die bei einer »Grippewelle« zu Tode kommen, treten nicht einmal statistisch in Erscheinung. Wer denkt schon in Aids-Zeiten daran, dass es zigmal gefährlicher ist, bestimmte Arzneimittel einzunehmen? Dass mehr junge Frauen, statistisch: unter 35 Jahren, bisher jedes Jahr an den Auswirkungen der Empfängnisverhütung mit oralen Kontrazeptiva, der sogenannten Pille, gestorben sind als Riskierte an Aids? Von den tödlichen Viruserkrankungen der Armen der Welt, Lassa, Jurin, Machupo usw., ganz zu schweigen. Und von den 15 Millionen Kindern, die laut WHO jährlich an Atemwegsinfektionen sterben. Und von den 20 Millionen Lepra-Kranken, die als Ausgestoßene irgendwo dahinvegetieren …

Doch lassen wir das Aufrechnen, weil es zu Kosten-Nutzen-Analysen, Schuldzuweisungen und Selektionen führt und sonst gar nichts: jedem Kranken gebühren medizinische Hilfe und menschliche Anteilnahme gleichermaßen.

Je korrupter die öffentliche Meinung, desto unbestechlicher die kritische Sexualforschung. Wenn gesagt wird, jetzt sei bewiesen, daß die Natur den Analverkehr nicht vorgesehen habe, fällt es schwer, ihn als riskant zu bezeichnen. Denn der Kritische weiß: Die Sexualität hatte nie und nirgends eine natürliche Natur; die Gleichung widernatürlich = krank gilt nach wie vor.

Gesagt werden müßte., daß die äußere Natur nicht gut ist. Doch das überschreien momentan die Korrupten wie die Alternativen, und der »Spiegel« sähe seine Idiotie bestätigt (»Mikroben machen Geschichte, immer noch«) und seine Menschenverachtung dazu (»Tote auf Urlaub«).

Je totaler die Verstofflichung, desto allgemeiner die Idiotie. Fällt sie mit dem, was ist, beinahe zusammen, wird sie ungewollt zur Einsicht ins Totale. ja, wir sind die Mikroben, die die anderen und sich selber befallen haben, und wir meinen tatsächlich, Geschichte zu machen. ja, bei uns arbeitet die Hälfte der wissenschaftlichen und technischen Idiotie, genannt Intelligenz, unmittelbar im Dienst von Rüstung und Kriegsführung, und das Gerede von den 40.000 Kindern pro Tag, die irgendwo an Unterernährung elendig verrecken, hängt uns zum Gewissen heraus. Schließlich schrieb »Bild« gerade, im Stil des »Spiegel«: »Mit rasender Geschwindigkeit breitet sich die unheilbare Lustseuche AIDS in Deutschland aus.« Aids ist »amtlich bisher schon bei 360 Deutschen ausgebrochen«. Und das in vier Jahren.

Ja, wir sind für die anderen eine Gefahr, physisch wie geistig. Um so krampfhafter das Bemühen der US-Amerikaner, die Infektionsquelle in ausgeblutete Regionen zu verlegen: erst Südostasien ohne Erfolg, dann Haiti wider besseres Wissen, jetzt Schwarzafrika. Kolonialwarenhändler, die wir nun einmal sind, plappern wir auch die imperialistisch diktierten Pseudowörter AIDS und HTLV-III nach. Jetzt zahlt sich aus, daß unsere Kinder die Schulranzen »WUM starlight I« und »Spacelab 2000« tragen. Wir glauben der US-Regierung auch, wenn sie der Welt erklärt, ihr geschwätziger Professor Gallo habe den Aids-Erreger entdeckt. Wer traut das schon einer Französin namens Francoise Barré-Sinoussi zu, wer liest schon eine wissenschaftliche Zeitschrift wie »Science«? Herr Augstein offensichtlich nicht.

Die Journaille will uns weismachen, der Tod der Schwulen, Fixer, Huren ginge ihr nahe. Doch sie präpariert das Siechtum aller Krankheitsopfer, des kleinen Angestellten ebenso wie des Hollywoodstars, bis es mediengerecht herausgeschrien werden kann. Endlich einmal ein profitables Verrecken in Serie.

