Heitere Aussichten

Welche Auswirkungen hat Covid-19 auf die deutsche Wirtschaft? Von Georg Fülberth

Das Gauland-Postulat

»Wir müssen abwägen, auch um den Preis, dass Menschen sterben. ›Das Leben ist der Güter höchstes nicht‹, sagt Schiller in Die Braut von Messina. Er hat recht. Der Güter höchstes ist die Freiheit.«

So sprach Alexander Gauland von der AfD im Deutschen Bundestag am 29. Oktober 2020 in der Debatte um einen neuen Lockdown. Er erntete Entrüstung. Die beleidigten Mienen im Plenum und auf der Regierungsbank zeigten, dass man sich ertappt fühlte. Der AfD-Führer hatte ausgesprochen, was man seit Monaten tat, während man das Gegenteil deklamierte.

Leben oder Freiheit – rot oder tot: Diese Alternative war das große Gesellschaftsspiel der Bundesrepublik seit ihrer Gründung 1949. Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang ein heute weithin vergessenes, seinerzeit aber viel diskutiertes Buch noch einmal aufzuschlagen. Es ist von Karl Jaspers, heißt Die Atombombe und die Zukunft des Menschen und erschien 1957. Der Philosoph, Doktorvater und lebenslanger Freund von Hannah Arendt, befand: Einer Bedrohung der Freiheit durch den Totalitarismus sei mit atomarer Aufrüstung zu begegnen, auch um den Preis potentieller Selbstvernichtung. Aus diesem Dilemma komme man nur heraus, wenn »der Mensch« sich wandle. Den letzten Satz lassen wir jetzt einmal unkommentiert und wenden uns statt dessen dem operativen Geschäft zu.

Wer um die Extreme einer Alternative herumkommen will, sucht einen Mittelweg. So verhielten sich Bundestag, Bundesrat und ad hoc erfundene neue Gremien im Corona-Fall. Sie taten, was Gauland ihnen geraten hatte, wenngleich mit etwas anderem Ergebnis. Sie wogen ab und fanden folgende Lösung: einerseits soviel Lockdown wie nötig, wie es die Zahl der Intensivbetten in den heruntergesparten Kliniken gerade noch zuließ. Andererseits: offenhalten soweit wie möglich, damit die Profitproduktion nicht zu sehr gemindert wird.

Im Ergebnis starben Menschen, die bei schärferen Restriktionen noch leben könnten. Die Konjunktur erholte sich nach anfänglichem Einbruch, Daimler meldet Gewinne und erhöht die Dividenden. Gaststätten und Hotellerie allerdings hatten Einbußen, kleinere Betriebe dieser Branchen werden wohl für immer schließen. Kulturschaffende, die auf Präsenzauftritte angewiesen waren, sitzen auf dem Trockenen.

Es gab andere Wege. Zum Beispiel auf der einen Seite Trumps Corona-Verharmlosung und Bekämpfung jeder Einschränkung der Unternehmens- und Bewegungsfreiheit, andererseits in China ein zeitlich begrenzter harter Lockdown, dann, nach erfolgreicher Seuchenbekämpfung, ein rasches und steiles Hochfahren der wirtschaftlichen Tätigkeit. Die erste Variante kam kurz vor einer Bundestagswahl nicht in Frage. Auch Trump ist das ja nicht gut bekommen.

Die in China angewandte Strategie hätte den deutschen Unternehmen durchaus zupass kommen können. Dort wurden Produktion und öffentliches Leben zwar für kurze Zeit heruntergefahren, die Konjunktur brach ein. Doch als es bald darauf in einer perfekten V-Kurve nach oben ging, gab es auch wieder Gewinne. Warum waren die deutschen Industriellen dagegen? Hierfür mag es drei Gründe geben.

