VON konkret

Hashim Thaçis beste Chance aber ist noch die, von seinen Berliner und Washingtoner Paten in die Zelle neben Slobodan Milosevic gesperrt zu werden. Näher liegt, dass sie ihm, der wirklich zuviel weiß über Fischer und Albright, von ihren friedenschaffenden Kräften den ewigen Frieden verschaffen lassen.

Das schrieb Michael Schilling vor bald 22 Jahren in konkret 10/01. Damals war Thaçi ein geschätzter Freund und Verbündeter des Westens. Noch 2018 hat die damalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel ihn in Berlin empfangen: »Ich freue mich, dass der kosovarische Staatspräsident Hashim Thaçi heute bei uns zu Besuch ist.«

Es scheint, als habe Thaçi noch mal Glück gehabt: Am 3. April begann in Den Haag vor einem Sondertribunal für Kriegsverbrechen der Prozess gegen den einstigen kosovarischen Präsidenten und Führer der UÇK. Ihm werden in zehn Anklagepunkten Kriegsverbrechen und »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« vorgeworfen, die zwischen März 1998 und September 1999 begangen worden sein sollen. Laut Anklage unterhielt die UÇK etwa zwei Dutzend Gefangenenlager, in die außer Angehörigen der serbischen Minderheit im Kosovo auch Roma und Albaner verschleppt wurden. In den Lagern seien Mord, Folter, Scheinexekutionen, Todesdrohungen und andere Misshandlungen an der Tagesordnung gewesen.

25 Jahre hat es gedauert, den »George Washington Kosovos« (Joe Biden) vor Gericht zu bringen. Und selbst die »FAZ« fragt, warum »serbische Offiziere und andere Täter für Verbrechen an kosovo-albanischen Zivilisten in den neunziger Jahren angeklagt und verurteilt« wurden, doch »die Untaten der UÇK … weitgehend ungesühnt (blieben)«. Ja, warum nur? Jedenfalls nicht, weil unbekannt gewesen wäre, was für ein Verein Thaçis UÇK war. Um das zu erfahren, musste man nur konkret lesen oder einen Bericht des BND, der schon 1997 gemeldet hatte:

Der Drogenhandel wird häufig durch die albanischen politischen Kreise Mazedoniens und des Kosovo koordiniert und kontrolliert … Allen voran die bewaffneten militanten Gruppen wie die Kosovo-Befreiungsarmee UÇK finden so eine wichtige und vor allem eine regelmäßige Finanzierungsquelle.

Ahnungslos waren hingegen die US-Geheimdienste. Angesprochen auf die Enthüllungen der »New York Times«, der »Washington Post« und der »Herald Tribune« über die UÇK und ihre dubiosen Geschäfte, entgegnete der Sprecher des damaligen US-amerikanischen State Department, James Rubin:

Diese Presseberichte sind uns zwar bekannt, doch darüber liegen uns keine gesicherten Erkenntnisse unserer Geheimdienste vor.

Keine Erkenntnisse oder offenes Geheimnis? Am 3. April 2023 ist die »FAZ« in dieser Frage noch immer ganz vornehm:

Es ist allerdings ein offenes Geheimnis in Prishtina, dass die UÇK-Führer nach dem Krieg, als sie vom Schlachtfeld in die Politik wechselten, bei allem Patriotismus stets auch ihre privaten finanziellen Interessen bedachten. Villen mit Swimmingpool, Skiferien in Sankt Moritz, teure Uhren und Autos – der Lebensstil vieler ehemaliger UÇK-Führer steht bis heute nicht im Einklang mit ihren offiziellen Bezügen als Politiker.

Bekannt ist das alles seit langem. Warum also hat es bis heute gedauert, einem Verbrecher wie Thaçi den Prozess zu machen? Weil das Verfahren, wie Pierre-Richard Prosper, von 2001 bis 2005 Sonderbotschafter des amerikanischen Präsidenten George W. Bush für die Verfolgung von Kriegsverbrechen und heute Rechtsberater Thaçis, erklärt, eine »zeitgeschichtliche Dimension« (»FAZ«) hat:

Die Staatsanwaltschaft behauptet, dass die UÇK ein kriminelles Unternehmen war. Da die Nato 1999 mit der UÇK kooperiert hat, stellt sich die Frage: Behauptet die Staatsanwaltschaft, dass die Nato wissentlich mit einem kriminellen Unternehmen zusammengearbeitet hat?