Indem die Journaille Ängste erzeugt und vorhandene Ängste verstärkt, indem sie phobische, paranoide und panische Reaktionen der Menschen hervorkitzelt, mit Inhalten versieht und am Brodeln hält, wird sie zu einer Hauptgefahr für die Gesundheit. Sie schwächt auf diese Weise die seelischen Abwehrkräfte, organisiert das seelische Entgegenkommen, das bei allen Infektionskrankheiten von großer Bedeutung ist. Während psychosomatische Theorie und Praxis Tag um Tag belegen, daß Seele und Körper ineinandergreifen, tut die Journaille so, als seien seelische und körperliche Abwehr vollkommen getrennt, als sei der Mensch nicht trotz aller Zerstückelung eine Einheit.

Für den Vertreter einer psychosozialen Medizin ist es eine gesicherte Erkenntnis: daß die Aids-Kampagne der Presse das Wohlbefinden weiter Bevölkerungskreise beeinträchtigt, daß sie unter entsprechenden individuellen Voraussetzungen von krankmachender Potenz ist, daß sie zu jenen viel diskutierten Kofaktoren gerechnet werden muß, die auch bei den Infektionskrankheiten als mitverursachend immer zu bedenken sind.

Die Medikalisierung der Gesundheit ließ Kritiker der Medizin in den letzten Jahren von der »Enteignung der Gesundheit« sprechen. jetzt ist die Medialisierung der Gesundheit, der Krankheit und des Todes zu kritisieren. Der Umgang der Journaille mit Aids erinnert unwillkürlich daran, daß bei uns nichts der Enteignung entgeht und nichts der Verwertung, Krankheiten nicht, das Leiden nicht und nicht der Tod.

Da Arbeit bei uns allgemein verschwindet, wird nun Sexualität dazu. Die Mystifikation, nach der Liebe unwillkürlich ist, ihren eigenen Gesetzen folgt, stößt an die Grenze der gesellschaftlichen Gültigkeit. Nicht mehr zu transzendieren braucht die bürgerliche Idee der Liebe die Gesellschaft. Was Humanes im allgemeinen Inhumanen aufrichten wollte und dadurch auf der Stelle unwahr war, kann sich seine Unvermitteltheit jetzt an den Tirolerhut stecken. Auf dem steht: ICH BIN NEGATIV. Obgleich das endlich einmal eine erfrischende Auskunft ist, ist es als Prinzip so unwahr und unfrei wie der Liebesschwur.

Wenn das Sexuelle ohne Willkür nicht überleben kann, dann auch nicht die Triebliebe. Vom Trieb wurde verlangt, sich gefälligst ordnungspolitisch zu benehmen, von der Liebe scheinbar nicht. Im Aids-Zeitalter ziehen auch diese Nebelschwaden ab, weil das bislang suspekte Moment der subjektiven Willkür zum kalkulierten Moment der objektiven Willkür eines' Labortests gerinnt. Nicht der Roman der Triebliebe interessiert, sondern einzig, ob das Serum konvertiert.

Ist der Test positiv oder negativ ausgefallen, sind es auch die Liebenden. Negativ war schon immer positiv. In dieser Lage könnte die Anarchie der Willkürlichen die Probe aufs Subjekt sein, waren sie nicht durch innere Zwänge bereits ihrer Freiheit beraubt. Der Befehl, vorsichtig zu sein, macht unfrei; doch ohne Vorsicht wird man überrollt. Mit der Aids-Kampagne hat sich die Illusion, das Liebes- und Geschlechtsleben sei nicht vom Befehl der Vorsicht durchgellt, vollständig erledigt. Auch deshalb muß radioimmunologiSch getestet werden, kontinuierlich. Die Testung stellt sich auf das System des Schreckens ein: lethargisch weiterleben, als sei nichts gewesen, die Raketen stehen auch irgendwo im Wald.

