Das größere Übel

Die Redaktion gratuliert der langjährigen konkret-Autorin Jutta Ditfurth zum 70. Geburtstag. In konkret 6/21 schrieb sie einen Beitrag über die unerträgliche Nützlichkeit der Grünen, der an Aktualität nur noch gewonnen hat.  

Der Kapitalismus, wenn er ungestört fortbestehen will, braucht die Grünen. An der Zuspitzung der Klimakrise ist den moderneren Kapitalfraktionen nicht gelegen. Verdorrtes Ackerland, brennende Wälder, ein Wüstengürtel um die halbe Erde, Überflutungen von Land und Städten: Naturkatastrophen aller Art unterbrechen die Lieferketten, erschweren oder verunmöglichen den Zugang zu Ressourcen und mindern den Profit. Der eine oder andere Hamburger Pfeffersack soll sich inzwischen sogar vorstellen können, dass sein Zweitwohnsitz auf Sylt fortschwimmt. Ein Urlaub auf den Malediven lässt sich ersetzen, aber Sylt!

Die Transformation der kapitalistischen Wirtschaft zugunsten moderner Technologien, von Öl, Kohle und Gas hin zu regenerativen Energieträgern und einer neuen energetischen Infrastruktur in allen Branchen, soll eine moderne Etappe des Kapitalismus einleiten. Das Modewort dafür heißt Green New Deal. Industriebranchen, die sich regenerativen Technologien zuwenden, sollen wirtschaftliche Leitsektoren werden. Der New Deal der 1930er Jahre war die Antwort des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt auf die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die USA. Ein politisches Programm, bestehend aus Wirtschafts- und Sozialreformen, schuf die Grundlagen eines Sozialstaates, erkannte Gewerkschaften an und regulierte – in Maßen – das Banken- und Finanzsystem.

Mit ihrem Green New Deal wollen die Grünen heute nicht etwa die Folgen ihrer Verelendungspolitik während der rotgrünen Bundesregierung (1998–2005) zurücknehmen, sondern den Standort stärken: »Wir wollen, dass Deutschland und Europa auch bei neuen Technologien die Spitze beanspruchen – seien es E-Autos, saubere Batterien, Quantencomputer, künstliche Intelligenz oder moderne Biotechnologie. Mit einer aktiven Wirtschafts- und Industriepolitik zeigen wir eine Richtung auf und bieten zukunftsfähigen Unternehmen gute Bedingungen. So machen wir aus der Marke ›Made in Germany‹ ein Gütesiegel für zukunftsfähige Industrie in einem klimaneutralen Europa« (Wahlprogramm der Grünen, 2021).

Auch eine ökologisch modernisierte kapitalistische Produktion vernutzt, vergiftet und zerstört die Lebensgrundlagen der Menschen und ruiniert das Klima. Kapitalistische Produktion ohne Mehrwertproduktion (Ausbeutung), Profit, Konkurrenz, Überproduktion, Naturverschleiß, Rohstoffverschwendung und Wachstum gibt es nicht – auch nicht mit Windenergieanlagen, künstlicher Intelligenz oder E-Autos.

Für den Übergang braucht es eine Partei mit hoher ökologischer Glaubwürdigkeit, eine unbezahlbare Währung in dieser Krise. Wie gut, dass die Grünen sich in den letzten 30 Jahren alle antikapitalistischen Flausen ausgetrieben haben. Nicht einmal ein Funken Kritik an gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen in Großbetrieben findet sich in ihrem aktuellen Wahlprogramm, in dem auf 132 Seiten das Wort »Kapitalismus« nicht vorkommt. Deutschland nennen sie nur »unser Industrieland«.

Keine Partei kommt in Deutschland an die Regierung, ohne sich mit dem Kapitalismus zu versöhnen und der Nato die Treue zu schwören. Die Grünen haben das in der rotgrünen Bundesregierung längst erledigt. Sie haben Deutschland in einen verschärften Klassenkampf von oben getrieben und den Arbeitsmarkt zerlegt. Heute ist Bundeskanzlerkandidatin Annalena Baerbock »die Favoritin von Führungskräften in der Wirtschaft« (»Wirtschaftswoche«).

Während ihrer Regierungszeit legten SPD und Grüne mit der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen das größte Verarmungs- und Verelendungsprogramm seit 1945 auf. Grundlage der »Reformen« war ein wirtschaftspolitischer Forderungskatalog der Bertelsmann-Stiftung. Die rotgrüne Bundesregierung sprengte das blutig erkämpfte Recht auf sozialversicherungspflichtige und gewerkschaftlich abgesicherte Jobs mit Flächentarifverträgen.

