Der Q

Eine Verschwörungserzählung, in deren Zentrum der US-Präsident steht, gewinnt derzeit an Popularität. Was hat es mit der QAnon-Bewegung auf sich? Von Veronika Kracher

Zeit seines Lebens war der Verschwörungsideologe Opfer einer tauben, blinden und stummen Mehrheitsgesellschaft, die unfähig ist, die Wahrheit zu ertragen. Kaum deutet man auch nur an, dass die US-Regierung hinter den Anschlägen vom 11. September stecke, die Rothschilds für den Holocaust verantwortlich seien, Merkel eigentlich von Hitler abstamme oder Reptiloiden die Weltgeschicke steuern, wird man von der ignoranten Masse verlacht und als Spinner abgetan.

Doch diese Zeiten sind vorbei. Man ist kein lächerlicher Irrer mehr, sondern Kämpfer in einem globalen Krieg gegen die satanistischen, pädophilen Eliten des »Deep State«, einem Krieg, den kein Geringerer als der US-Präsident Donald Trump persönlich anführt. So geht zumindest die Erzählung von Anhängern der rechtsradikalen Verschwörungstheorie QAnon, die inzwischen aus den schattigeren Ecken des Internets – von Portalen wie 4 Chan und 8 Kun – in den gesellschaftlichen Mainstream einsickert. Wie die Analyseplattform »Media Matters« in einer Anfang Juli veröffentlichten Recherche aufgedeckt hat, rekurriert nicht nur Trump in Retweets auf die Verschwörungserzählung – laut einer Recherche der »New York Times« verbreitete er 2019 via Twitter über 140 Mal Accounts, die auf QAnon verwiesen –, sondern auch mindestens 60 Kandidaten für die Kongresswahl 2020. Der Sänger Robbie Williams nahm kürzlich in einem Video Bezug auf Versatzstücke der Verschwörungstheorie, und auch in Deutschland hat QAnon populäre Vertreter, zu denen etwa der vegane Möchtegern-Samurai Attila Hildmann und der in Ungnade gefallene Talentshowjuror Xavier Naidoo zählen. Dass es sich bei beiden um Galionsfiguren der Bewegung gegen die Anti-Corona-Maßnahmen handelt, ist kein Zufall.

Mit einem freundlichen »Willkommen im globalen Krieg« wird der Wahrheitssuchende empfangen, wenn er die QAnon-Seite des Imageboards 8 Kun öffnet. 8 Kun ist der Nachfolger von 8 Chan, jener Seite, auf der die Attentäter von Christchurch, Poway und El Paso ihre antisemitischen und rassistischen Manifeste veröffentlichten, weswegen die Plattform vom Netz genommen wurde. In Sachen Menschenfeindlichkeit steht 8 Kun seinem Vorgänger keineswegs nach.

Du betrittst jetzt den Geist von »Patriots worldwide«, und wir heißen Dich in unserem Kampf willkommen. Seit Ende 2017 hat uns Q Clearence Patriot, eher bekannt als Q, damit beauftragt, Geschehnisse und Beweise weltverändernder Umstände, die gerade geschehen und noch geschehen werden, zusammenzutragen. Wir sind anonym; wir sind Deine Freunde, Deine Familie, Deine Mitarbeiter als auch Fremde. Genau wie Du wissen wir, dass etwas falsch ist mit der Welt um uns herum. Wie Du haben wir den Wunsch nach einer Welt, die zum Frieden gelangt. Und wie Du finden wir uns an der vordersten Front der Informations-Kriegsführung. Wir stehen für Wahrheit. Willst Du dem Kampf beitreten? Wirst Du den Tiefen des Unbekannten mit Tapferkeit und Mut trotzen? … Gemeinsam sind wir unaufhaltsam! Vereint sind wir unbesiegbar! Zeige keine Angst, da jetzt die Zeit ist, dass wir, das Volk, den letzten Widerstand in diesem Kampf zwischen Gut und Böse leisten! Liebe wird siegen!

