Mit dem Schöpfungsbericht unterm Hosenträger

Am 23. April ist Norbert Blüm, Ex-Arbeitsminister und "das soziale Gewissen der CDU" (Deutschlandfunk), gestorben. In konkret 4/1985 schrieb Wolfgang Schneider über Ideologie und Praxis des Blümschen Um- und Abbaus des Sozialstaats.

 

»Wenn ich den Nationalökonomen frage: Gehorche ich den ökonomischen Gesetzen, wenn ich aus der Preisgebung, Feilbietung meines Körpers an fremde Wollust Geld ziehe (...), so antwortet mir der Nationalökonom: Meinen Gesetzen handelst du nicht zuwider, aber sieh dich um, was Frau Base Moral und Base Religion sagt; meine nationalökonomische Moral und Religion hat nichts gegen dich einzuwenden, aber – wem soll ich nun mehr glauben, der Nationalökonomie oder der Moral?«  

(Karl Marx, 1844)
 

I
 

»Ein Freudenhaus ist keine Einrichtung zur Übung der Sittlichkeit.«  

(Norbert Blüm, 1967)
 

Dem christlichen Gewerkschafter, Vorsitzenden der CDU-Sozialausschüsse und Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Norbert Blüm geschieht Unrecht. Dauernd wird er mißverstanden. Kaum jemand scheint ihn mehr so recht ernst zu nehmen. Beim Januar-Politbarometer des ZDF bildete er mit 0,1 »Beliebtheits«-Punkten das traurige Schlußlicht der CDU-Bundesriege, und Anfang Februar wurde er in Aachen gar zum 36. Ritter des Ordens »Wider den tierischen Ernst« geschlagen. Seine Gewerkschaftskollegen laufen mit merkwürdig anachronistischen Transparenten durch die Gegend: »Blüm entscheide dich für uns oder's Kapital!«, oder trampeln mit persönlichen Briefen in seiner Biographie herum: »Wir haben ihn an alte Zeiten erinnert; daran wo er hergekommen ist. (. . .) Und daß wir eigentlich aufgrund seiner christlichhumanen, familiären und gewerkschaftlichen Herkunft so etwas nicht erwartet hätten« (Rolf Petri, IGM, Mitglied des Betriebsrats bei Opel Rüsselsheim). Auch die Damen und Herren von der Opposition haben's immer noch nicht begriffen und verlangen von ihm fortwährend, was gar nicht seines Amtes ist: »Untätigkeit« hat Anke Fuchs ihm vorgeworfen, und daß seine Gesetze die Arbeitslosigkeit nicht verringern würden, darüber beklagen sich beinahe täglich ihre Parteigenossen.  

Norbert Blüm kann dennoch zufrieden sein. Selbst die Empörung, mit der in den letzten Wochen auch einige seiner Freunde aus den Sozialausschüssen auf zwei seiner Vorschläge reagierten, offenbart, wie tief das allgemeine Vorurteil sitzt, er habe im Verlauf seiner politischen Karriere eine persönliche Moral ausgebildet, die ihn zum Streiter für Arbeiterinteressen prädestiniere und an die er lediglich ab und zu erinnert werden müßte. Denn das – relativ zu den bisherigen Maßnahmen seines Hauses – größte Manko dieser veröffentlichten Überlegungen bestand darin, daß er sie zur Unzeit wiederholte.

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Wiedereinführung der Samstagsarbeit? Das hat Blüm schon im Juli 1979 gefordert. Bereits damals hat er jene skurrile Begründung formuliert – »Samstags sind die Schwimmbäder überfüllt, montags dagegen stehen sie leer« – die ihm nun, da er sie in der »Bild«Zeitung wiederholte, sogar einen derben Rüffel und einige schmerzhafte Belehrungen von einer Seite eintrug, deren Interessen er mit seinen weitreichenden Arbeitszeit-Flexibilisierungsstrategien besonders gründlich vertreten zu haben glaubte. Unter der Überschrift »Blüms Rohrkrepierer« dozierte das »Handelsblatt«: »Schon bei gegebenen Laufzeiten stoßen die Maschinen mehr aus, als verkauft werden kann. Längere Laufzeiten bedeuten für viele Branchen nur größere Überproduktion. (...) Die Arbeitszeit ist nämlich auch eine Folge der Produktionsverhältnisse.«  

Nun ja, Blüm hat halt nicht Nationalökonomie, sondern u.a. Theologie studiert. Aber wenn auch das Timing seines Statements lausig war – an Kontinuität und Zweckhaftigkeit seines sozialpolitischen Programms sollte nicht gezweifelt werden. Da hat der »Spiegel« völlig recht: »Norbert Blüm ist ein prinzipientreuer Mann«.