80 Prozent der Delegierten eines SPD-Sonderparteitages stimmten im Juni 2003 dem Leitantrag »Mut zur Veränderung« (Agenda 2010) des Parteivorstands zu. Wie stolz war die grüne Parteispitze, als sie auf ihrem Sonderparteitag sogar 90 Prozent Zustimmung erringen konnte. Aus dieser Politik folgten tiefe soziale Einschnitte: Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf dem Niveau der Sozialhilfe, verkürzte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, Aufweichung des Kündigungsschutzes, Streichung des Krankengeldes aus der gesetzlichen Krankenversicherung, Verlagerung von Kosten für die Sozialversicherung auf die Lohnarbeitenden, Senkung der betrieblichen Lohnnebenkosten, Verschärfung von behördlichem Zwang, Bevormundung und Zumutbarkeitsklauseln für Sozialhilfeempfänger/ innen und Langzeitarbeitslose.

Mit dem »Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung« strich die rotgrüne Bundesregierung im November 2002 viele bisher gewährte medizinische Leistungen. Sie erhöhte den Selbstkostenanteil auch für chronisch Kranke. Die Zuzahlung für Medikamente wurde erhöht, ihre Auswahl eingeschränkt. Wenn man heute Menschen mit Zahnlücken und untauglicher Brille sieht, sollte man an Rotgrün denken. Mediale Propaganda half, die öffentliche Meinung zuzurichten und Kritiker/innen zu marginalisieren. Erwerbslose und Sozialhilfeempfänger/innen wurden herabgewürdigt und gedemütigt, ihre soziale Lage biologisiert (»Unterschichtenfernsehen«, »Schmarotzertum«, »selbst schuld, liegt in den Genen«). Subproletariat und Proletariat wurden aufeinandergehetzt. Die Entsolidarisierung setzte sich so weit fort, bis auch die Letzten in der grünen Basis, die noch ab und an einen fortschrittlichen sozialen Gedanken hatten, zermürbt waren.

Wie groß ist die Reue darüber, so viele Menschen in die Armut getrieben zu haben? Sie existiert nicht. Mit ihrem aktuellen Wahlprogramm wollen die Grünen das Hartz-IV-System nicht abschaffen, sondern es nur »schrittweise« durch eine »Garantiesicherung« ersetzen, die »ohne Sanktionen das soziokulturelle Existenzminimum« sichert. Einen Mindestbetrag geben sie nicht an. Die vielfach gekürzte Rente bleibt auf einem Niveau von 48 Prozent, das Renteneintrittsalter bei 67 Jahren. Der gesetzliche Mindestlohn soll auf nur zwölf Euro steigen, damit die Altersarmut von morgen wohl »garantiert sicher« bleibt. Es gibt auch keine Rücknahme der von SPD und Grünen entfesselten Leiharbeit im Bundestagswahlprogramm.

Die heutigen Grünen reden sich gerne damit heraus, dass all das lange her sei. Heute handele es sich um eine neue Generation, siehe Annalena Baerbock und Robert Habeck. Aber maßgebliche Politiker/innen wie Jürgen Trittin, Renate Künast, Cem Özdemir, Katrin Göring-Eckardt, Claudia Roth und viele andere sind nach wie vor im Amt – manche spekulieren auf einen Ministerposten. Die grünen Nebelbomben Habeck und Baerbock können diese Tatsache nicht verschleiern. Die beiden Parteivorsitzenden sind das Resultat einer Entwicklung der Grünen, wie sie 1999 in einem rechtsgrünen Grundsatzpapier vorgeschlagen wurde: Der »Muff von 20 alternativen Jahren« sei zu entsorgen, die Mitgliedschaft »teilweise« auszuwechseln, mit den »Geschichten von 68« müsse Schluss gemacht werden. Die Grünen sollten zu einer Partei »wie andere auch« werden. »Ohne von der Öffentlichkeit respektierte« Repräsentanten und Repräsentantinnen, denen die Partei vertrauen müsse, gehe das nicht. Abweichende Meinungen zu Krieg oder Sozialstaatszerstörung? Nein! Denn ohne »das notwendige Mindestmaß an Loyalität gegenüber diesen Personen wird sich der Erfolg nicht wieder einstellen«.