Dieser Jargon ist erstaunlich dramatisch und emotional aufgeladen für eine Plattform wie 8 Kun, die sich sonst eher durch Zynismus und Nihilismus auszeichnet. Aber QAnon ist auch keine reguläre Verschwörungsideologie, sondern vielmehr ein Kult, dem inzwischen gleichermaßen evangelikale Christen, Neonazis, Incels, Online-Trolle und Maga-Boomer angehören. Seine Ursprünge lassen sich auf das Jahr 2016 datieren: Am 4. Dezember jenes Jahres lud der gottesfürchtige Familienvater Edgar Maddison Welch mehrere Waffen in seinen Toyota Prius und fuhr die etwa 400 Kilometer von seinem Haus in North Carolina nach Washington D. C. Sein Ziel war die Pizzeria Comet Ping Pong. Im Keller des Restaurants, so Welchs feste Überzeugung, würden hochrangige Mitglieder der Demokratischen Partei Kinderhandel betreiben. Er schoss um sich, brach eine Tür auf und musste feststellen, dass die Pizzeria nicht über einen Keller verfügt. Verletzt wurde glücklicherweise niemand, da sich sowohl die Gäste als auch das Personal rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Welch, der Anhänger der sogenannten »Pizzagate«- Verschwörung ist, ohne die sich QAnon nicht denken lässt, wurde zu vier Jahren Haft verurteilt.

»Pizzagate« war ein wichtiger Teil einer Schmierenkampagne der Anhänger Donald Trumps gegen die damalige demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton. Ins Werk gesetzt wurde die Kampagne unter anderem sowohl von Wikileaks, der rechtsextremen Verschwörungsseite »Info Wars« und deren Host Alex Jones, einem der führenden amerikanischen Verschwörungsideologen, als auch dem rechten Nachrichtendienst »Breitbart«. Clinton wurde beispielsweise als lesbische Päderastin dargestellt, die gemeinsam mit ihrem Ehemann, weiteren Parteikollegen als auch dem Lieblingsfeind der weltweiten Rechten, George Soros, Kinder missbrauchen würde. Und da ihr Kampagnenmanager John Podesta in geleakten Mails das Restaurant Comet Ping Pong erwähnte, kamen die eifrigen Beobachter zu dem Schluss, dass dort Sexualverbrechen an Kindern verübt werden mussten; Begriffe wie Pizza oder Pasta seien demzufolge Chiffren für Jungen und Mädchen.

Der erste eigentliche QAnon-Post wurde im Oktober 2017 auf 4 Chan veröffentlicht. Ein User mit dem Namen »Q Clearance Patriot« behauptete in einer Nachricht, dass Hillary Clinton am 30. Oktober inhaftiert werden würde, woraufhin Volksaufstände ausbrechen und die Nationalgarde eingesetzt werden würde. Dass nichts davon eintraf, hielt den von seinen Fans schlicht »Q« genannten Verfasser des Postings nicht davon ab, in regelmäßigen Abständen weiter aus kryptischen Chiffren, numerologischen Verweisen und rhetorischen Fragen bestehende Texte zu publizieren.

Die QAnon-Gläubigen sind besessen von der Phantasie, dass der Staat, Geheimdienste, das Militär und Politiker, organisiert in einem »Deep State«, von Grund auf korrupt und pervers seien, satanistische Kinderschänder, die auch nicht davor zurückschrecken würden, sich mit dem Blut von Kindern selbst zu verjüngen. Hier bedient man sich, wie im Grunde in allen Verschwörungsideologien, antisemitischer Stereotype: der Jude als Vergewaltiger, Kindermörder und Blutsauger. In einem Video wendet sich der Attentäter von Hanau an die US-amerikanische Bevölkerung und warnt eindringlich, dass die CIA in Kellern Kinder in satanischen Ritualen foltern und töten würde – ein Bezug auf QAnon.

Über die Jahre hat Q zahlreiche Anhänger/innen gewonnen, die jedes seiner Postings eifrig diskutieren. QAnon-Jünger begreifen die Zahlenrätsel und Chiffren, die oft ausgesprochen vage sind, als Brosamen, die man auf dem Weg zur Wahrheit auflesen müsste, um immer weiter zu den dunkelsten Geheimnissen des »Deep State« vorzudringen. Q gibt sich als ein Whistleblower aus dem innersten Kreis der US-Sicherheitsbehörden aus, dessen in verschlüsselter Form verstreute Informationen, werden sie dechiffriert, zur Wahrheit führen würden. »Trust the Plan«, ist eine ständig wiederholte Formel von QAnon.

