»Derlei Vorgänge«

Was über den »Spitzentheologen« Joseph Ratzinger zu sagen ist, hat Florian Sendtner bereits in konkret 6/19 geschrieben.

Um es vorwegzunehmen: Der Angeklagte erhielte nach einer Verurteilung aufgrund seines Alters und seiner Gebrechlichkeit Haftverschonung. Dennoch wäre eine Verurteilung für Hunderttausende von Opfern eine Genugtuung, allein aufgrund der Feststellung der Schuld. Nur leider gibt es bis dato kein Gericht, das Joseph Ratzinger der jahrzehntelangen Vertuschung einer Vielzahl weltweiter priesterlicher Kinderschändungen anklagen würde; hätte ein deutsches Gericht den Mumm dazu, würde ein entsprechendes Strafverfahren vermutlich an der vatikanischen Staatsbürgerschaft des Beschuldigten scheitern.

Statt dessen gefällt sich der feine Herr Ratzinger in der Rolle des Anklägers. Er war’s nicht und seine Heilige Kirche erst recht nicht. Wer war’s aber dann? Der Expapst ist um die Antwort nicht verlegen: Die 68er waren’s! Pünktlich zu seinem 92. Geburtstag im April ließ Seine emeritierte Heiligkeit, nach Rücksprache mit dem amtierenden Papst Franziskus, einen theologisch-zeitgeschichtlichen Traktat vom Stapel, der kein Auge trocken lässt: »Zu der Physiognomie der 68er Revolte gehörte, dass nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde.« Es war der Zeitgeist, der die bis dahin tadellose Kirche erfasste und mit sich riss. Die »Revolution von 1968« wollte die »völlige sexuelle Freiheit« erkämpfen – dieser »seelische Zusammenbruch« war der Grund für »derlei Vorgänge«, wie unser Spitzentheologe den massenhaften sexuellen Missbrauch von Kindern durch katholische Priester zu nennen beliebt. Noch Fragen?

Ganz so illusorisch, wie es klingt, ist die strafrechtliche Verfolgung des Herrn Ratzinger nicht. Die französische Justiz hat immerhin bereits versucht, zwei seiner Amtsnachfolger vor Gericht zu zitieren. Im Strafverfahren gegen den Erzbischof von Lyon, Philippe Barbarin, lud das Gericht auch Luis Ladaria, den gegenwärtigen Präfekten der Glaubenskongregation (die oberste Kontrollbehörde der katholischen Kirche, die über den rechten Glauben wacht), und dessen Vorgänger Gerhard Ludwig Müller vor. Ladaria steht im Verdacht, Barbarin angewiesen zu haben, einen vielfachen priesterlichen Vergewaltiger intern zu maßregeln, einen öffentlichen Skandal aber zu vermeiden – was der Anordnung, die Staatsanwaltschaft nicht zu informieren, ziemlich gleichkommt. Ladaria und Müller würdigten das Gericht in Lyon nicht einmal einer abschlägigen Antwort; irgendwann wurde klar, dass sich der Vatikan auf die diplomatische Immunität der beiden Herren beruft. So wurde am 7. März 2019 allein Philippe Barbarin wegen Vertuschung von sexueller Gewalt gegen Minderjährige zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten verurteilt.

Keine Woche später, am 13. März, verkündete ein Gericht im australischen Melbourne das Strafmaß gegen Kardinal George Pell: sechs Jahre Haft wegen sexueller Gewalt gegen zwei Chorknaben. Pell, erst Erzbischof von Melbourne, dann von Sydney, schließlich von Papst Franziskus zum Präfekten des vatikanischen Wirtschaftssekretariats ernannt, hat sich seinen Ruf als rigoroser Moralprediger und rechtsextremer Schwulenhasser redlich verdient; nun ist er der vorerst ranghöchste Katholik, der wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt wurde.