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Ähnliches gilt für seinen neuerdings mit Kopfschütteln aufgenommenen Vorschlag, ab 1990 das Rentenalter über die 63er oder gar 65er Marke hinauszuschieben, um dergestalt die angeblich überforderte, in Wahrheit durch den Bund geplünderte, Rentenkasse doppelt zu entlasten: durch längere Beitragsfristen und kürzere Auszahlungszeiten. In der Presse hagelte es Proteste, die sämtlich behaupten, einen Widerspruch ausmachen zu können zwischen der Blümschen Propaganda der Jahre 83/84 für einen Vorruhestand ab 59 bzw. 58 Jahren und seinem lauten Nachdenken über eine Erhöhung des Rentenalters im Februar dieses Jahres.  

Dieser Widerspruch existiert nicht: Die Vorruhestandsregelung sollte von Anfang an auf wenige Jahre beschränkt bleiben (beim 59er-Vorschlag sollte sie lediglich für die Jahrgänge 1925-1929 gelten). Diese Terminierung - entsprach einerseits dem polit-strategischen Kalkül der Vorruhestandseinführung (nämlich der Torpedierung der Gewerkschafts-Forderung nach einer 35-Stunden-Woche), andererseits sowohl dem krisenkonformen Umgang mit aktuellen Arbeitsmarktentwicklungen als auch den optimistischen Annahmen über einen raschen Rückgang der Massenarbeitslosigkeit. Norbert Blüm 1983: »Die Regelungen (zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit) könnten, wenn in späteren Jahren die Arbeitsmarktlage anders aussähe, wieder zurückgenommen werden.«  

Die seitherige Verschärfung der »Arbeitsmarktlage« macht derartige Überlegungen vorläufig noch zu Makulatur. Grundsätzlich aber folgen sie – wie auch die Propagierung einer zunehmenden Abkopplung von Maschinenlaufzeit und individueller Arbeitszeit – dem zentralen Ziel der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Bundesregierung: den Einsatz der Arbeitskraft nach Maßgabe kapitalrationaler Kriterien zu organisieren, d.h. zu verbilligen und möglichst mobil zu halten.  

So konsistent die Blümsche Politik in sich ist, so unverträglich sind die Konsequenzen ihrer Durchführung mit dem ideologischen Gerüst, das sie vermeintlich trägt. Blüm steht da vor einem Problem, dem sich alle konservativen Sozialpolitiker kapitalistischer Industriegesellschaften konfrontiert sehen, nämlich: den »Kapitalismus als materialistisches Modell – kalt, wertschöpfend und nicht wertorientiert« (Blüm) oberflächlich zutreffend beschreiben, spezifische, aus diesem Befund resultierende individuelle wie gesellschaftliche Defiziterfahrungen kritisieren und konkrete Kompensationsprogramme formulieren zu können, gleichzeitig aber eine »wertschöpfungsorientierte« Politik betreiben zu müssen, die nicht nur die vorgeschlagenen Kompensationsprogramme unterläuft, sondern darüberhinaus den Bereich jener individuell/gesellschaftlichen Defiziterfahrungen erheblich ausdehnt, die zuvor am heftigsten beklagt wurden.  

Entsprechend lautet die Blümsche Aufgabenstellung: Wie kann ich mit Hilfe meiner Sozialausschußrhetorik (Solidarität mit den »sozial Schwachen«; Plädoyer für die heile Welt »kleiner Gemeinschaften«: Familie, Schule, Nachbarschaft, Betrieb) eine politische Praxis begründen, die sich bemüht, das Programm des CDU-Wirtschaftsrats möglichst komplett und möglichst rasch zu verwirklichen, also den »volkswirtschaftlichen Modernisierungsprozeß« mit Perspektive auf »Effizienz, Leistung, Mobilität, Flexibilität« zu beschleunigen, ohne damit die favorisierten lobbylosen Randgruppen, Leistungsschwachen und Hilfsbedürftigen zu beuteln und ihren Einzugsbereich wesentlich zu erweitern? Ersichtlich geht das nicht zusammen.  

