CSI: Prinsengracht

Wer verriet Anne Frank? Ein neues Buch befördert antisemitische Verschwörungsmythen. Von Tom David Uhlig

Wer hat die Familie Frank verraten?«, lautet die wohl am häufigsten gestellte Frage zum Leben von Anne Frank. Wie konnte es passieren, dass das Versteck in der Amsterdamer Prinsengracht 263 nach 761 Tagen entdeckt wurde? Es scheint, als erhoffe man sich von der Beantwortung dieser Fragen, dass der Tod Anne Franks etwas von seiner Sinnlosigkeit verliere. Der so einfache wie frustrierende Umstand, dass es vermutlich keine abschließenden Erkenntnisse geben wird, scheint ungenügend. Immer wieder versuchen Historiker/innen und Laien sich daran, das Rätsel zu lösen. Ein weiterer dieser Versuche hat ein Buch zur Folge, das nun in deutscher Übersetzung erscheint und mit seinen dubiosen Vereindeutigungen nicht unbedingt zum geschichtlichen Verständnis beiträgt.

Der niederländische Dokumentarfilmer Thijs Bayens hat sich mit dem pensionierten FBI-Ermittler Vince Pankoke zusammengetan, um den Verräter ausfindig zu machen. Die Bemühungen der beiden wurden von der emeritierten Literaturprofessorin Rosemary Sullivan in ihrem Buch Der Verrat an Anne Frank. Eine Ermittlung festgehalten.

Da es sich Pankoke zufolge um einen cold case handelt, müht man sich mit allerlei Fahndungsmethoden, die in diesen Fällen wohl zur Anwendung kommen, um zum ersehnten Durchbruch zu gelangen: Eine Wand wird mit Fotos der Protagonistinnen und Protagonisten sowie mit Luftaufnahmen des Häuserblocks behängt, eine Künstliche Intelligenz von Microsoft soll Datenmengen auswerten, Profiler werden herangezogen, man bemüht sich um Zugang zu staatlichen DNA-Testlaboren. Der seriöse Schreibstil Sullivans und ihre durchaus lesenswerten Ausführungen über das Leben in den besetzten Niederlanden und im Hinterhausversteck harmonieren nicht mit dem naiv forensischen Ansatz Pankokes.

Die Methoden sollen allerdings zum Ziel geführt haben: Man will dem Notar Arnold van den Bergh auf die Schliche gekommen sein, der ein Gründungsmitglied des sogenannten Judenrats war und eine Liste mit Verstecken untergetauchter Jüdinnen und Juden an die Deutschen weitergegeben habe. In Interviews gibt Pankoke eine Wahrscheinlichkeit von 85 Prozent dafür an, dass es sich bei dem Notar um den Verräter handelt. Seinen Verdacht breitete er öffentlichkeitswirksam in der CBS-Sendung »60 Minutes« aus. Auch in Sullivans Buch heißt es trotz angeführter Zweifel: »Van den Berghs Entscheidung erwies sich als todbringend.«

In der Forschung ist man nahezu einhellig der Meinung, dass Pankoke seine Indizien ziemlich strapaziert. Es gäbe Anhaltspunkte, dass van den Bergh zum betreffenden Zeitpunkt selbst untergetaucht war, außerdem sei nicht bekannt, ob der »Judenrat« über Listen von Verstecken verfügt habe. Zudem lässt sich Schuld schwerlich in Wahrscheinlichkeiten berechnen. Entweder gelingt der Nachweis einer Schuld, oder er gelingt nicht. Nun steht, neben den Dutzenden von bereits existierenden Thesen, lediglich eine weitere im Raum.