Am treffendsten bezeichnet jene Parole die allgemeine Lage des Sexuellen, nach der es isoliert und abgestellt werden kann. In der Tat wurde das, was wir seit kurzem »sexuell« heißen, wie die anderen Vermögen, Kräfte und Eigenschaften der Menschen beim Fortschreiten vom Handwerk über Kooperation und Manufaktur zur großen Industrie in immer stärkerem Maße verselbständigt, vergegenständlicht, je nach dem objektiven Zug an- und abgestellt, nach Möglichkeit handhabbar gemacht.

Dieser Prozeß ersetzte Lebendiges durch Totes, kreiste immer wieder mit besonderer Hingabe um das triebhaft Sexuelle, weil das bis heute für Chaos, Autonomie und Subjekthaftigkeit steht. An den Liebeslehren, den Ehehandbüchern und den Werken der Sexualforscher von de Sade bis Masters kann dieser Prozeß am leichtesten abgelesen werden.

Kein Sibir soll sein. Heute scheuen selbst Infektologen vor nichts zurück. Die Forscher des Bundesgesundheitsamtes haben gerade »fist fucking«, »water sports«, »rimming« und »golden shower« aufgeschnappt und fragen sogleich ihre Klienten danach, altklug und schamlos. Das deutsche Nachrichtenmagazin empfiehlt den Mundverkehr mit Gummi, tut so, als verkehrten die Bundesbürger mit Dildi und problematisiert den Umgang mit »sex toys«, von denen nicht einmal US-Sexologen gehört haben. Alle wissen jetzt Bescheid, und keiner hat eine Ahnung.

Unmögliches scheint machbar: Das Sexuelle durchdringt nicht die gesamte Person, es kann als Stellung mit oder ohne dingfest gemacht werden. Herr Gallo und das Magazin empfehlen lebenslange Abstinenz. Sie glauben, das Sexuelle lasse sich abstellen wie das Denken.

Um so wahrer ist heute: Ein Sexualforscher, der nicht trotz massenhaften An- und Abstellens der Gefühle und Tendenzen auf dem unabstellbar Triebhaften beharrte, hätte seine sonderbare Obsession verloren. Wie es Homosexuelle gibt, die abstinent oder treu sind und sich nicht einmal in einer lauen Sommernacht verlustieren, so gibt es Sexuelles, das kein Vollzug ist. Da aber festgelegte Sexualformen, Oberflächenmassagen und Sexualklempnereien gang und gäbe sind, ist »Safer sex« nichts wirklich Neues. Einige seiner Vorläufer heißen: Onanie, Minne, vollkommene Ehe, Petting, Peep show. Besonders Frauen hatten in patriarchalischen Zeiten immer aufzupassen. Das gilt auch heute.

Und selbst das, was sich in den Winkeln der Schwulen seit der Liberalisierung abspielte, war sehr vergegenständlicht, kaum noch triebhaft. In den berüchtigten »backrooms« ging es planvoll zu, in aller Regel nach Maß und Schema F, und auf den meisten Klappen herrschte notgedrungenerweise so etwas wie »Safer sex«. Die Normalen aber phantasierten ekstatisch wildes Fleisch und erblaßten.

Wenn jetzt alle, so steht es geschrieben, mit Mundschutz, Gummihandschuhen und Kondom verkehren sollen, wird der Beischlaf sichtbar das, was er dem Kern nach schon ist: eine Operation.

Die Chiffre »Safer sex« wurde uns samt der Sicherheitsstrategie von unserer Schutzmacht offeriert. Was in einem Werbespot materialisiert werden kann, was den Mechanismen des Vortäuschens sogar neue Nahrung gibt, kann pragmatisch erledigt werden. In den USA sind die Voraussetzungen für den Sieg des Objektiven blendend. Über die Differenz von Subjekt und Objekt ist man dort ziemlich erhaben, die Sexualität scheint von allen Unwägbarkeiten gereinigt zu sein. Dort gibt es keinen Sexualforscher, der mit unseren Ideen von Trieb und Liebe und Triebliebe etwas Vernünftiges anzufangen wüßte. Die hiesige Sexualwissenschaft dagegen glaubt noch irgendwie, teils kritisch, teils instinktologisch, an das Subjektive und Transzendente des Sexuellen, hat folglich in Sachen »Safer sex« vollkommen versagt, erfreulicherweise.