Erstens: Deutsche Kapitalisten sind mittlerweile weitsichtig geworden. Die Freiheit von staatlichen Eingriffen in ihre Verfügungsgewalt über Produktionsmittel und Arbeitskraft steht ihnen höher als solche Profitanteile, die ihnen aufgrund eines völlig ungenierten Laisser-faire in der Pandemie zugefallen wären. Mit Ach und Krach ließen sie sich dazu verpflichten, den Beschäftigten Tests anzubieten, die Produktion lief weiter.

Zweitens: Der deutsche Export, unbehelligt von einer Vollbremsung im eigenen Land, profitierte vom Lockdown in China. Da das Wachstum dort bald wieder ansprang, entstand neue Nachfrage nach Waren made in Germany, die mittlerweile ja weiter hergestellt worden waren.

Drittens: Ein Konjunktureinbruch wäre ohnehin gekommen. Es war hoch an der Zeit. Schon seit 2019 bahnte er sich an, das Wachstum drohte schlappzumachen. Die Pandemie mag den Ausbruch der Krise beschleunigt haben. Wäre sie ohne den externen Schock durch Corona eingetreten, hätte wieder der übliche Wettstreit der Erklärungsversuche stattgefunden, wie so etwas überhaupt habe passieren können: Marktversagen, Politikversagen, Schicksal? Dank Corona ging der Daumen bei der dritten Antwort hoch: Eine gesunde Wirtschaft sei eben von außen angefallen worden und habe insofern mit ihrer Krise ursächlich ihrerseits nichts zu tun.

Stimmt das?

Was bisher geschah

Jetzt wird es ein bisschen langweilig. Das lässt sich nicht vermeiden. Also, los geht’s:

Nachdem in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Finanzmärkte entfesselt worden waren, hatte sich in den Neunzigern ein langer Wirtschaftsaufschwung eingestellt, stimuliert durch starke Investitionen in Informationstechnologie nicht nur – wie bisher – im Produktionsprozess, sondern auch für die Alltagskommunikation. Er endete 2001 mit einem Crash: Überakkumulation. Der darauffolgende nächste Aufschwung war in hohem Maße schuldenfinanziert: Erleichterung von Konsumentenkrediten und des Erwerbs von Immobilien ohne ausreichendes Eigenkapital, zunächst und vor allem in den USA, aber mit Wirkung für die gesamte Weltwirtschaft.

Diese Blase platzte 2007. Das löste eine Kette weiterer Krisen aus: Zunächst waren die Banken dran, dann 2008/2009 die Realwirtschaft, anschließend die Etats mehrerer Länder, am Ende geriet der Euro in Gefahr.

Ab 2012 ging die Europäische Zentralbank dazu über, Anleihen defizitärer südeuropäischer Staaten aufzukaufen und die Geldmenge ständig zu erhöhen. Die Ursache der langjährigen Depression, die Überakkumulation von Kapital, wurde dadurch nicht behoben. Auch die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank und des Federal Reserve System in den USA wirkte nicht konjunkturbelebend, sondern verhinderte allenfalls einen neuen Absturz. Die Krise war weniger überwunden als lediglich suspendiert. Es war abzusehen, dass dieses Kartenhaus irgendwann zusammenbrechen würde. Jetzt ist es soweit. Aber was folgt daraus?

Was kommen könnte

Zu den Peinlichkeiten der vergangenen Jahre gehören die inflationär vermehrten Prognosen über ein bevorstehendes Ende des Kapitalismus. Sie berufen sich auf niedrige Wachstumsraten in den alten Industrieländern sowie Unzuträglichkeiten wie die Umweltkrise, insbesondere den Klimawandel, und behaupten, derlei lasse sich innerhalb dieser Produktionsweise nicht mehr beheben.