Heiner Geißler hat daher die gleiche Aufgabe ein wenig anders formuliert: »Die Menschen sind bereit Opfer zu bringen, aber wir müssen sie davon überzeugen, daß diese Opfer einen Sinn haben.«

II

 

»Praxis schafft Wahrheit.«  

(Norbert Blüm, 1903)
 

Getragen von einer »gottbegnadeten Gelassenheit, geboren aus der Zuversicht, daß Leben nicht alles ist«, hat Norbert Blüm begonnen, ein sozialpolitisches Programm zu realisieren, von dem er zutreffend annimmt, daß es »nicht nur was mit Geld zu tun (hat), sondern auch mit der Organisation der Gesellschaft«: »Warum sollten Christen nicht mit von der Partie sein, die Welt ihren Idealen etwas näher zu bringen?« Einige Züge der Blümschen »Partie«:


1.
Schon die sozialliberale Koalition hatte im Rahmen ihres Arbeitsförderungskonsolidierungsgesetzes 1982 versucht, durch drastische Kürzungen vor allem im Bereich der Arbeitslosenversicherung die infolge wachsender Massenarbeitslosigkeit steigenden Defizite dieses Versicherungszweiges (»Staatshaftung«!) auszugleichen. So wurden etwa

· die Anwartschaftszeiten für den Anspruch auf Arbeitslosengeld von 6 auf 12 Monate verlängert;

· die Sperrzeiten von 4 auf 8 Wochen heraufgesetzt;

· die Zumutbarkeitsbedingungen verschärft;

· der Beitragssatz zur Bundesanstalt für Arbeit heraufgesetzt;

· Kindergeld, BaföG, Mutterschaftsgeld, Wohngeld, Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe, Krankenversicherungsleistungen und Förderung der beruflichen Bildung zusammengestrichen.

Unmittelbar nach dem Regierungswechsel im Oktober 1982 schloß der neue Arbeitsminister mit dem Haushaltsbegleitgesetz 1983 dort an, wo sein sozialdemokratischer Vorgänger aufgehört hatte:

· Erhöhung der Beitragssätze zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung;

· Verschiebung der Rentenanpassung um ein halbes Jahr;

· weitere Absenkung des Niveaus medizinischer Versorgung;

· Umstellung des BaföG auf Darlehen;

· Streichung der Gelder für Fortbildung und Rehabilitation etc.

Mit dem Haushaltsbegleitgesetz '84 erreichte der Um- und Abbau des Sozialstaats neue Dimensionen: »Erstmals werden Lohnersatzleistungen auf breiter Front in ihrer absoluten Höhe gekürzt. Diese Kürzungen erfolgen zum einen direkt (Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld, Schlechtwettergeld, Arbeitslosenhilfe, Mutterschaftsurlaubsgeld), zum anderen indirekt (Krankengeld) über die Installierung einer Beitragspflicht von Lohnersatzleistungen zur Renten- und Arbeitslosenversicherung.« Wilhelm Adamy und Johannes Steffen vom Seminar für Sozialpolitik der Uni Köln haben die »strategischen Zusammenhänge« dieser »Konsolidierungspolitik« beschrieben: »Einerseits liefert Sozialdemontage dem Abbau tariflicher Einkommen die notwendigen Voraussetzungen in Gestalt einer steigenden Differenz zwischen Lohn und Lohnersatz und damit einer massiven Verstärkung der negativen Auswirkungen von Massenarbeitslosigkeit auf die betrieblichen Arbeitsbedingungen; zum anderen scheint nunmehr endgültig der Zeitpunkt gekommen, in dem die tariflichen Einkommen nicht mehr nur einem massiven Legitimationsdruck ausgesetzt werden, sondern durch direkte Eingriffe in die Tarifautonomie begrenzt werden sollen« – die Debatte um »Null-Runden« im Öffentlichen Dienst ist dafür ein Beispiel.  


2.
Die seit 1980 kontinuierlich fortschreitende Reallohnsenkung begleitend bildet der Abbau arbeitsrechtlicher und betrieblicher Schutzbestimmungen folgerichtig den zweiten Schwerpunkt der Arbeit des Gewerkschafters Blüm:

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Das neue Arbeitszeitgesetz schreibt nicht nur – wie schon die alte Arbeitszeitverordnung von 1938 – eine wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden vor (obwohl bereits für 96 Prozent aller Beschäftigten die 40-Stunden-Woche gilt), sondern fällt mit seinen Öffnungsklauseln zur Verlängerung (Überstunden) und Flexibilisierung der Arbeitszeit auf betrieblicher Ebene deutlich hinter die nationalsozialistische Verordnung zurück. Lediglich im Durchschnitt von 12 Wochen dürfen 8 Stunden je Werktag nicht überschritten werden. »Das kann für einen Arbeitnehmer bedeuten, daß er bspw. acht Wochen lang wöchentlich 72 Stunden arbeiten muß und dann vier Wochen frei hat. In Saisonbetrieben und auf Montagestellen kann ebenfalls der 12-Stunden-Tag vereinbart werden« (»Frankfurter Rundschau«).

