Hinter Gittern

Als die Stadt Göttingen einen Hochhauskomplex an der Groner Landstraße 9 abriegelte, war das Virus nur der vorgeschobene Grund. Von Stefan Walfort

Hauptsache, dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD) schmeckt seine Currywurst. Möge sie von Tönnies sein, hofft man als Bewohner des Hochhauses, das der Göttinger Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD) nach Bekanntwerden von etwa 100 positiv ausgefallenen Tests auf das neuartige Coronavirus unter Vollquarantäne stellte.

Am 18. Juni 2020 war es soweit: Mit Verweis auf eine Allgemeinverfügung verwandelte die Stadt das Gebäude im Handumdrehen in einen Knast. Ein Bauzaun ringsherum, bewacht durch Mitarbeiter/innen des Ordnungsamts und eines privaten Sicherheitsdiensts sowie durch ein Großaufgebot der Polizei, sorgte dafür, dass fünf Tage lang niemand von den Bewohnern und Bewohnerinnen sich vom Gelände entfernte – so lange, bis man (Rachenabstriche, entnommen in einem mobilen Testzentrum vor Ort) zwei negative Testergebnisse vorweisen konnte.

Nach Presseschätzungen wohnen in dem Gebäude etwa 700 Menschen, darunter viele Rom*nja, Drogenabhängige und Prekarisierte. Es blieben nach den 100 positiv Getesteten also 600 Menschen übrig, von denen man erst mal hätte annehmen können, dass sie keine konkrete Gefahr für die Gesundheit ihrer Mitmenschen darstellen. Mit der Abriegelung erweckten die Verantwortlichen (neben Köhler die erst kurz zuvor aufgrund von Rassismus gegenüber Bewohnern und Bewohnerinnen eines ähnlichen Wohnkomplexes in die Kritik geratene Sozialdezernentin Petra Broistedt) stattdessen den Eindruck, alle, die an der Groner Landstraße 9 wohnen, hielten sich pauschal nicht an Hygienevorschriften, daher müsse der paternalistische Staat eingreifen. 600 Menschen behandelte die Stadt Göttingen mit Paragraf 28 des Infektionsschutzgesetzes als »Ansteckungsverdächtige«, was den Freiheitsentzug in diesem bis dato ungekannten Ausmaß legitimierte und nebenbei Stereotype, vor allem gegen Rom*nja, bediente.

Die Gefahr, sich innerhalb des Hauses nun erst recht zu infizieren, nahmen Köhler und Broistedt in Kauf: Konnten sich Bewohner und Bewohnerinnen zuvor noch wunderbar aus dem Weg gehen, so entstand jetzt auf dem Gelände eine Enge, die ein höheres Ansteckungsrisiko mit sich brachte - vor allem vor einer Essensausgabe und einem »Infopoint« des städtischen Krisenstabs (statt Informationen gab es hier Beschwichtigungsversuche und ein Abschieben der Verantwortung auf andere Institutionen).

Ansammlungen von Menschen mit mehrheitlich dunkler Haar- und Augenfarbe hinter Zäunen vor der schmierig-grauen Außenfassade des Hauses lichteten Teile der Presse begierig ab. Die Berichterstattung trug so ihren Teil zur Konstitution eines xenophoben und klassistischen Diskurses bei, der seitdem die Kommentarspalten und Social-Media-Kanäle dominiert. Infolge all dessen machte sich das Gefühl breit, als Bewohner des Hauses gehöre man selbst nicht zur schützenswerten Bevölkerung und sei vollkommen rechtlos.

Zudem war die Versorgung mit Nahrungsmitteln defizitär. Das Nötigste besorgten freiwillige Helfer/innen und linke Aktivisten und Aktivistinnen. Sie kümmerten sich auch um die Dokumentation von Machtmissbrauch und Willkür gegen Bewohner/innen und Unterstützer/innen. Ordnungsamt und Security unterbanden zum Beispiel wiederholt Gespräche unter Freunden und Freundinnen von einer Zaunseite zur anderen.

Am 20. Juni trat die Polizei zunehmend repressiv, behelmt und mit Knüppeln im Anschlag, gegenüber den dank der mangelhaften Informationspolitik und der miserablen Versorgung in Rage geratenen Bewohner/innen auf. Pfefferspray als Reaktion, auch gegen Kinder, hielt der Polizeipräsident Uwe Lührig für »absolut gerechtfertigt«, wie er auf einer Pressekonferenz am nächsten Tag betonte, und Zyniker Stephan Weil fiel nichts Besseres ein, als »zufrieden« in der Polizeikantine rumzulungern, Currywurst mit Pommes in sich hineinzuschaufeln und in die Kameras der Lokalpresse zu schmatzen, wie großartig doch das Krisenmanagement von Stadt und Polizei gewesen sei – freilich ohne sich selbst einmal an der Groner Landstraße 9 blicken gelassen zu haben.

Der Umgang seitens Presse und Politik und einer autoritätshörigen Teilöffentlichkeit mit den Menschen an der Groner Landstraße 9 war ein Paradebeispiel für das, was der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal in seinem Buch Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung (Suhrkamp) als »definitorische Gewalt« bezeichnet. Anhand diverser Schriftquellen, Dramen, Lyrik und Belletristik untersucht Bogdal, wie Ressentiments gegenüber Rom*nja Eingang ins kollektive Gedächtnis fanden und welche Zerrbilder sich dafür besonders eigneten.

Er konstatiert schon für das »15. Jahrhundert (ein)en rigiden sozialen Ausschluss durch die Zuordnung zur untersten sozialen Schicht, zu den sogenannten Gaunern und Bettlern« und klärt über eine handfeste Gefahr auf, die solchen Stereotypen innewohnt, haben sie sich erst in der Breite etabliert: die Gefahr einer Präventivschlaglogik, mit der Übergriffige ihre Gewalt legitimieren. So sind in Texten der Frühen Neuzeit bereits »ungehemmte Ausgrenzungs- und Vernichtungsphantasien« nachweisbar. Ihre Brisanz nimmt zu, je dämonisierender Stereotype im Lauf der Zeit daherkommen. So unterstellt man Rom*nja seit dem späten 17. Jahrhundert vermehrt, todbringende Krankheiten zu verbreiten. Daraufhin erlauben sogenannte »Zigeuneredikte … den Behörden vom Dorfamtmann bis zur Landesregierung auf einer Stufenleiter immer schärfer werdender Strafen konkretes Handeln, bis das eigentliche Ziel, die Tötung, erreicht ist«.

Die Abwertung von Bewohner/innen der Groner Landstraße 9 steht also in mörderischer Tradition. Wen wundert es da, dass unter Youtube-Videos schon die ersten Kommentare dazu auffordern, eine Bombe ins Gebäude zu schleudern? Die Verantwortlichen in Stadt und Bundesland feiern derweil ihren vermeintlichen Erfolg bei der Pandemiebekämpfung. Für die Betroffenen vom 18. Juni steht zu befürchten, dass auch künftig auf ihre Rechte gepfiffen werden wird.

Stefan Walfort studiert an der Uni Göttingen Neuere Deutsche Literatur. Er wohnt seit sechs Jahren an der Groner Landstraße 9 und war vom 18. bis 22. Juni auf dem Gelände des Hauses eingesperrt.