Complaining about Communists

Das Videospiel »Disco Elysium« erzählt von kapitalistischer Herrschaft und einer befreiten Gesellschaft. Von Georg Frischbuter und Veronika Kracher

Es gibt Videospiele, und es gibt »Disco Elysium«. Das eine mag ephemere Kulturindustrie sein, das andere ist eine der großen Erzählungen unserer Zeit. Das Spiel »Disco Elysium« erzählt vom Scheitern, von der Hoffnung und der Notwendigkeit einer befreiten Gesellschaft. 2019 wurde es für den PC veröffentlicht. Seit März 2021 ist der von der Fan-Community sehnsüchtig erwartete Final Cut erhältlich. So ist das Spiel nun auch auf zeitgenössischen Konsolen anwendbar, vollvertont mit neuen Inhalten. Dass sich ein derart unorthodoxes Rollenspiel in kürzester Zeit zu einem modernen Klassiker entwickelt hat, war auch für das in Lettland ansässige Entwickler/innen-Team ZA/UM Studio, das sich weniger als Videospielunternehmen denn als Künstler/innen-Kollektiv begreift, eine Überraschung.

Während konventionelle Rollenspiele abgewetzte Allmachtsphantasien bedienen, erzählt »Disco Elysium« die Geschichte eines Mannes, der sein Leben ruiniert hat. Der zunächst namenlose Protagonist – und mit ihm die Spielerin – erwacht nach einem dreitägigen Exzess in einem komplett verwüsteten Hotelzimmer und findet auf Fragen nach seiner Identität oder seinem Aufenthaltsort keine Antwort. Man erfährt schließlich, dass man ein Polizist ist, der die Aufgabe hat, einen Mordfall zu lösen: Im Hinterhof des Hotels hängt seit einer Woche der Leichnam eines Mannes an einem Baum. Anstatt die Leiche abzuhängen, war man mit einer selbstzerstörerischen Sauforgie beschäftigt. Beim Versuch, den Fall zu lösen, gerät man in einen politischen Konflikt zwischen der Hafenarbeitergewerkschaft und dem Großkonzern Wild Pines und begreift, dass der Mordfall nur ein Puzzleteil in einem größeren Komplex darstellt.

In genretypischen Role-Playing-Games stellt Amnesie eine beliebte Trope bei der Charaktererschaffung dar. Doch der Gedächtnisverlust des Protagonisten in »Disco Elysium« scheint mehr als glaubwürdig. Reminiszenzen an die Person, die man einmal war, zeigen sich durch das, was in anderen Spielen das Skillsystem wäre. Jedes der 24 Merkmale oder Talente des Protagonisten – zum Beispiel Selbstbeherrschung, Erfahrung mit Drogen und Sexualität, die Fähigkeit zum logischen Denken oder die Fähigkeit, mit Maschinen umzugehen, um nur einige zu nennen – verfügt über eine eigene innere Stimme und nimmt regelgeleiteten Einfluss auf den Spielverlauf. Die unterschiedlichen Persönlichkeitsaspekte des Detektivs interagieren miteinander und vermitteln so in Form dissoziativen Schreibens einen Einblick in die zerrüttete Psyche eines ausgesprochen labilen Mannes. Doch gänzlich ohnmächtig ist man nicht. Man hat die Möglichkeit, sich zu entscheiden: Bleibt man der kaputte Mistkerl, der die Beziehung zu seiner Expartnerin oder das Verhältnis zu den Kolleginnen und Kollegen grundlegend ruiniert hat, oder versucht man, sich zu ändern?

Schauplatz von »Disco Elysium« ist die fiktive Metropole Revachol, in der es vor 40 Jahren zu einer kommunistischen Revolution kam. Nach nur wenigen Jahren wurde die Commune jedoch von dem kapitalistischen Staatenbund der Moralintern blutig niedergeschlagen. Das Videospiel, dessen Autorinnen und Autoren sich vor kurzem, während einer Preisverleihung, bei Marx und Engels für ihre politische Bildung bedankten, beschreibt Kapitalismus nicht als unausweichlichen Status quo, sondern zeichnet ihn konkret als gewaltsam durchgesetzte Form von Herrschaft. Die Spielinhalte sind inhärent politisch und vermitteln auf allen Ebenen –in den Gesprächen mit den Bürgerinnen und Bürgern von Revachol, in den Einblicken in die Geschichte der Stadt, mit der einem Ölgemälde gleichenden Grafik und dem sphärischen Soundtrack der Band British Sea Power – ein Gefühl von Melancholie. Das reichhaltige social commentary liest sich zwischen den Zeilen wie eine kontemporäre Gesellschaftsanalyse. Die Spielerin kommt nicht umhin, um das Scheitern der Revolution und das verlorene Potential der Stadt zu trauern.

Die Bewohner/innen Revachols sind keine Figuren, die bloß dekorativ herumstehen und warten, bis die Spielerin mit ihnen interagiert. Vielmehr handelt es sich um vielschichtige Charaktere mit vielgestaltigen Geschichten. Dies trifft insbesondere auf den Partner und Gefährten des Protagonisten zu, Leutnant Kim Kitsuragi. Man lernt Kim als ausgesprochen professionellen Polizisten kennen, der mit Geduld und Sarkasmus auf die mitunter ungewöhnlichen Methoden des Protagonisten reagiert. Über die Tage, in denen die Spielhandlung stattfindet, beginnt man, ihn näher kennen und schätzen zu lernen. Kim, der den Protagonisten heftig kritisiert, sobald dieser sich zu reaktionären Aussagen und Handlungen hinreißen lässt, ist einer der Charaktere, die man nicht verärgern möchte, sondern dessen Anerkennung und Zuneigung man sich erarbeiten will. Gewinnt man diese, erfährt man von seiner Schwäche für Science-Fiction-Literatur und Mechanik, seinem Hass auf Flipper oder seinem Umgang mit seiner Migrationsvergangenheit. Kim erscheint nicht wie ein Non-Player-Charakter unter anderen, sondern bindet die Spielerin an sich wie eine authentische Person. Gerade die Dynamik zwischen Kim und dem Protagonisten bildet ein Herzstück von »Disco Elysium«.

Trotz seiner Auseinandersetzung mit der eigenen Ohnmacht in einer notgedrungen verwalteten Welt offenbart das Spiel immer wieder Ausblicke auf die Möglichkeit einer besseren Gesellschaft: sei es in der sozialen Interaktion, in politischen Entscheidungen oder der mittels ihrer Darstellung kritisierten Gesellschaft. Nicht zuletzt ist »Disco Elysium« ein Geschenk an kommunistisches Denken, das bisher – in einem Videospiel – kaum so prägnant wie ernstzunehmend formuliert worden sein dürfte: Ist das Klagen über andere Kommunistinnen und Kommunisten nicht irgendwie kontraproduktiv? »Not at all. Complaining about other communists is one of the most important parts of being a communist.« Touché.

Eine Kritik an »Disco Elysium« haben Georg Frischbuter und Veronika Kracher allerdings: dass es keine Möglichkeit für den Protagonisten gibt, Kim zu daten