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Nachtarbeitsverbote für Frauen wurden abgebaut. Gleiches gilt für Bestimmungen des Jugend- und Behindertenschutzes.

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Das Beschäftigungsförderungsgesetz 1985 hebelt den Kündigungsschutz aus. Nunmehr wird es den Unternehmern erlaubt sein, befristete Arbeitsverträge bis zu einer Dauer von 18 Monaten abzuschließen. An diesem Beispiel läßt sich demonstrieren, wie Arbeitsleistung auf Regierungsebene funktioniert: In einem ersten Gesetzentwurf schlägt Blüm eine Verlängerung der Vertragslaufzeiten (bisher: 6 Monate) auf 12 Monate vor. Die FDP fordert 24, die CDU/CSU-Fraktion einigt sich mit ihrem Arbeitsminister auf 18 – die Laufzeit hat sich verdreifacht. Abgestützt werden diese befristeten Arbeitsverträge durch Erleichterung und Erweiterung von »Leiharbeit«, die bis zu einem halben Jahr möglich sein soll. Damit werden die jahrelangen Bemühungen des DGB, gerade in diesem Bereich eine restriktivere Gesetzgebung durchzusetzen, ins Gegenteil verkehrt. Die Folgen dieser Aufweichung des Kündigungsschutzes sind gewollt: »Senkung des Lohnniveaus; Auflösung von Stammarbeitsplätzen (...); Erhöhung des Konkurrenzdrucks unter den auf Erwerbsarbeit Angewiesenen (...); aufgezwungene 'Mobilität'; Erschwerung gewerkschaftlicher Interessenvertretung« (vgl. »Sozialismus« 9/84).

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Sozialpläne sind nur mehr ab einer bestimmten Zahl von Entlassungen erforderlich; bei Neugründungspleiten können sie sogar ganz entfallen.  


3.
Die Bilanz regierungsamtlicher Sozialpolitik, die damit nahezu Punkt für Punkt den im Sommer '83 vielbeschrieenen Forderungskatalog des ehemaligen Geschäftsführers des CDU-Wirtschaftsrats, Haimo George, erfüllte, kann sich sehen lassen:

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Das zwischen Ende 1981 und Ende 1983 mit Hilfe von über 250 steuer- und sozialpolitischen Rechtsänderungen in Gang gesetzte Kürzungs- und Umverteilungsprogramm erreicht allein bis Ende dieses Jahres, haben Adamy/Steffen ausgerechnet, ein Netto-Volumen von mehr als 210 Milliarden DM.

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Einschließlich derjenigen, die ihre Ansprüche auf Sozialhilfe nicht geltend machen (und daher statistisch nicht erfaßt werden) leben z.Z. in der BRD ca. 4 Millionen Menschen auf bzw. unter Sozialhilfeniveau. Zu berücksichtigen ist dabei, daß bereits 1983 das reale Niveau der Sozialhilfe-Regelsätze um 1 1/2 Prozentpunkte unter dem des Jahres 1975 lag.

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Das reale Renteneinkommensniveau fiel 1984 auf den Wert des Jahres 1977.

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Schon im Februar 1984 lagen das durchschnittlich gezahlte Arbeitslosengeld unter bzw. die durchschnittlich gezahlte Arbeitslosenhilfe knapp über dem Stand des Jahres '81.

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»Insgesamt verminderten sich die Masseneinkommen (Nettolöhne, Renten und Unterstützungen) zwischen 1979 und 1983 preisbereinigt um rund 4,5 Prozent. Der Anteil der Masseneinkommen am Sozialprodukt, der einmal bei 52 Prozent lag (1973/75), ist von 50 (1979) auf 46 Prozent (1983) gefallen.« (Memorandum '84).

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»Nach Schätzungen der Bundesregierung werden die Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen bis 1988 mit einer Steigerung um knapp 52 Prozent gegenüber 1982 fast doppelt so stark zunehmen, wie die Bruttolohn- und gehaltssumme, die um lediglich 28 Prozent höher hegen wird. Bei diesen Annahmen rechnet Bonn mit einer Fortsetzung der seit 1982 in Gang gekommenen Umverteilung, die schon im vergangenen Jahr den Anteil der Löhne und Gehälter am gesamten Volksvermögen auf den Stand der 60er Jahre zurückfallen ließ« (»Frankfurter Rundschau«).