Während so viel Verantwortungslosigkeit das Nachrichtenmagazin in blinde Wut geraten ließ, erinnerten sich »Quick« und ihresgleichen an Unterschiede, hier der mystische Phänomenologe Oswalt Kolle, dort der empirische Ratschläger Ernest Queezle, und taten das einzig Richtige: Ein deutschstämmiger US-Sexologe mußte eingeflogen werden.

Schön, daß sich gerade einer transatlantisch spreizte, allerlei akademische Titel aus dem Hut zog und so tat, als sei er ein richtiger deutscher Professor. Man ernannte ihn schnell zu »einem der angesehensten Aidsforscher der Welt«, schenkte ihm ein eigenes »sexualwissenschaftliches Institut« und ließ ihn dann der elitär distanzierten westdeutschen Sexualforschung unter die schneeweiß atrophierten Arme greifen. Prompt brachte der Heroe Mystik und Ratschlägerei dazu, miteinander zu kopulieren.

Der Mann heißt übrigens Erwin J. Haeberle, »has studied drama«, nein, nicht Medizin oder Psychologie. Aufgefallen ist er in unseren Kreisen nicht durch wissenschaftliches Arbeiten, sondern durch »THE SEX BOOK« und »THE SEX ATLAS«. Auch seine besten Adressen, das Kinsey-Institut und die San Francisco State University, sagen uns: »no rank« und »no information about his research work«. Dabei wußten wir ja schon, daß dieser bedeutende Forscher in den USA Experte für das Vorführen von Videopornos an einer hochtrabend betitelten »private, non-sectarian school« ist. In der hiesigen Aids-Kampagne ist er also unverzichtbar, auch weil er als gebürtiger Bochumer weiß, daß es Weltuntergänge und Rucksäcke nur im Deutschen gibt.

So schlürft er, vom Parteivorstand der SPD gerufen, die angstlustvolle Phantasie der Abendländer in sich hinein, daß es zur richtigen Katastrophe komme und verkauft ihnen pornografische Simulationen mit der Aufschrift: »Achtung, Phantasiematerial, bitte nicht nachmachen!« Nein, ich phantasiere nicht, ich zitiere den Sachverständigen wortwörtlich (wer es nicht glaubt: »Brigitte« 22/1985, Seite 137).

Es lebe die Agonie des Realen als volles Spiel der Simulation unüberbietbarer US-Banalität! Und alle fatalen Strategien! Und bitte auch die Kunst des Verschwindens! Während die Hochrufe erschallen, legen wir uns eine andere Sentenz vor: Aus dem heiligen Eros macht man keinen Telefondienst.

Drei Verdienste werden dem - so nennt er sich gerne selber - »reinen Wohltäter« bleiben. In den Augen meiner körpermedizinischen Kollegen hat er die US-amerikanische Sexologie so gründlich diskreditiert, wie wir es in zwei Jahrzehnten nicht zustande gebracht haben. Indem er sich für die Telefonsex-Industrie stark gemacht hat, wies er auf neue Beschäftigungsarten hin. Vor allem aber hat er die »traditionelle, sagen wir mal katholische, Sexuallehre« und die »Safe-Sex-Techniken« in einem Atemzug genannt (nachzulesen in »Arzt heute« vom 6. Dezember 1985 auf Seite 5) - als »Möglichkeiten, der Krankheit Einhalt zu gebieten.« Ins Schwarze treffen tut er immer wieder mal, blauäugig bäuchlings.

