Nazismus neu bewertet

Deutschland planiert seine Verbrechensgeschichte, um Spielraum für neue außenpolitische Aktivitäten zu gewinnen. Drei Wochen bevor der Bundestag den ukrainischen Teil der sowjetischen Hungersnot der dreißiger Jahre zum »Völkermord« erklärte, hatte Deutschland während der Uno-Jahreshauptversammlung erstmals gegen eine russische Resolution gestimmt, mit der Nationalsozialismus und Rassismus regelmäßig geächtet werden. Eine Glosse von Rolf Surmann

Im Unterschied zur Führungsmacht USA, die das Thema gemäß ihrem Verständnis von Rede- und Organisationsfreiheit gemeinsam mit der Post-Maidan-Ukraine immer schon als Propaganda denunzierte, taten sich die westlichen Verbündeten, speziell die EU und Deutschland, schwer mit dem alljährlichen Uno-Antrag Russlands zur Bekämpfung der Verherrlichung des Nationalsozialismus, des Neonazismus und des Rassismus. Ihr Problem war, dass in diesem Antrag Aspekte der ukrainischen Geschichtspolitik wie die Etablierung des Bandera-Kults und dortige neonazistische Umtriebe angesprochen wurden. Doch hielten sie es bisher für inopportun, sich gegen den Antrag direkt auszusprechen. Deshalb führten sie den einen oder anderen Vorbehalt – etwa Skepsis gegenüber dem Bericht des Uno-Sonderberichterstatters – an, um sich bei der Abstimmung enthalten zu können (siehe konkret 1/22).

Bei der Uno-Jahreshauptversammlung im November 2022 verlief alles anders. Westliche Staaten brachten einen Änderungsantrag zum vorliegenden Entwurf ein, in dem der Krieg Russlands gegen die Ukraine verurteilt wurde. Das ist insofern erstaunlich, weil ein Zusammenhang der Verherrlichung nazistischer Verbrechen und der Tolerierung von heutigem Neonazismus mit dem aktuellen Krieg nicht auf der Hand liegt – es sei denn, man erklärte die Kriegsinteressen zum Maßstab.

Selbstverständlich geht es dem Westen auch jetzt nicht um angemessene Voraussetzungen zur Verurteilung der Nazi-Verbrechen oder gegenwärtiger Nachfolgeaktivitäten. Er nutzt den von Russland verantworteten Krieg lediglich, um seine Klientel von Kritik zu entlasten. Dubiose Statements über Rede- und Organisationsfreiheit oder peinliche argumentative Klimmzüge à la Deutschland werden damit überflüssig.

Die Abstimmung über den Antifaschismus-Antrag in der Uno erbrachte 106 Ja-Stimmen, 51 Gegenstimmen und 15 Enthaltungen. Die westliche Sichtweise ist damit weltweit gesehen eine Minderheitenposition. Das Internetportal »Frag den Staat« richtete deshalb nach der Abstimmung an das Außenministerium die Frage, warum sich die Bundesregierung in der Uno gegen den Antrag ausgesprochen habe. Das Ausbleiben einer ministeriellen Antwort kommentierte man mit den Worten: »Antrag abgelehnt. Es verwundert mich nicht, dass kein Mitarbeiter vom Auswärtigen Amt auf diesen Selbstverrat der Außenministerin eine passende Antwort parat hat.« Vielleicht trifft es den Sachverhalt besser, wenn man das Wort »Selbstverrat« durch den zwar modischen, aber treffenden Begriff »Dekonstruktion« ersetzt.