»Blutrünstige Amazone«

Eine Biografie macht auf das Leben und Werk der Anarchistin Lucy Parsons aufmerksam. Von Andrea Naica-Loebell

Im vergangenen Jahr beging man Lucy Parsons’ achtzigsten Todestag. Doch kaum jemand kennt die Frau heute noch, obwohl sie eine der radikalsten Sozialistinnen und Anarchistinnen des 19. Jahrhunderts in den USA war. Wenn überhaupt, wird sie nur als Witwe von Albert Parsons erwähnt, der nach dem Haymarket-Massaker, zu dem es im Mai 1886 kam, zum Tode verurteilt wurde. Die soeben erstmals auf Deutsch erschienene Biografie Göttin der Anarchie will das nun ändern.

Es war ein weiter Weg, bis aus dem 1851 in Virginia geborenen Sklavenmädchen Lucia Carter die politische Aktivistin und Autorin Lucy Parsons wurde: Ein Sklavenhalter brachte sie zusammen mit ihrer Familie auf einem Gewaltmarsch während des US-amerikanischen Bürgerkriegs nach Texas, wo sie 1865 ihre Freiheit erlangte. Ihre Mutter floh mit ihr vor dem Terror gegen Schwarze, der im ländlichen Texas Alltag war, in die Stadt Waco.

Die hellhäutige Lucia, deren Vater wahrscheinlich ein Weißer war, nutzte ihre Chancen. Sie heiratete, ließ sich aber von einem anderen Mann ihre Schulbildung finanzieren und traf dann Albert Parsons, einen ehemaligen konföderierten Soldaten, der als Republikaner in Texas politische Karriere machte. Als sogenannte Mischehen zwischen Weißen und Schwarzen legalisiert wurden, heirateten die beiden 1872.

Doch die politischen Verhältnisse veränderten sich rapide, was zur Folge hatte, dass die beiden nach Chicago flohen. Sie erfanden eine neue Herkunftsgeschichte für Lucia, die sich von nun an Lucy Parsons nannte und angeblich mexikanisch-indigene Vorfahren hatte. Ein Schutz, um nicht als Schwarze verfolgt und diskriminiert zu werden, an dem sie lebenslang festhielt.

An der Seite von Albert politisierte sich Lucy: Sie las wie eine Besessene und baute sich eine eigene Bibliothek auf. Ihr Mann arbeitete als Schriftsetzer, sie als Näherin. Er wurde in der Stadt Chicago, die von Depression und Arbeiterunruhen geprägt war, zu einem der Wortführer der Sozialisten. Mehr und mehr engagierte sich das Paar zusammen in der Arbeiterbewegung. Für beide war die Lohnsklaverei das grundlegende Problem des leidenden Proletariats, die Parallelen zum Sklavereisystem in den Südstaaten lagen für sie auf der Hand. Nur ein wirklich grundlegender Umsturz, die Abschaffung des Kapitalismus, versprach ihrer Ansicht nach eine echte Verbesserung. Gemeinsam waren sie in Gewerkschaften aktiv, unterstützten Streiks und Demonstrationen, veröffentlichten Artikel in der linken Presse. Albert kandidierte erfolglos bei Lokalwahlen, Lucy gründete 1879 eine Gewerkschaft für Frauen. Aber trotz allen Aufbegehrens änderte sich nichts, weder an den Hungerlöhnen noch am allgemeinen Elend und der Unterdrückung. Die Parsons glaubten nicht mehr daran, durch Wahlen etwas verändern zu können, und wendeten sich schließlich dem Anarchismus zu: »Jedes Gesetz und jede Regierung ist letztendlich Gewalt, und Gewalt ist Despotismus, eine Verletzung des Naturrechts des Menschen auf Freiheit.« Nach 1880 lehnten sie sogar Mehrheitsbeschlüsse bei Versammlungen ab, statt dessen setzten sie sich fortan dafür ein, dass bis zu einem Konsensbeschluss diskutiert werden soll.