Verständlich, dass Herr Ratzinger Mitte März nervös wurde. Die Einschläge kommen näher. Und in der himmelstürmenden Karriere des »cardinale di ferro« (wie die Italiener ihn vor seiner Erwählung zum Stellvertreter Christi liebevoll nannten, auf Deutsch etwa: Panzerkardinal) hat sich einiges aufgetürmt an einschlägigen Vergehen. Zum Beispiel gibt es da dieses Edikt vom 18. Mai 2001, das nach wie vor auf der Internetseite des Vatikans nachzulesen ist, wenn auch nur auf Lateinisch: »De Delictis Gravioribus«, unterzeichnet von Josephus Card. Ratzinger, Präfekt der Glaubenskongregation. Das Schreiben handelt von »schweren Straftaten«, die »der Glaubenskongregation vorbehalten sind«, und dem arglosen »Mozart der Theologie« (Kardinal Meisner über Ratzinger) ist das Doppelsinnige daran bis heute nicht aufgefallen. Ein »delictum gravius« ist die Entwendung einer geweihten Hostie in sakrilegischer Absicht, das versteht jeder Gläubige sofort, aber auch eine solche Lappalie wie die Vergewaltigung eines Ministranten durch einen Pfarrer. Für beide Kapitalverbrechen dekretiert Seine Eminenz Josephus: »Huiusmodi causae secreto pontificio subiectae sunt.« Sprich: »Fälle dieser Art sind der päpstlichen Geheimhaltung unterworfen.« Pscht! Nicht, dass die Staatsanwaltschaft was spitzkriegt! Das »delictum gravius«, das Joseph Ratzinger 1981 bis 2005 als dem Präfekten der Glaubenskongregation vorbehalten war, lautet: Strafvereitelung im Bischofsamt.

Böse, böse! Haltlose Vorwürfe! In Wirklichkeit war’s ein ganz ein anderer! Wer? Na, der Oswalt Kolle! Zwischendurch wird der greise Expapst in seinem aktuellen Traktat überraschend persönlich: »Ich erinnere mich noch, wie ich eines Tages, in die Stadt Regensburg gehend, vor einem großen Kino Menschenmassen stehen und warten sah, wie wir sie vorher nur in Kriegszeiten erlebt hatten, wenn irgendeine Sonderzuteilung zu erhoffen war.« Im Gegensatz zu den vergleichsweise glücklichen Kriegszeiten bestand die Sonderzuteilung in den verderbten Jahren 1968 ff. nicht in Mehl oder Kartoffeln, sondern in »Sex- und Pornofilmen«. Oder zumindest dem, was ein Ratzinger dafür hält: »Im Gedächtnis ist mir auch geblieben, wie ich am Karfreitag 1970 in die Stadt kam und dort alle Plakatsäulen mit einem Werbeplakat verklebt waren, das zwei völlig nackte Personen im Großformat in enger Umarmung vorstellte.«

Welch schauerlicher Film mag das gewesen sein, der da Sodom und Gomorrha über das katholische Bayern brachte? Es war Oswalt Kolles »Dein Mann, das unbekannte Wesen«. Ratzingers Beschreibung passt messerscharf auf das Plakat, mit dem der Film beworben wurde; sein Deutschlandstart war am 12. März 1970, am 27. März 1970 war Karfreitag. Die allein beim Anblick des Plakats bei Ratzinger bis heute Sturm läutenden Alarmglocken ließen ihn freilich alles andere vergessen: die klassisch-tadellose Haltung des Paars, die mit Arno Breker und Leni Riefenstahl rundum kompatibel und trotz der »völligen Nacktheit« von geradezu vorbildlicher deutscher Sittsamkeit ist; die im Titel implizierte selbstverständliche Voraussetzung der Ehe; die im Aufblicken der Frau zu »ihrem« Mann verewigte Bestätigung des Patriarchats.

Da wurde Ratzinger von der gleichen Panikattacke geritten wie einer der Zensoren der Freiwilligen Selbstkontrolle, der bei den endlosen Verhandlungen über einen Kolle-Aufklärungsfilm den legendären Satz sagte: »Herr Kolle, Sie wollen wohl die ganze Welt auf den Kopf stellen, jetzt soll sogar die Frau oben liegen!«