Für die Grünen ist Aids ein ökologischer Verteidigungsfall. Ihr Abgeordneter Herbert Rusche schreibt: »Zur Vorbeugung gibt es grundsätzlich nur einen Rat: Grundsätzlich jeden Kontakt zwischen eigenen und fremden Körperflüssigkeiten vermeiden... Ganz egal, ob eine Frau oder ein Mann antikörper-positiv oder antikörper-negativ ist, sind solche Vorbeugemaßnahmen ('safer-sex‘) sinnvoll«. In Anzeigen und Broschüren weisen die Grünen darauf hin, daß das »jetzt jede Frau und jeder Mann wissen sollte!«

Wie einfach und praktisch! Vorbeugehaft für alle, in die sie sich selber zu nehmen haben. Männer wie Frauen müssen so lange vor-gebeugt werden, bis bei allen keine Samenflüssigkeit mehr kommt. Nein, es ist noch verrückter, die Grünen wissen mehr als »Lancet« und »Science«. Man höre und erschrecke auf ein weiteres: Auch der Schweiß ist infektiös.

Wir ahnten ja schon, daß in dieser Kultur ganz allgemein der denkende, blutende, lubrizierende, ejakulierende Mensch gefährdet ist oder suspekt. Dank der grünen Gründlichkeit wissen wir jetzt, daß mittlerweile auch der spuckende, urinierende, kotende und schwitzende Körper vernünftigerweise zu vermeiden wäre, Körper, an denen immer noch Menschen hängen. Aber vielleicht ist das überholte Anthropologie, weil die Menschen längst von ihren Körpern getrennt sind. Das triebhaft Sexuelle, das uns ja schon zur Sexualität geraten ist, belegen die Grünen jedenfalls mit der kurzgeschorenen Wortmarke »Sex«, die uns der US-Imperialismus einst bescherte, auf daß wir uns an die kommenden Austreibungen gewöhnten. »Sex« - das meint die gesellschaftlich isolierte Sexualität, die Warencharakter angenommen hat. »Sex« und »Safer sex« gehören zusammen, indem sie angesichts der todbringenden Realität auf den abendländischen Traum vom Eros pfeifen. Daß die Durchbrüche des Triebes für Opposition und Transzendenz stehen, wird von einem mystifizierenden Denken erstickt, welches uns auf den anderen gesellschaftlichen Feldern bereits seine verdrehenden Wortmarken eingespritzt hat: Entsorgungsanlage, Zwischenmenschlichkeit, atomare Abschreckung, Präventivschlag, Vorwärtsverteidigung, finaler Rettungsschuß, Sterbehilfe, SDI.

Wer »seit Jahren in einer monogamen Zweierbeziehung« lebe, brauche keine Vorbeugemaßnahmen zu ergreifen, schreibt Rusche und merkt nicht, welches Gift er zu trinken gibt, welchem Fetisch er opfert, welche Ängste er nährt. »Seit Jahren«? Seit zwei, fünf oder zehn Jahren? Es ist wie beim alten Kampf gegen die Onanie. Jeder, der Angst hat, ist davon überzeugt, daß gerade sein Verhalten den Sicherheitsvorschriften nicht genügt.

Hätte ein Grüner nicht mehr gesagt als Sex und Vorbeugung und Monogamie, als »Safer sex«, Entsorger und Sicherheitsingenieure fürs Sexuelle, wir müßten uns gar nicht sonderlich aufregen, wäre er doch aus keinem Rahmen gefallen, auch nicht aus dem alternativen, weil sich die erwünschte Friedfertigkeit auf einen Sex reimt, in dem die explosive Mischung von libidinösen und aggressiven Regungen, die alles Sexuelle auszeichnet, entschärft ist. Das alles aber hat eine politische Partei auf Staatspapier mit schwarzem Adler niedergelegt. Es macht die Parolen, obgleich sie kulturell konform sind, zu einem politischen Skandal. Weiß eine Partei jetzt besser als eine medizinische Fachgesellschaft, wie mit einer Infektionskrankheit umzugehen sei? Ist es seit Aids die Aufgabe der Politiker, jeder Frau und jedem Mann des Staatsvolkes mit Ausrufezeichen den gerade virenpsychologisch opportunen Sex zu verordnen?

Mein lieber Abgeordneter Rusche, Sie wollen Schutz und Sicherheit, doch Sie gehen einen gefährlichen Weg, den nicht einmal die CSU öffentlich zu betreten wagte. Mir persönlich haben Sie jedoch auch Entlastung verschafft. Ihre irrationale Rationalität gestattet es mir seit Aids nicht mehr so leicht, überall Verseuchungen zu wittern. Eine chronische Bleivergiftung, die mir Ihre Frankfurter Parteifreunde nahelegten, habe ich, obwohl mein Wasser aus Altbaurohren kommt, bereits überwunden.

