Ich bin echt

Im Reality-TV-Format »Das Berlin-Projekt« bekommen Obdachlose den Coaching-Wahn zu spüren. Von Tim Wolff

Was dem Kapitalismus auch nicht gelingt: allen Bürgern seiner reichsten Länder ein Obdach zu ermöglichen. Offiziell sind es circa 48.000 Menschen in Deutschland, die auf der Straße leben. 650.000 sind wohnungslos. Es lebt also ungefähr einmal Leipzig in Notunterkünften. Doch dürften es in Wirklichkeit noch deutlich mehr Menschen sein – denn sich nicht so genau damit zu beschäftigen ist die einzige Lösung, die die deutsche Gesellschaft für dieses Problem kennt. Es ist eine konsequente Lösung in einer Gesellschaft, in der Obdachlose das Problem sind und nicht die Obdachlosigkeit. Die Zahlen stammen von 2017. Der Wert ist eine Hochrechnung, die auf einer Erhebung aus Nordrhein-Westfalen beruht. Eine bundesweite Statistik gibt es nicht.

Trotzdem gibt es auch gute Bürger, die das alles nicht toll finden. Zu oft begegnet einem Obdachlosigkeit zwischen Haustür und Fitnessstudio. Erst recht in der deutschen Hauptstadt. Das macht mindestens nachdenklich. Der Boulevard-TV-Moderator Tim Niedernolte ist fassungslos: »Ich bin fassungslos, wie viele Obdachlose in dieser Stadt wohnen. Daran möchte ich etwas ändern.« Genau, an der eigenen Fassungslosigkeit möchte Tim Niedernolte etwas ändern. Wird es ihm gelingen? Zum Glück gibt es Fernsehkameras!

Für die vergleichsweise geduldige Reality-TV-Dokureihe »Das Berlin-Projekt« (Drehzeit: zwei Jahre) stellt Niedernolte sich vor Brücken und Parks und schildert seine Eindrücke von den Obdachlosen, die er gerade angequatscht hat. Selbstverständlich professionell angebahnt und vertraglich abgesichert. Niedernolte und sein Team casten von der Gesellschaft Ausgestoßene (»Wie sehr würdest du für deine Ziele arbeiten?«), damit er ihnen bedeutungsschwer ein rotes Moleskine-Büchlein mit Telefonnummern von Sozialarbeitern, Ärzten und so fort überreichen und ein moralisches Angebot machen kann: Aus dem Geldbeutel zieht er eine eigens gestaltete Plastikkarte, bedruckt mit der Zahl 10.000. Denn über so viele Euro – mit denen man bestimmt einen oder sogar zwei Werbespots bei RTL2 schalten könnte – dürfen die »Teilnehmer« oder »Kandidaten« genannten Wohnungslosen in Absprache mit dem Produktionsteam verfügen. Wenn sie denn wollen. Oder wie es Niedernolte zu formulieren vermag: »Der einzige Haken bist du.«

Eine törichte, ja obszöne Idee: Menschen, die teils seit Jahrzehnten erfahren, wie wenig sie der Gesellschaft wert sind, 10.000 Euro hinzuhalten und zu sagen: Mach was draus! So, als gäbe es keine gesellschaftlichen Bedingungen, die zu Obdachlosigkeit führen und Leute darin gefangenhalten. So, als wären diese Menschen nicht gerade deswegen obdachlos, weil sie – aus welchen individuellen Gründen auch immer – genau das nicht können: nach den Regeln dieser Gesellschaft für sich sorgen. Selbst wenn sie noch so sehr wollen.