Hier liegt eine Verwechslung vor. Nicht der Kapitalismus ist an seine Grenzen gekommen, sondern nur ein Wirtschaftsstil: der Marktradikalismus der Jahrzehnte 1980–2020. Durch weitgehende Deregulierung sowie Steuerentlastungen für hohe Einkommen und große Vermögen wurde die Ungleichheit auf einen Stand getrieben wie seit 1913 nicht mehr. Die Einnahmeausfälle hinderten die Staaten daran, ausreichende Investitionen in Bereichen vorzunehmen, die andererseits für unentbehrlich gehalten wurden: Umweltsanierung, Bildung, Ausbau der digitalen Infrastruktur, Armutsbekämpfung und, na ja: auch das Wettrüsten. Für diese Zwecke Kredite aufnehmen dürfen sie nicht mehr: die Schuldenbremse (Schwarze Null) und der Europäische Fiskalpakt hindern sie daran.

Keynesianer/innen forderten einen Richtungswechsel und wurden ausgelacht. Einer von ihnen, der Nobelpreisträger Paul Krugman, ließ sich 2011 zu einem verzweifelten Ausbruch hinreißen: Nur die Falschmeldung über eine unmittelbar bevorstehende Invasion von Aliens könne die USA dazu bewegen, innerhalb kürzester Frist die Mittel zwecks Abwehr einer solchen Gefahr aufzubringen.

Da Steuererhöhungen für die Reichen und Kreditaufnahme des Teufels waren, blühte ein etwas fiebriger Vorschlag: die Modern Monetary Theory. Staaten könnten sich unbegrenzt über ihre Zentralbanken bei sich selbst verschulden, ohne Tilgung leisten und Zinsen zahlen zu müssen.

Schließlich, 2020, kamen die Aliens doch noch – nicht als Fake News, sondern als bittere Realität: Covid-19. Plötzlich war Geld da. Ursula von der Leyen winkte mit einem Billionenbetrag zur Bekämpfung der Pandemie und zur Bewältigung ihrer Folgen. Olaf Scholz setzte die Schwarze Null außer Kraft und zog die Spendierhosen an. Die Modern Monetary Theory stieg von einer Sektenmeinung zu einer – wenngleich offiziell weiterhin verleugneten – herrschenden Praxis auf. Unverdrossen wurde behauptet, irgendwann würden die Summen, die jetzt ausgegeben werden, wieder eingesammelt, doch in Wirklichkeit glaubt niemand daran.

Zur Zeit sieht es so aus, als könnte diese Glaubwürdigkeitslücke durch den US-amerikanischen Präsidenten Joseph Biden, assistiert von seiner Finanzministerin Janet Yellen, geschlossen werden: Er befürwortet eine Höherbesteuerung der Reichen. Schon jetzt bringt er Geld unter die Leute. Er legte ein Konjunkturprogramm von 1,9 Billionen Dollar auf. Biden schlägt eine globale Mindeststeuer von 15 Prozent für internationale Unternehmen vor, Scholz findet das prima.

Schon wird ein Vergleich mit dem New Deal von Franklin D. Roosevelt ab 1933 gezogen. Der war zunächst nur wenig erfolgreich. Erst mit Eintritt in den Zweiten Weltkrieg stellte sich Vollbeschäftigung ein. Die Fortsetzung dieses Militär-Keynesianismus durch einen Zivil-Keynesianismus nach 1945 verdankte sich unter anderem dem Kalten Krieg, der Förderung des sozialen Zusammenhalts durch Wohlfahrtsstaatlichkeit nahelegte.

Vielleicht sollte man Biden nicht so sehr mit Roosevelt, sondern mit dessen Nachfolger Harry S. Truman vergleichen, der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki werfen ließ, 1947 die Konfrontation mit der Sowjetunion und ein Wettrüsten ausrief, im übrigen aber ein New Dealer war, dessen Name mit dem Beginn der Goldenen Jahrzehnte des US-Kapitalismus verbunden bleibt. Es war keine gemütliche Zeit, sondern eine Periode der Stellvertreterkriege und der ständigen Angst vor der finalen Katastrophe. Schon Trump hat das Feindbild China etabliert. Biden macht da weiter.

Es muss nicht soweit kommen. Könnte aber.

Georg Fülberth schrieb zuletzt in konkret 11/20 über das Werk Friedrich Engels’