Nichts von dem, worum e h k in der Broschüre der Bundesregierung vor: das Riskante nicht, die Riskierten nicht und nicht die Subjekte. Sie behandelt die Homosexuellen beinahe wie die Juden. Sie läßt die Homophobie wie den Antisemitismus im Untergrund, wo sie am besten wuchern. Die spezifische Lebensart der Opfer, die möglicherweise für die Krankheitsgeschichte bedeutsam ist, bleibt tabuiert, ist postwurf- und haushaltungswidrig. Entängstigen wollte die Regierung mit ihrer Sendung. Was aber nicht bei seinem Namen gerufen werden kann, muß entweder heilig oder unselig sein, also der Quell der Angst.

Vielleicht ist das Gesundheitsministerium von der Phantasie durchdrungen, es hätte dem Laster die Briefkästen geöffnet, die Wohnbevölkerung mit Homosexuellen infiziert und eine Lawine der Perversitäten losgeworfen, hätte es die namenlose Liebe wie die Krankheit mit ihrem Kunstwort versehen. So aber blieb sie einfach jenseits der Subjekte sibyllinisch auf der Höhe der Dinge, setzte wahrsagend auf das Verschwinden des Unsäglichen: »Verhaltensweisen beginnen, sich zu ändern.« Während der Bürger verzweifelt fragt, für was die Menschen noch benötigt werden, frohlockt der Zeitgenosse, weil als nächstes Körperflüssigkeiten aufhören werden, einander auszutauschen.

Alles, was sich draußen nicht einfach diktieren läßt, praktiziert das rotgrüne Hessen in seinen Gefängnissen. Wieder einmal führen uns Sozialdemokraten vor, wie feige und niederträchtig sie sind. Im Bundestag lehnten sie gerade den Antrag der Grünen auf Entkriminalisierung der Homosexualltät ab - mit der Begründung, sie seien schließlich seit einhundert Jahren gegen jede Diskriminierung und weiterhin zu Gesprächen bereit. Einfach zum Kotzen diese Heuchelei. Erbosen mich die offen menschenverachtenden Zwischenrufe der Rechten nicht weniger, so sind sie mir doch beinahe lieber, weil man dann immer ganz genau weiß, was einem von Volksparteien blüht.

Und was hat uns die Medizin zu sagen? Bisher nichts Gesichertes. Aids ist eine Erkrankung, die den ganzen Organismus ergreift und wird allein schon deshalb, wie die Geschichte der Medizin lehrt, erst in Jahrzehnten einigermaßen zu überblicken sein. Alles bisher Gesagte ist in größter Eile zusammengerafft und oft in fahrlässiger Weise veröffentlicht worden. Im Augenblick stellt sich heraus, daß es bei Aids wie bei jeder großen Erkrankung zu verschiedenen Manifestations- und Verlaufsformen kommen kann: Haut oder Magen-Darm oder Lunge oder Nervensystem. Die anfänglich als charakteristisch unterstellte Symptomatik zerfließt.

Höchstwahrscheinlich gibt es auch bei Aids sogenannte subklinische, inapparente Krankheitsverläufe, das heißt, der Infizierte hat Aids gehabt, aber nicht mehr als »eine Grippe« gespürt. Nach welcher Zeit sich im allgemeinen die Infektion klinisch zu erkennen gibt, wie viele Infizierte tatsächlich an Aids erkranken können, ob die Infizierten auf Dauer das Virus übertragen können, all diese Fragen sind noch offen. Nicht einmal Struktur und Herkunft des strenggenommen mutmaßlichen Erregers sind geklärt. Umstritten ist, ob eine Impfung überhaupt möglich sein wird.

