Sie ist da
Schichtsalat war ihr Schicksal: die deutsche Schüssel. Von Rebecca Spilker
Neulich, in Lockdown-Zeiten, schien es schlagartig gute Sitte im Milieu der gesellschaftlich Nützlichen geworden zu sein, die Zeit, die am Tag noch übrig war, nach Homeschooling und Homeoffice, zu nutzen, um endlich mal wieder Ordnung zu schaffen. Manch einer verspürte den gesellschaftlichen Druck, endlich einmal in Richtung Minimalismus zu denken, Überflüssiges von noch Benötigtem zu scheiden. Die Krise erforderte, sich von Dingen zu trennen, die nicht nur Schränke und Kommoden verstopften, sondern auch die Seele, und die durch ihr bloßes Herumstehen und Einstauben eine Belastung darstellten. Bekannte und Freunde erzählten mir von Entrümpelungsaktionen in den eigenen vier Wänden, an deren Ende sich ein neues Lebensgefühl einstellte: endlich befreit von Krempel.
Doch nicht alles, was ein Schattendasein im Küchenschrank führt, ist auch ungeliebt. Oft verbinden wir mit einem Stück Geschirr Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend, und ich spreche hier nicht von dem geschmackvollen Krug aus der Bunzlauer Keramiksammlung unserer Lehrereltern, sondern von einem Alltagsgefäß, das viele kennen. Wenn nicht aus dem elterlichen Haushalt, dann von Nachbarn oder Verwandten. Gemeint ist die deutsche Schüssel, jenes Gefäß, das eine tägliche Begleiterin und Dienerin unspektakulärer Mahlzeiten war und ist. Ihre Form und Gestaltung stört nicht weiter. Eine zweckmäßige, durchsichtige Schüssel, täglich einsetzbar und für die Reinigung in der Spülmaschine geeignet. Sie stellt an niemanden Ansprüche, denn Pflege bedeutet für sie: Rein in die Maschine, raus aus der Maschine. So können wir als Nutzer bis heute täglich von ihrer Bescheidenheit profitieren und uns an ihrem formschönen Design erfreuen, denn keine Schüssel überlebte mehrere Generationen und würde so lange geschätzt, wenn sie neben ihrer Vielseitigkeit im Gebrauch nicht auch noch ein Mindestmaß an Ansehnlichkeit mitbrächte.
Ein Beispiel: Jutta und Christoph, beide Versicherungsangestellte, lernen sich 1987 auf einer Betriebsfeier kennen. Sie mit Big Hair, er in Chinos mit Bügelfalte. Man verliebt sich, man verlobt sich. Vor der Hochzeit äußert Jutta den Wunsch, die erste eigene Küche auf keinen Fall mit geerbtem, angestoßenem Geschirr ausstatten zu wollen. Was tun? Jutta ist zwar im Besitz eines Geschirrs, sie hat es Stück für Stück an Geburtstagen, zu Weihnachten und zur Konfirmation erhalten, möchte es aber schonen für »Anlässe«, mit denen sie in Zukunft rechnet. Alltags muss es praktisch zugehen, aber keinesfalls schäbig. Deshalb haben die Geschirreinkäufer großer Kaufhäuser bereits Mitte der Achtziger erkannt, was junge Paare wünschen: Qualität zu einem guten Preis und mit pfiffigem Design. Die Serie Luminarc Aspen. Für vier Personen.
Das Set enthielt, neben Dessertschälchen und Tellern, genau zwei unverwüstliche Schüsseln in verschiedenen Größen. »Bruchsicher« hieß das Zauberwort und versprach ein Leben ohne Sorgen. Was sollte schon passieren, wenn selbst einfachste Haushaltsgegenstände für die Ewigkeit konzipiert werden konnten? Scherben waren gestern, bei Oma und Opa, aber nicht bei Jutta und Christoph.
Schließlich, als es junge Familien aus steuerlichen Gründen hinaustrieb in den Speckgürtel großer Städte, hinein ins Endreihenhaus, zeigte sich schlagartig, dass man nie genug Schüsseln im Haus haben kann. Und gerade die blattumrankte Serie durfte ein zweites Hoch erleben: auf Grillpartys. Wechselseitige Einladungen in den sommerlichen Garten erforderten Gefäße, die Beilagen und Salate fassen konnten, jedoch stabil und leicht waren, wegen des Transports. Luminarc Aspen! Unsere Schüssel wurde so Zeugin verschiedener kulinarischer Moden und barg im Laufe der auf die Jahrtausendwende folgenden Jahre so manches Experiment, das schon nach kurzer Zeit wieder in Vergessenheit geriet (Bulgarischer Schichtsalat). Auch wurde sie des öfteren in Schrebergartenlauben und Partyzelten »vergessen« und später (»Wer hat die Blattschüssel eigentlich letzte Woche mitgebracht?«) von ihren Besitzer/innen verleugnet. Doch immer kehrte sie zurück. Wegen der Gegeneinladungen. Zu denen ja auch wieder Salate mitgebracht wurden usw., usw. Niemals geht man so ganz.
Die Kinder wurden irgendwann groß, entschwanden in Studenten-WGs. Was sollten Jutta und Christoph ihnen mitgeben für die Gemeinschaftsküche? Zähneknirschend packte der Nachwuchs die als sperrig empfundene Schüssel in den Kofferraum, um schließlich, angekommen in der neuen Heimat, festzustellen: Sie hat Geschwister. Aus diversen Ecken der Nation haben sie zusammengefunden in dem gemeinschaftlich genutzten Küchenschrank der Studentenbude. Es sind viele. Von fünf bis sechs wurde mir berichtet, und ihre Babys, also die jeweiligen Nichten und Neffen der Schüsseln, die Dessertschälchen, sind natürlich mitgekommen. Nichts hatte sich geändert: nicht ihre warme, raue Haptik, nicht ihr geschwungener Rand, nicht die raffinierte Blattoptik.
Die Studenten haben mittlerweile selbst Familien. Kram häufte sich in Kellern und auf Dachböden. Alte Tupperware ohne Deckel und siffige Reiskocher mussten gehen. Raten Sie mal, was bleiben durfte. Die deutsche Schüssel. Sie ist da. Sie war es immer. Über Jahrzehnte hinweg haben wir ihre Existenz einfach hingenommen, ohne zu fragen, auf welch verschlungenen Wegen sie sich in die Mitte eines ganzen wiedervereinigten Volkes schummeln konnte. Vielleicht liegt es in der Natur der sogenannten bürgerlichen Mitte, dass Gegenstände zwar gebraucht, jedoch längst nicht mehr täglich gewürdigt werden. Hier haben wir es mit einem solchen zu tun. Das gläserne Glanzstück hat eine derart beruhigende Wirkung auf uns, dass es eben nicht »entsorgt« werden kann, sondern als Symbol dessen fungiert, was uns als erhaltenswert gilt. Das ist Psychologie. Die deutsche Schüssel: Von ihr wird noch berichtet werden, wenn in Meißen für immer die Sonne untergeht. Oder in Bunzlau. (Das deutscheste Geschirr der Welt kommt übrigens aus Frankreich, aus dem Hause Arcoroc mit Sitz in Arques im Pas-De-Calais.)
Rebecca Spilker schrieb in konkret 3/21 über Hobby-Gesundheitsexpertinnen und -experten