Im Mai 1886 explodierte auf dem Haymarket in Chicago eine Bombe, als die Polizei eine Generalstreikkundgebung mit Gewalt auflöste. Sieben Streikführer wurden danach zum Tode verurteilt, darunter auch Albert Parsons, der nachweislich zur Zeit des Geschehens nicht vor Ort war. Lucy trat sofort eine drei Monate lange Reise an, auf der sie Reden hielt, um Geld zu sammeln und um politische Unterstützung für die Gefangenen zu werben. Trotz weltweiter Proteste wurde Albert Parsons am 11. November 1887 gehängt.

Er hatte Lucy einst geschrieben, sie sei ein »Mensch, der sein gesamtes Dasein der sozialen Revolution gewidmet hat«. Nun wurde sie endgültig zur prominenten Rednerin, Autorin und bekannten anarchistischen Agitatorin, die bis zu ihrem Tod in der Presse präsent war und ständig von der Polizei überwacht wurde.

Lucy Parsons war eloquent und elegant gekleidet, stets trug sie eine goldene Halskette mit einem Anhänger in Form eines Galgens. Und wenn sie die Bühne betrat, eröffnete sie gerne ihre Reden mit der Feststellung: »Ich bin Anarchistin!« Bewusst inszenierte sie sich als Gegenfigur zum Klischee des ungepflegten bärtigen Bombenlegers, einer Zeitung schickte sie sogar ein Foto von sich, um zu beweisen, dass nicht alle Anarchisten »so hässlich« seien, »dass vor Schreck die Uhren stillstehen«.

Nach dem Justizmord an ihrem Mann versuchten einige Zeitungen, sie als intellektuell minderwertige Schwarze zu diskreditieren, andere bezeichneten sie als »blutrünstige Amazone«, »dunkle Göttin der Anarchie« oder attestierten ihr »ein Temperament wie ein Skorpion« und »moralische Verkommenheit«.

Lucy verbarg ihre Herkunft und ihr Privatleben. Sie weigerte sich, eine ihr zugeschriebene Identität anzunehmen und sich daran abzuarbeiten. In der Öffentlichkeit stand sie als politische Kämpferin für die Revolution, die sie mit Hilfe der Gewerkschaften und durch Selbstorganisation erreichen wollte. Wäre der Zustand der Anarchie erst erreicht, so meinte sie, würden die Unterschiede zwischen den Menschen ebenso wie die Ideen von »Rasse« oder Nation von selbst verschwinden, und Frauen würden dann nicht mehr »Sklavinnen der Sklaven« sein.

Schon in ihrer Zeit wurde Lucy vorgeworfen, sich nicht speziell für die Rechte der Schwarzen, der Frauen oder für die freie Liebe (sie hatte kontinuierlich Geliebte) einzusetzen, wie andere Anarchistinnen es taten. Für sie waren das Nebenschauplätze, die nur den Blick auf das wesentliche Ziel verstellten: die Zerschlagung der staatlichen Gewaltstruktur.

Auf den mehr als 400 Seiten des Buches findet sich eine überbordende Fülle zeitgeschichtlicher Details. Man lernt zahlreiche Personen kennen und erfährt einiges über die vielen Grabenkämpfe zwischen den verschiedenen zerstrittenen linken Fraktionen. Doch die Biografin, Jacqueline Jones, tut sich schwer mit dem wenigen, was die »revolutionäre Einzelkämpferin« Lucy Parsons über sich selbst offenbarte. Deren Leben verschwindet bei der zähen Lektüre immer wieder im Schatten, während ihr komplettes Umfeld in allen Facetten durchleuchtet wird. Es fehlt eigentlich nur die Angabe der Schuhgrößen aller Beteiligten.

Jacqueline Jones: Göttin der Anarchie. Leben und Zeit von Lucy Parsons. Edition Nautilus, Hamburg 2023, 448 Seiten, 34 Euro

Andrea Naica-Loebell arbeitet als freie Journalistin und Autorin in München