Zweifel an Pankokes Methoden begleiteten wohl schon den Arbeitsprozess, wie das Zerwürfnis mit dem Anne-Frank-Fonds (AFF) zeigte: Im Buch berichtet Sullivan von einem Treffen mit dem AFF, das ziemlich schiefgelaufen zu sein scheint. Der AFF begegnete dem Projekt mit Skepsis und stellte den Vorwurf in den Raum, dass die neuen Ermittlungen aus kommerziellen Gründen aufgenommen würden. Sullivan gab den Vorwurf prompt zurück, schließlich habe der AFF die Rechte an einem der »profitabelsten Bücher der Welt«, und vergaß auch nicht, das »luxuriöse Hotel« zu erwähnen, in dem man sich getroffen habe.

Das Urteil des AFF nach Abschluss der Arbeit fällt demzufolge vernichtend aus. Der »Süddeutschen Zeitung« teilte der dem Stiftungsrat angehörende Yves Kugelmann mit: »Solange keine Beweise geliefert werden, bleibt die Hauptaussage des Buches, ›Jude hat Anne Frank verraten‹, einer der fulminantesten Verschwörungsmythen und wirkungsvollsten Antisemitismus-Booster seit langem.« Kugelmann legt den Kern des Problems frei: Die so fragwürdige wie selbstbewusst aufgestellte These eignet sich hervorragend zur Schuldumkehr.

Seit langem schon kursieren nicht nur in rechtsradikalen Kreisen Verschwörungsmythen, die besagen, die Jüdinnen und Juden seien irgendwie auch an ihrer eigenen Ermordung schuld gewesen. Als »Argumente« dienen in diesen Fällen entweder Vereinbarungen, die Jüdinnen und Juden mit dem nationalsozialistischen Regime treffen mussten, um fliehen zu können, oder eben die Einrichtung der »Judenräte«. Diese waren durch Zwang eingesetzte Verwaltungen, mit denen die nationalsozialistischen Deutschen Jüdinnen und Juden zur Kooperation nötigten. Im sekundären Antisemitismus wird daraus jedoch schnell ein Beleg für eine angebliche Schuldhaftigkeit der Jüdinnen und Juden.

Diese Denkweise sitzt einem fatalen Trugschluss auf. Denn die antisemitische Ideologie strebt ständig danach herzustellen, was sie zu beschreiben vorgibt. Jüdinnen und Juden wurde untersagt, in Handwerkszünfte einzutreten, und gleichzeitig vorgeworfen, keine Handarbeit ausüben zu wollen. Sie wurden in Ghettos isoliert, während ihnen zugleich nachgesagt wurde, sie würden nur unter sich bleiben. Wenn sie angegriffen werden, wird ihnen ihre Verteidigung als Aggression ausgelegt. Kaum ist dieses Streben des Antisemitismus, die Realität mit sich gemein zu machen, brutaler zum Ausdruck gekommen als in dem Versuch, Jüdinnen und Juden in ihre eigene Vernichtung einzuspannen. Sie sollten moralisch so korrumpiert werden, wie sie es angeblich schon immer gewesen sind.

Sullivans Buch gibt diesem Zynismus leider neue Nahrung, ohne wirklich erhellend zu sein. Die Literaturwissenschaftlerin schreibt: »Dass jemand, der Otto Frank in vielen Dingen so ähnlich war, sein Verräter war – das ist schockierend.« Dabei stellt die Autorin auf derselben Seite fest, wo das wirkliche Problem liegt. Doch wegen der unergiebigen Frage, die der Cold-Case-Ermittlung zugrunde liegt, wird es in der öffentlichen und privaten Auseinandersetzung um das Buch vermutlich wenig beachtet werden: »Die Verantwortung liegt allein bei den deutschen Besatzern, die die Gesellschaft terrorisierten und dezimierten und Nachbarn gegeneinander aufhetzten.« Um also auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Die Schuld am Tod von Anne Frank und ihrer Familie tragen die Deutschen.

Rosemary Sullivan: Der Verrat an Anne Frank. Eine Ermittlung. Harper-Collins, Hamburg 2022, 408 Seiten, 24 Euro

Tom David Uhlig schrieb in konkret 5/21 über die sogenannte Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus