Dämmen und dämmern
Es ist atemberaubend. Während der Staat mit zunehmend autoritären Maßnahmen auf die Corona-Pandemie reagiert, sehen einige schon das Ende des Kapitalismus – zumindest in seiner neoliberalen Ausprägung – gekommen. Von Christian Meyer
Auch wenn der Ursprung des Corona-Virus nicht vollkommen geklärt ist – die Bedingungen seiner Verbreitung sind bestimmt von globaler Warenzirkulation, seine Auswirkungen vom Grad wohlfahrtsstaatlicher Fürsorge oder ihrer Unterlassung. Ist also der Kapitalismus schuld? Nicht am Virus. Aber zweifellos verschlimmert die Tatsache, dass das Virus nicht nur auf eine wirtschaftlich globalisierte, sondern auf eine neoliberal heruntergewirtschaftete Gesellschaft trifft, seine Folgen.
Die Gesundheitssysteme in Südeuropa haben während der letzten Wirtschaftskrise unter einem deutschen Spardiktat gelitten. In Italien gibt es nurmehr drei Krankenhausbetten pro 1.000 Einwohner (Mitte der Siebziger waren es mehr als zehn). Weil Krankenhäuser als Unternehmen geführt werden, halten sie keine Reserven für den Katastrophenfall vor. Auch in Deutschland, mit rund acht Krankenhausbetten pro 1.000 Einwohner relativ gut ausgestattet, wurde bis vor Ausbruch der Pandemie Wirtschaftlichkeit gepredigt: die Bertelsmann-Stiftung empfahl noch vergangenes Jahr, über die Hälfte der hiesigen Kliniken zu schließen.
Zugleich rufen nun selbst diejenigen politischen Akteure, die für eine neoliberale Deregulierung aller Gesellschaftsbereiche stehen – wie der Pharmalobbyist und nebenberufliche Bundesgesundheitsminister Jens Spahn – reflexhaft nach dem starken Staat.
Die autoritäre Seite des Neoliberalismus tritt in Krisenzeiten besonders stark hervor. Ein erster Höhepunkt dieser Entwicklung war die Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG), die ohne ernstzunehmende Debatte am 25. März vom Bundestag beschlossen wurde. Dieses Gesetz ist zur zentralen Rechtsgrundlage der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie geworden. Die Gesundheitsbehörden können von weitreichenden Befugnissen Gebrauch machen, die vor allem auf die Absonderung Infizierter, Erkrankter und ihrer Kontaktpersonen zielen: Anordnung von Untersuchung, Beobachtung, Betretungsrecht für Wohnungen Infizierter, schließlich die Quarantäne auch unter Anwendung von Zwang.
Neben die individuellen Anordnungen treten Kollektivmaßnahmen wie das Verbot von Veranstaltungen und Ansammlungen einer größeren Anzahl von Personen. Manches, wie das Schließen von Bädern, ist im Gesetz ausdrücklich normiert. Viele der derzeit angeordneten Einschränkungen für alle Menschen in Deutschland sind hingegen im Gesetz in dieser Form nicht vorgesehen. Der aktuelle Zustand ist von einer Notstandsorientierung geprägt, der in der Regel auch die zuständigen Gerichte folgen.
Einige liberale Rechtsgelehrte weisen zwar darauf hin, dass die Generalklausel des Paragraphen 28 IfSG kein Zaubermittel ist, mit dem einfach so generelle Kontaktverbote und ganze Ausgangssperren verordnet werden können. Auch die Generalklauseln der Polizeigesetze geben solche Eingriffe nicht her. Aber weil Not kein Gebot kennt, war dies der Exekutive in Bund und Ländern egal; sie beharrt seither auf ihrer Rechtsauffassung, dass es auch für die schwerwiegendsten Grundrechtseingriffe seit 1945 keiner ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage bedürfe.
So weitete man bei der Änderung des IfSG lediglich das Ansammlungsverbot aus und versuchte, die Möglichkeit einer allgemeinen Ausgangssperre (als Betretungsverbot „öffentlicher Orte“) nachträglich, mehr schlecht als recht, zu legalisieren. Die restlichen Maßnahmen der im März verkündeten Allgemeinverfügungen – Schließung von Geschäften, Restaurants, Spielplätzen, Abstandsregeln – bleiben weiterhin ungeregelt.