»Die Wahrheit« steht ohnehin bereits fest: Die Eliten sind pädophil, korrupt, und sie verfolgen finstere Pläne. Jedes neue Puzzleteil fügt sich ein ins paranoide Weltbild. Was gegen die Verschwörer zu unternehmen sei, steht auch fest: Donald Trump ist der Erlöser, der ordentlich aufräumen wird, der Retter Amerikas, ja der Welt, die letzte Bastion im Kampf gegen Kulturmarxismus und Moderne. Auf seinen Wahlkampfveranstaltungen und bei rechten Demonstrationen tragen Teilnehmer/innen Schilder mit Referenzen auf den Onlinekult.

Unter dem inzwischen zum Code avancierten Kürzel »WWG1WGA« (»Where we go one, we go all«) phantasieren sich die QAnon-Anhänger als Teil einer Schattenarmee, einer »Armee der Patrioten« im geheimen Krieg gegen den »Deep State«. QAnons Rhetorik spielt mit Assoziationen von Krieg und Apokalypse: Man »holt sich das Land zurück«, der momentane Zustand sei »die Ruhe vor dem Sturm«: »Niemand kann stoppen, was kommen wird. Das Große Erwachen ist weltweit. Gott siegt!«, so QAnon im April 2020. Der QAnon-Jünger ist also nicht etwa ein gewöhnlicher Loser, der ungewaschen am Rechner hängt und die fettigen Finger am Anime-Shirt abwischt, sondern potentieller Held in einer heiligen Schlacht zwischen Gut und Böse. Auch zahlreiche Evangelikale, ein fester Bestandteil von Trumps Wählerbasis, hängen QAnon an, gerade auch wegen des eschatologischen Moments der Glaubenssätze der Bewegung. Dass Trump selbst in einem Pressemeeting von der »Ruhe vor dem Sturm« sprach, wurde von der Fanbase entsprechend begeistert aufgenommen.

Die QAnon-Verschwörungsideologie ist eine Form konformistischer Rebellion. Ihre Anhänger/innen imaginieren eine von der als jüdisch konnotierten Elite beherrschte Welt, in der die Mehrheit mit Hilfe der linksliberalen Propaganda des Kulturmarxismus in hörige Schäfchen verwandelt wurde. Anders der QAnon-Gläubige: Er zählt zu den unerschrockenen Wahrheitssuchern. Das Ordnen des Buchstabensalats der QAnon-Postings gibt ihm den Kick, einer ganz großen Sache auf der Spur zu sein. Nüchtern betrachtet handelt es sich hier um eine Massenpsychose paranoider Antisemiten, die ihre eigenen Vernichtungsphantasien pathisch in die Welt projizieren. Der neoliberale Kapitalismus ist ihnen nicht geheuer, vor radikaler Kapitalismuskritik schrecken sie jedoch erst recht zurück, weil sie sich am Ende doch mit Haut und Haaren der Herrschaft des Bestehenden verschrieben haben. Für die eigene Ohnmacht und die Angst vor dem Verlust von Privilegien sind die üblichen Verdächtigen verantwortlich: Marxismus, Feminismus, Judentum.

Auch das Corona-Virus wird zu einer Erfindung des »Deep State« erklärt. Die Bevölkerung solle dadurch verunsichert und besser kontrollierbar werden. Die QAnon-Ideologie verbreitet sich derzeit innerhalb der »coronakritischen« Szene wie das Virus auf einer Après-Ski-Party in Ischgl. Attila Hildmann, selbsternannter Frontkämpfer der Meinungsfreiheit, meldet über seinen Telegram-Kanal: »Der Wahlkampf von Trump muss unser Wahlkampf sein! Die QAnon-Bewegung muss sich mit der deutschen Friedensbewegung verbünden!« Schnittmengen gibt es leider genug.

Im September erscheint Veronika Krachers Buch Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults (Ventil-Verlag)