Auch wenn wir darauf hoffen, dürfen wir uns nicht einreden, eine Krankheit sei besiegt, sobald ihr Erreger identifiziert ist und Heilmittel gefunden sind. Daß dieses monokausale Denken und Handeln nicht einmal den Sieg über Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Malaria, Diphtherie oder Leishmaniosis erringen konnte, lehrt deren Geschichte bis auf unsere Tage. An Aids sind bei uns im Verlauf von vier Jahren 176 Menschen verstorben; an der angeblich besiegten Tuberkulose sterben bei uns dreißig bis vierzigmal mehr. Erst als die allgemeinen Lebensverhältnisse breiter Bevölkerungsschichten merklich verbessert worden waren, konnte die Organmedizin so tun, als habe sie allein den Sieg über die Volksseuchen errungen.

Zu befürchten ist, daß im Zuge von Aids das somatische Denken in der Medizin so sehr gestärkt wird, wie am Ende des letzten Jahrhunderts durch die Heldentaten der Bakteriologen. Die seelischen, sozialen, kulturellen, gesellschaftlichen, ja sogar politischen Dimensionen und Momente jeden Krankheitsgeschehens fielen dann wieder total durch den Rost der einen, scheinbar alles bestimmenden »Ursache«. Die aber gibt es nicht einmal beim Beinbruch. Aids wird uns also aus anderen Gründen als dem der Ausbreitung des Erregers bis über das Jahr 2000 hinaus begleiten. Wir werden Aidsologen bekommen wie einst Syphilidologen, und spezielle Rehabilitationszentren.

So wie die herrschende Medizin gerichtet ist, stellt sich Aids als ein Knotenpunkt dar, in dem die Fragen vieler unbesiegter Krankheiten zusammenlaufen, von der Grippe über die Thyreotoxikose, die primäre biliäre Zirrhose, die Morbi Crohn, Addison, und Sjögren, die Multiple Sklerose, die Myasthenia gravis, bestimmte Formen der Zuckerkrankheit, des Lupus erythematodes und der chronischen rheumatolden Gelenkentzündung bis hin zum Krebs: viroinfekto-immunologisch, auto- und allogen, seelisch wie körperlich.

Versagt die westliche Medizin auf diesem Gebiet trotz der Hysterisierung, gibt sie vor aller Welt zu, daß sie technologisch gar nicht hochgerüstet ist oder, und das wäre folgenschwer: daß sie die ihr anvertrauten Probleme, so oder so, nicht zu bewältigen vermag. In einer vergleichbaren Lage ist die Pharmaindustrie, von deren Konzernen wir um so weniger hören, desto »potenter« sie sind. Entweder findet sie etwas, was zehnmal teurer ist als Gold, oder der nächste Nobelpreis für Medizin muß gestückelt unter ihren Angestellten verteilt werden.

Trotzdem konnte der gegenwärtigen Medizin und Pharmatechnik nichts Günstigeres widerfahren als die Aidshysterie in der westlichen Welt. jetzt stehen die Argumente gegen Hochtechnologie auf noch schwächeren Beinen. Die Krankheit Aids kann ohne gentechnologische Forschung und Praxis körpermedizinisch gar nicht mehr aufgeklärt, diagnostiziert und behandelt werden. Sicher ist, daß das Geld für die Aidsforschung zugleich in die »high tech«Medizin investiert wird, vor allem in der Gentechnologie endet.

Wer Geld für die Aidsforschung verlangt, muß wissen, daß er damit zugleich für jene Techniken eine Lanze bricht, die den Menschen partiell und als Ganzes zum Stoff degradieren. Die Dialektik dieses Fortschritts liegt offen. Lichtseite: Es gibt Heilmittel gegen Aids. Schattenseite: Genetische »Fingerabdrücke« sind massenhaft anwendbar und werden mit der Lichtseite abgesegnet.

Unser Forschungsminister hat diesen Zusammenhang seinen Freunden offenbar noch nicht ganz plausibel machen können. Niemand erwartet, daß ein Tornado weniger gebaut wird, obwohl das freiwerdende Geld die hinterm Mond lebenden Universitätskliniken erdrücken würde. Daß die Bundesregierung aber bisher weniger Geld für Aidsforschung und psychosoziale Versorgung bereitgestellt hat als für die Verteidigung ihrer ehemaligen Minister und die fulminante Postwurfaktion, ist in jeder Hinsicht jämmerlich. So bleiben wir weder weltökonomisch noch sozialstaatsillusionär an der Spitze.

