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Mut zur Lücke

Leo Herrmann über das Buch Architektur der Gegenwart von Philip Ursprung

Wer in der Kunst-, Literatur- oder Musikgeschichte einen Kanon globalen Ausmaßes aufstellt, muss spätestens seit den Methodendiskussionen der sechziger Jahre mit Gegenwind rechnen. Schließlich sind Einseitigkeiten und Ausschlüsse bei solchen Synopsen unvermeidlich. Vorwürfe, eine eurozentrische Perspektive einzunehmen oder Beiträge von Frauen nicht ausreichend zu würdigen, gehen selten fehl. Entsprechende Darstellungen sind denn auch zumindest auf akademischem Niveau selten geworden.

Die Architekturhistoriografie kennt traditionell weniger derartige Skrupel, auch weil methodologische Debatten dort in der Regel mit Verspätung ankommen. Die Geschichte des Bauens wird in der Regel bis heute als eine Abfolge von Stilen erzählt – von der italienischen Renaissance über den französischen Klassizismus und die Reformarchitektur zum Neuen Bauen. Erst in den letzten Jahren hat eine Diskussion um die Berechtigung des Kanons als Werkzeug der Architekturgeschichtsschreibung eingesetzt.

Auch deshalb ist es bemerkenswert, dass sich der renommierte Schweizer Architekturhistoriker Philip Ursprung nun an ein Buch über Architektur der Gegenwart gewagt hat. Das schmale Bändchen soll einen schnellen Überblick geben und muss deshalb viele grundsätzliche Fragen gar nicht berühren: Warum beispielsweise sollte die Gegenwart gerade 1970 beginnen? Und was darf eigentlich als Architektur gelten im Gegensatz zum schlichten Bauen?

Ursprung gliedert sein Buch lose in verschiedene Themenfelder und beginnt einzelne Abschnitte oft szenisch mit Satzteilen wie »An einem grauen Frühlingstag«. So sehr er damit auch die Relativität seines Standpunktes zu betonen sucht, das Bändchen liefert tatsächlich nicht weniger als einen Kanon der Architektur seit den siebziger Jahren mitsamt dazugehöriger Meistererzählung. Die makroökonomische Entwicklung – angefangen mit der Rezession nach Ende des Nachkriegsbooms – dient dabei als Grundstruktur für ein umfängliches Architekturpanorama.

Das ist mal mehr, mal weniger überzeugend und stellenweise sogar dubios – aber gerade weil er Widerspruch provoziert, kann ein Kanon wichtig sein. Eine Absage an jeglichen Universalismus ist jedenfalls keine gute Alternative.

Philip Ursprung: Architektur der Gegenwart. 1970 bis heute. C. H. Beck, München 2025, 128 Seiten mit 41 Abbildungen, 12 Euro

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