Die Unterwerfung hat sich materiell gelohnt. Viele haben in der Partei oder später in der Wirtschaft (vom Tabak- über den Süßwarenkonzern bis zur Atom- oder Pharmalobby ist alles dabei) Karriere gemacht. Und wer an die Spitze dieses Staates will, wie Annalena Baerbock oder Cem Özdemir, hat sich längst um die Aufnahme in traditionsreiche Karrierebünde beworben. Özdemir ist etwa Mitglied der Atlantik-Brücke, eines nichtöffentlichen, demokratisch nicht kontrollierten Vereins, der deutsche und US-amerikanische Kapital-, Staats- und Militärinteressen vermittelt. Diesem Club kann man nicht beitreten, man muss entweder mächtig oder nützlich sein und wird dann eingeladen. 

Baerbock nahm als Covorsitzende der Grünen im Februar 2019 an einem Treffen der Atlantik-Brücke teil. Im selben Jahr wurde sie in das exklusive internationale private Netzwerk The Forum of Young Global Leaders aufgenommen, in dem Manager und Politiker/innen, geschmückt mit Schauspielerinnen und Adligen, ihre Beziehungen pflegen – selbstverständlich alles zum Wohl der Menschheit. Das Forum ist eine Gründung des gleichfalls privaten World Economic Forum (WEF), das sich jährlich in Davos trifft, wo sich die Repräsentanten und Repräsentantinnen Hunderter Weltkonzerne versammeln, die Mitschuld an globaler Armut und an der Klimakatastrophe tragen. Die Ausbildung junger Führungskräfte in der großzügig finanzierten Stiftung dauert fünf Jahre. Schon nach zwei Jahren war Baerbock Kanzlerkandidatin der Grünen in Deutschland.

Baerbock geht ihren Weg in der Schneise, die Joschka Fischer einst schlug. Zu seinem 70. Geburtstag gratulierte sie ihm auf Twitter: »Joschka Fischer hat den Rock ‘n‘ Roll in die Politik gebracht und die Grünen in die Regierungsfähigkeit geführt. Er hat unserer Partei auch viele unbequeme Entscheidungen zugemutet. Aber nur aus Zumutung erwächst Zutrauen und Kraft.« Die Grünen waren einmal eine antimilitaristische und pazifistische Partei. Sie wollten seit ihrer Gründung 1980 bis 1987 die Militärbündnisse Nato und Warschauer Pakt auflösen, einseitig abrüsten und die Bundeswehr auflösen. Aber hinter dem Rücken der pazifistischen und antimilitaristischen Parteimehrheit ließen sich Vertreter/innen des rechten Parteiflügels (Realos) ab 1987 von SPD-Funktionären zu geheimen Treffen einladen, um die Grünen als Regierungspartner zuzurichten und ihnen den Antimilitarismus und Antikapitalismus auszutreiben.

Bei den Grünen initiierten Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit Mitte der 1990er Jahre Auseinandersetzungen über eine mögliche militärische Intervention in Jugoslawien. Deutschland tat alles, um den jugoslawischen Staat zu zerstören. Ein Mittel bestand darin, die internen jugoslawischen Konflikte durch die Anerkennung von Slowenien und Kroatien als eigenständige Nationen durch die CDU/FDP-Regierung anzuheizen. Es kam zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. In den grünen Auseinandersetzungen um die Kriegsfrage griff Cohn-Bendit zur NS-Relativierung, als er 1994 die Situation im belagerten Goražde mit der Lage der Juden im Warschauer Ghetto verglich. Er forderte eine militärische Intervention Deutschlands. Anfangs war seine bellizistische Fraktion klein. 1993 hatte Cohn-Bendit auf einer Bundeskonferenz gebrüllt, man müsse Truppen nach Bosnien schicken, denn die bosnischen Muslime seien »Teil der europäischen Kultur« und »Menschen von unserem Blut«. In schrieb ich 1994: »Es gibt keine andere deutsche Partei, der es gegenwärtig vergleichbar erfolgreich gelingen könnte, einen skeptischen, ökologisch angehauchten und sozial noch nicht vollends skrupellosen Teil der Mittelschicht in die herrschende Politik einzubinden und mitzuziehen: heim ins Reich, notfalls in den Krieg.« Ich erntete Wut und Ungläubigkeit.

Es ging im Jugoslawien-Konflikt um die Zerschlagung des letzten nicht-stalinistischen sozialistischen Staates in Europa, um geostrategische Interessen, den ungestörten Zugang zu Ressourcen in Asien und um eine Machtdemonstration der Nato ohne UN-Mandat. Wäre eine CDU/FDP-Regierung in den Krieg gezogen, die deutschen Straßen wären von grünen und sozialdemokratischen Friedensdemonstranten verstopft worden. Allein die Grünen konnten – gemeinsam mit der SPD – die halblinken und alternativen Wähler/innen auf Kriegskurs bringen. Nur sie konnten die »Nie wieder Krieg«-Haltung schleifen. Nur Alt-68er Fischer konnte mit schmerzverzerrtem Gesicht brüllen, dass der Kosovo wie Auschwitz sei. Ein Außenminister Hans-Dietrich Genscher wäre dafür ausgelacht worden.