Endlich ist Aids auch ein großes und solides Geschäft. Wer allein das Patent an einem sogenannten Aids-Test hält, verdient sich dumm und dämlich. Die USA, auch das sagt Aids aller Welt, haben eine Armee, die 2.200.000 Menschen umfaßt. Sie werden gerade durchgetestet. Der Osten kauft Testmaterial im Hunderttausenderpack, vorsorglich.

Angesichts dieser Lage begreift man, warum sich die selbstlosen Großforscher so schwer tun, im Interesse der ihnen per Eid anvertrauten Patienten zu kooperieren. Müssen sie auf einer Tagung, das gehört schließlich auch zum Geschäft, doch einmal aufeinander treffen, schließen sie sich vorher ihre Aktenkoffer mit den Forschungsresultaten ans Handgelenk.

Man muß ja nicht zu einer inversen »Bild«-Zeituni werden, die am 27. Dezember 1985 einen englischen Arzt für Geschlechtskrankheiten namens John Seale behaupten ließ, die Russen hätten schon unter Chruschtschow »die Züchtungen des Aids-Virus in einem Labor für biologische Kriegsführung begonnen«, weil Aids eine »ideale Waffe zur Vernichtung der westlichen Welt« sei, und nun seinerseits behaupten, die Amis hätten es getan.

Die Tatsache langt, daß wir jetzt alle mit den Gefahren der biomedizinischen Forschung und den Wirkungen sogenannter biologischer Waffen konfrontiert sind. Das ABC ist uns vorbuchstabiert. Erst die C-Waffen, dann Hiroshima und Nagasaki, jetzt ein Blick ins B-Waffenarsenal.

Verständlich, daß die Beunruhigten patente Lösungen verlangen. Gäbe es bei Aids Rezepte für einen ungefährlichen Vollzug, würden sie angesichts einer tödlichen Erkrankung von keinem Arzt verschwiegen werden. Ungefährlich ist jedoch, wie so oft, nur die Abstinenz.

Ich will mich aber nicht um eine konkrete Antwort drücken. Nach den Trends der seriösen Studien und den Äußerungen erfahrener Kliniker scheint es sich um eine spermatogene Infektion zu handeln, das heißt, der Erreger wird durch den Samen übertragen. Offenbar ist eine Makroinokulation erforderlich, das heißt, es muß eine größere Menge des Erregers in den Körper gelangen, möglicherweise mehrfach. Die kleinen Mengen, die eventuell im Speichel oder anderen Sekreten vorhanden sind, reichen ganz offensichtlich zur Infektion nicht aus. Demnach sind Analverkehr und vielleicht auch Mundverkehr mit Samenerguß riskant.

Ob Frauen durch den üblichen Scheidenverkehr von Männern angesteckt worden sind, ist ungeklärt. Ich habe wegen der Falschmeldungen im »Spiegel« und andernorts darauf hingewiesen, daß die Scheide der Frau möglicherweise einen Schutz bietet, weil sie von einem unverhornten Plattenepithel ausgekleidet, folglich unverletzlicher und wahrscheinlich auch undurchlässiger ist als eine Schleimhaut.

Die Übertragung durch Blut ist insofern künstlich, als sie von Drogenabhängigen beim Spritzen oder in der Klinik bei Transfusionen vorgenommen wird. Letzteres kann bei uns Gott sei Dank kaum noch vorkommen, weil so gut wie alle infizierten Blutkonserven beseitigt worden sind. Jetzt ist endlich um das Überleben der Heroinabhängigen zu kämpfen. Sie sind physisch, seelisch, sozial und politisch ganz besonders bedroht.

Ansonsten lautet die unlösbare Aufgabe: sich weder von den Forschern verrückt machen zu lassen, die alles entfesseln, noch von den Hygienikern, die alles sterilisieren, noch von den Naturschützern, die alles verdächtigen.