Tim Niedernolte und »Das Berlin-Projekt« wollen ihnen – natürlich – die Würde nicht nehmen. Vielmehr macht man das, um »Menschen, die sonst keine Plattform haben, eine Stimme« zu geben. »Das ist nicht gemacht, um ein tolles Format zu haben fürs Fernsehen.« Der Zynismus, der in der Ausstellung von Elend um des Distinktionsgewinns willen liegt – bei gleichzeitigem Wohlgefühl, das sich beim Blick auf die Not Ärmerer einstellt –, ist so verinnerlicht, dass gar nicht mehr in den Sinn kommt, man sage so etwas zur Rechtfertigung. Es ist einfach alles echt. »Ich spiele auch nicht irgendeine Rolle, sondern ich bin Tim. Ich bin echt.« Glückwunsch! Und wenn eine der Betroffenen dem echten Tim auf die Frage, ob man sie die nächsten Wochen mit der Kamera begleiten dürfe, antwortet: »Wenn man auf der Straße lebt, gibt es eh nichts Privates. Macht ruhig!«, dann huscht keine Sekunde die Ahnung über sein Gesicht, wieviel internalisierte Verachtung in der Aussage steckt. Dann müsste man womöglich darüber nachdenken, wieviel internalisierte Verachtung schon der akute bürgerliche Normalbetrieb bedeutet. Statt dessen: Büchlein, 10.000 Euro, Umarmung, Tränen, echte Nähe.

»Das Berlin-Projekt« will das Problem – interessiert, aufgeschlossen, ehrlich engagiert, filmisch sauber dokumentiert und musikalisch aufgepeppt – mit dem Problem lösen. Aber wie auch sonst? Die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die einfach nicht »marktfähig« sind oder es je werden können, existiert im Privatfernsehen so wenig wie in der Gesellschaft, für die es wirbt. Und wenn es ihre Projekte ihnen direkt in die Kamera sagen: »Ich bin einfach nicht in der Lage, mit dem Geld sinnvoll umzugehen, muss ich ganz ehrlich sagen.« In solchen Momenten ist Niedernolte dann »sehr gespannt«. Und wenn ihm erklärt wird, dass die 10.000 Euro gerade genügen, um die Schulden zu bezahlen, und danach immer noch alles fehlt, um ins bürgerliche Dasein zurückzukehren, und sogar der klare Satz fällt: »Wir brauchen Hilfe«, ist er verwirrt und ein wenig enttäuscht und kann doch wieder nur die dreisteste Lüge des Kapitalismus hervorkramen: »Wir kriegen das hin – wenn du willst.«

Sämtliche Obdachlose erscheinen, selbst im Suff, klüger als der Moderator und sein Team – denn sie wissen, was diese Gesellschaft mit ihnen angestellt hat und immer wieder anstellt. Und welch Anstrengung es bedeutet, ihr nicht gewachsen zu sein. Niedernolte aber sieht nur den armen Menschen vor sich, dies allerdings »mit Interesse, mit Leidenschaft«. Das ist nett. Und ungefähr soviel wert wie der Spruch »Gib einem Mann einen Fisch, und du ernährst ihn für einen Tag, lehre einen Mann zu fischen, und du ernährst ihn für sein Leben« als Belehrung für jemanden, der keine Angellizenz erwerben darf, beim Kauf einer Angel diese sofort beschlagnahmt bekommt und an einem verbleiten Gewässer leben muss. »Du musst glücklich werden. Und das kannst du … Vertrau mir, und lass dir von uns helfen. Okay?« So bedrängt Niedernolte im Coaching-Wahn eine 18jährige, mit der er am ersten Tag »schöne Stunden« verbracht hat. Und sie antwortet: »Ich will mir ja helfen lassen. Aber ich bin gerade wieder an diesem Punkt: Ich werde von allen hier nur verarscht.« – «Dann musst du hier raus. Ganz ehrlich.« – «Wo soll ich denn hin? Ich will auch nicht in eine Scheißeinrichtung gesteckt werden, Mann. Das ist das Problem.«

Das alles macht etwas mit dem Moderator: »Man kann nicht erwarten, dass sich Menschen, dass sich Leben schnell ändern, nur weil man anfängt, in sie zu investieren.« Nach zwei Jahren geht es dem Team ums »Berlin-Projekt« dann ein wenig besser. Man hat ja gewollt. Und Tim Niedernolte ist ein bisschen weniger fassungslos. Sein Publikum nach der Ausstrahlung bestimmt auch. Das hat den Aufwand gelohnt. »Echte« Empathie im Werbe-TV-Reality-Zirkus war aber auch eine Marktlücke, die es zu schließen galt.