Die meisten Wähler/innen wollten noch im September 1998 glauben, dass die Grünen niemals einen Krieg gutheißen würden. Da waren die Außenpolitiker der USA schon weiter: »Die Grünen sind für uns keine unbekannte Größe, und Fischer (ist) keine Überraschung.« Man habe die Grünen in Bildungs- und Besuchsprogrammen gut kennengelernt. »Mr. Fischer« zeige wachsenden Respekt für die Nato, und »die Geschichte von Mr. Fischers Leben sowie der Machthunger der Grünen 20 Jahre nach ihrer Gründung legen nahe, dass er für einen Kompromiss empfänglich sein wird«. Aber: »Kann er die Grünen liefern?« Tatsächlich stimmten Gerhard Schröder, der designierte Bundeskanzler, und Joseph Fischer, der designierte Außenminister, bei einem Besuch in Washington am 9. Oktober 1998 dem geplanten Krieg gegen Jugoslawien zu – bevor sie vereidigt wurden, bevor der Bundestag entschied und ohne UN-Mandat.

In nur zwei Wochen legte die grüne Bundestagsfraktion ihre Kriegsgegnerschaft ab wie einen schmutzigen Mantel und fasste einen Vorratsbeschluss, beim geplanten Krieg dabei zu sein, wenn USA und Nato ihn für notwendig hielten. Die Nato verfügte damit über eine rotgrüne deutsche Kriegsregierung auf Abruf. Sechs Monate später tönte Außenminister Fischer im Stahlgewitter-Sound des von ihm verehrten Ernst Jünger: »Die Grünen wollen regieren, jetzt werden sie gehärtet – oder zu Asche verbrannt.« Am 24. März 1999 bombardierte die Nato Jugoslawien. 78 Tage Krieg, 38.000 Lufteinsätze, 9.160 Tonnen Bomben. In 100 Flügen mit A-10-Kampfflugzeugen feuerte die Nato rund 31.000 Geschosse mit insgesamt zehn Tonnen abgereichertem Uran auf Jugoslawien ab. Menschen starben auf Wiesen, in Häusern, in Zügen, auf der Flucht, in Krankenhäusern, Fabriken, Studentenwohnheimen und Schulen. Die Nato erklärte sich zum Weltkriegsbündnis. Von den Grünen kam kein Widerspruch mehr.

Im November 2001 beschloss der Bundestag im »Krieg gegen den Terror« und im Rahmen der Operation Enduring Freedom, 1.200 Bundeswehrsoldaten in ein Land zu schicken, das Deutschland nicht angegriffen und dem es den Krieg auch nicht erklärt hatte: Afghanistan. Bundeskanzler Schröder verknüpfte die Zustimmung zum Kriegseinsatz am 16. November mit der Vertrauensfrage. Die rotgrüne Mehrheit war knapp. Mit einem Nein zum Krieg wären all die netten grünen Minister-, Staatssekretärs- und sonstigen Posten futsch gewesen. Acht grüne Abgeordnete waren gegen den Kriegseinsatz in Afghanistan. Nur vier Grüne durften dagegen stimmen, um die Regierungsmehrheit nicht zu gefährden. Das Lager der Gegenstimmen organisierte Hans-Christian Ströbele. So konnte er in nachfolgenden Wahlkämpfen als Kriegsgegner auftreten.

Niemand kann wissen, ob Regierung, Kapital und Militär in der kommenden Wahlperiode einen Krieg unter deutscher Beteiligung für notwendig erachten werden. Können die kapitalistische Verwertung von Mensch und Natur und die Durchsetzung der Interessen des deutschen Standorts auch ohne Krieg, also allein mit ökonomischen und propagandistischen Mitteln ermöglicht werden, wird er nicht nötig sein. Aber eines ist sicher: An den Grünen werden künftige Militäreinsätze oder umfangreiche neue Sozialstaatskürzungen, die etwa mit den Folgen der Corona-Pandemie begründet werden, nicht scheitern. Ihr Rückgrat ist längst gebrochen.

Von Jutta Ditfurth ist zuletzt das Buch Haltung und Widerstand. Eine epische Schlacht um Werte und Weltbilder (Osburg Verlag) erschienen