III

 

»Wer sich an der Macht halten will, muß dafür sorgen, daß er bei der Masse etwas gilt.«

(Norbert Blüm, 1968)

Also muß Blüm darauf achten, daß die Realitäten, die er schafft, in dem, was er über sie sagt, nicht vorkommen. Er weiß auch, wie das geht: »Es entspricht offenbar einer uralten Erfahrung, daß mit Worten Wirklichkeit gemeistert werden kann. (...) So könnte eine dogmatische Politik am leichtesten aufgebrochen werden durch eine literarische Sprache.« Ist der Kunstvorbehalt erstmal reklamiert, braucht der ehemalige Germanistikstudent bei der Darlegung seiner Sozial»philosophie« weder auf Sprache noch Logik, weder auf Hörer- noch Leserschaft irgendeine Rücksicht zu nehmen. Er beginnt daher am Anfang:

 

»Mache Dir die Erde untertan', das ist der Inhalt des einzig zeitlos gültigen Arbeitsvertrags« (ohne Kündigungsschutzklausel!). »Der einzige originäre Arbeitgeber ist der Schöpfer selbst. Alle anderen haben ihr Mandat nur als Lehen.« »Der Schöpfungsbericht läßt sich auch als kritisches Programm zur Humanisierung der Arbeitswelt lesen. (...) Stumpfsinnig sechstausend Schrauben in einer Schicht anzuziehen, das kann nicht gemeint sein, wenn die Bibel die Arbeiter zu Koproduzenten der Schöpfung machen will.«

Legitimiert Blüm die alte Gewerkschaftsforderung 'Arbeit für alle!' noch mit der Genesis, so leitet er seine Meinung, »die ausländischen Arbeitnehmer nicht allein zu lassen«, bereits aus dem Neuen Testament her: »Schließlich hat Jesus in Ägypten als Kind eines Gastarbeiters namens Josef gelebt.« (Ersichtlich ist die Qualität politischer Forderungen nicht unabhängig davon, wie sie jeweils begründet werden .)

Nun hat auch Blüm gelernt, daß die Historie mit den 6 (sechs!) göttlichen Schöpfungstagen nicht am Ende war – denn Objekt seines missionarischen Eifers ist der von »Universalangst, Verunsicherung, Entwurzelung« geplagte Mensch des »Industriezeitalters«. »Bis zum Mittelalter lebten Götter und Menschen in einer gemeinsamen Welt. Erst Aufklärung und industrielle Revolution (...) entrissen den Menschen der transzendentalen Geborgenheit.« Seitdem haben die Leute nur mehr Flausen im Kopf: »Die kommunale Straßen-Kehrmaschine ist eine energieaufwendige Zerstörung nachbarschaftlicher Kommunikation. Denn beim Straßenfegen sind sich früher die Nachbarn begegnet.«  

Technologische Entwicklung und 'wertschöpfungsorientierte' Rationalität haben den 'modernen' Menschen mittlerweile so weit von Gott entfernt, daß Norbert Blüm keinesfalls die Hand dafür ins Fegefeuer legen möchte, die Realisierung seines Sozialprogramms würde beide einander wieder genügend nahe bringen. Also hat er sich die »ethische Gewißheit« verschafft, »daß der Mensch nicht Herr des Lebens ist« (wie sollte da die Bundesanstalt für Arbeit ...), »daß Politik nicht schaffen kann, was uns erst der liebe Gott verspricht.«

Die derart radikale Entmaterialisierung der »sozialen Frage«, die konsequente Weigerung, den Ursachen und Verursachern von Not und Unterdrückung nachzuspüren, zeitigt einen Zynismus, der klarer macht, was Blüm so treibt: »Es gibt keinen Grund für Folter. Also müssen wir nicht fragen, warum jemand gequält wird.«

Neben dem eigenwilligen Verständnis der katholischen Soziallehre bildet die Anthropologie des konservativen Philosophen Arnold Gehlen die zweite Säule der Blümschen Sozialtheorie. Gehlen, der den Menschen als ein biologisch instinktentsichertes und daher auf Lebensführung durch starke und stabile gesellschaftliche Institutionen angewiesenes 'Mängelwesen' beschrieb, wird vom Arbeitsminister der Bundesrepublik Deutschland literarisch zugerichtet: »Institutionen sind Hosenträger, damit der Mensch nicht so nackt herumläuft.«  

Mit dem Schöpfungsbericht unterm Hosenträger Massenarbeitslosigkeit und -elend bewältigen zu wollen, dazu, weiß Blüm, »benötigen wir eine Moral von planetarischem Ausmaß«

Wolfgang Schneider