Ohnehin ging es wesentlich um neue Befugnisse für den Bundesgesundheitsminister. Er ist nun im Falle einer „epidemischen Lage von nationalen Ausmaßen“ umfassend ermächtigt, in die Regulierung des Gesundheitswesens einzugreifen – von der Arzneimittelverordnung über das Transfusionsgesetz bis zur Selbstverwaltung der Ärzte und Pflegekräfte. Letzteres könnte ethische Fragen bei Versorgungsengpässen betreffen.
Dem Bundestag gelang es immerhin noch, die Feststellung der Epidemielage an sich zu ziehen und nicht der Bundesregierung zu überlassen, sowie das Gesetz und sämtliche auf seiner Basis erlassenen Verordnungen zu befristen. Der Bundesrat ist ganz untätig geblieben – obwohl die neugeschaffenen Befugnisse des Bundesgesundheitsministers tief in Zuständigkeiten der Länder eingreifen und sogar „Einzelweisungen“ an kommunale Behörden zulassen.
Unabhängig von medizinischer Zweckmäßigkeit gehört zur autoritären Reaktion auf die Pandemie eine Kontrolle und weitgehende Schließung der Grenzen. Ein europäisches Land nach dem anderen schloss seine Grenzen, bevor der Europäische Rat am 17. März die EU-Außengrenzen für zunächst 30 Tage dichtmachte. Nur EU-Bürger/innen und Inhaber/innen eines EU-Aufenthaltstitels dürfen noch rein. Und während an den EU-Außengrenzen zahllose Menschen in furchtbaren hygienischen Verhältnissen auf eine Einreise hoffen und der Ausbreitung des Virus nahezu schutzlos ausgesetzt sind, lässt der Außenminister öffentlichkeitswirksam „gestrandete“ Touristen heim in den Bund holen.
Auch wenn nicht bestritten werden soll, dass umfassende Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie ergriffen werden müssen, ist es erschreckend zu beobachten, mit welch atemberaubender Geschwindigkeit sich die bundesrepublikanische Gesellschaft fast ohne Gegenwehr dem Staat als übergeordnetem Hüter des Lebens unterwirft. Kommunen verhängen hohe Bußgelder, regelmäßig wird auf die Möglichkeit der Freiheitsstrafe verwiesen; Denunziation hat Konjunktur. Wer sonst seine Freiheit durch „Veggie-Day“ und „Dieselverbot“ bedroht sieht, geifert nun gegen vermeintliche „Corona-Partys“. Der drohende Einsatz der Bundeswehr im Innern – 15.000 Mann stehen bereit, über 6.000 für Sicherungs- und Ordnungsaufgaben, Waffeneinsatz nicht ausgeschlossen – wurde achselzuckend zur Kenntnis genommen.
Auf der Linken sind die Reaktionen widersprüchlich: Kritik des Ausnahmezustands oder klammheimliche Freude über Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung? Einige sehen die Chance gekommen, Forderungen nach mehr Staat statt Markt zu plazieren, und nicht nur Juso-Chef Kevin Kühnert freut sich darüber, dass der Staat durch (zeitweilige) Unternehmensbeteiligungen die Voraussetzung dafür schafft, stärker ins wirtschaftliche Geschehen einzugreifen, und dass der Wahnsinn eines verbetriebswirtschaftlichten Gesundheitssystems breiter anerkannt wird.
Doch Vergesellschaftung und solidarische Bürgerversicherung für alle liegen nicht im Interesse der herrschenden Klasse. Nach der Krise soll es weitergehen wie zuvor. Dafür sorgen zur Not all die Sicherheitsgesetze, die Bund und Länder in den vergangenen Jahren auf den Weg gebracht haben – bei Bedarf erweitert um Befugnisse, wie sie jetzt beim Shutdown zur Anwendung kommen. Damit die Welt aber nach Corona nicht noch lebensfeindlicher wird, als sie bereits ist, muss die Linke ihre Kritik verstärken. Das verordnete Zuhausebleiben darf nicht zum individuellen Beitrag einer allgemeinen Eindämmerung, zu einem biedermeierlichen Rückzug ins Private werden.
Christian Meyer ist Soziologe und Redakteur bei „Cilip. Bürgerrechte & Polizei“. Er dankt der Redaktion für ihre Unterstützung und empfiehlt das Tagebuch der inneren Sicherheit auf „cilip.de“