Wie man sich aus diesem Dilemma befreit? Indem man es, wie die »FAZ« am 16. April, negiert:

Dabei sollte allerdings nicht das Gesamtbild aus dem Blick geraten: Das Blutvergießen im Kosovo geht vor allem auf Milošević und seine serbischen Schergen zurück. Sie setzten die Gewalt in Gang.

Der Kommunist, Behindertenaktivist und Groll-Erfinder Erwin Riess ist am 25. März im Alter von 66 Jahren gestorben. Bei konkret wurde Riess zum ersten Mal im Januar 1990 mit einem Leserbrief an Wolfgang Pohrt auffällig:

Herrn Wolfgang Pohrt, dessen Artikel ich nicht zuletzt deswegen schätze, weil sie anhand erfundener oder zweifelhafter Beispiele die Wahrheit schärfer vors Auge zwingen, als es die Ritter vom Orden der Empirie mit ihren stumpfen Details vermögen, muss in einem Punkt widersprochen werden:

Seine Behauptung, der Rollstuhl sei eine »notwendige Fortsetzung des verkrüppelten Körpers mit anderen Mitteln«, rührt an meine Ehre. Ich lege Wert darauf, dass ich, ein Town-and-Country-Rollstuhl der Firma Everest & Jennings, California, in keiner Weise, schon gar nicht »mit anderen Mitteln«, die Fortsetzung meines Anwenders bin, sondern ein formschönes, langlebiges Fahrzeug, das seine Dienste nur dann gehbehinderten Menschen anbietet, wenn diese fachkundig und frei von Sentimentalität mit mir umgehen.

Wenn jemand vermeint, in mir die Fortsetzung seines Körpers zu besitzen, werfe ich ihn aus Gründen der Pädagogik und der Verteidigung der Arbeitsteilung bei der erstbesten Gelegenheit auf die Straße.

Rollstuhl Series XZ-11-9080/h

(z. Zt. beschäftigt bei Erwin Riess, Wien)

PS: Mein Anwender ersucht mich um folgenden Nachtrag:

Wenn die Metapher zur Fortsetzung des Gedankens mit untauglichen Mitteln wird, bleibt letzterer gern auf der Strecke. Mit anderen Worten: Gehen nach Orten, die durch Gehen nicht zu erreichen sind, muss man sich abgewöhnen.

Mit freundlicher Genehmigung von Walter Famler ist in dieser Ausgabe (S. 34) ein Auszug aus Erwin Riess’ letztem großen Essay zu lesen. Er ist zuerst in der aktuellen Ausgabe der Wiener Zeitschrift »Die Sichel« erschienen.

Korrektur: Felix Klopoteks Artikel »Lau statt laut« (konkret 4/23) hat die Korrektur einen sinnverkehrenden Fehler verpasst. Denn »1979 hatte der amerikanische Zentralbank-Chef Paul Volcker die Zinsen« nicht etwa »gesenkt«, wie zu lesen stand; er hatte sie vielmehr erhöht, wie Klopotek geschrieben hatte – »vordergründig um durch Geldmengenbegrenzung die Inflation, in Wirklichkeit aber, um das finanzielle Anspruchsdenken der Arbeiterbewegung und sogenannter Randgruppen zu brechen«.

Im aktuellen Heft beschreibt Jörg Kronauer (S. 12) den außenpolitischen Aufstieg Chinas, dem die USA durch eine beschleunigte Aufrüstung der Asien-Pazifik-Region entgegenzuwirken versuchen. Diese Entwicklung ist nicht neu, sie hat sich allerdings erheblich beschleunigt. In seinem 2019 in der Reihe konkret texte erschienenen Band Der Rivale: Chinas Aufstieg zur Weltmacht und die Gegenwehr des Westens beschreibt Kronauer das Phänomen und schildert präzise die Reaktionen der westlichen Mächte – vom Aufbau neuer Bündnissysteme in Ost- und Südostasien über die Konflikte im Südchinesischen Meer, die Kämpfe um Einfluss in Afrika und den Staaten entlang der Neuen Seidenstraße bis zum antichinesischen Wirtschaftskrieg der USA und den Versuchen des Westens, die technologische Entwicklung der Volksrepublik zu torpedieren. Das Buch ist über den Verlag (konkret-magazin.shop) und im Buchhandel erhältlich.