From the River to the Gate
Ein belgischer Karikaturist kotzt eine wüst antisemitische Zeichnung aus, wird dafür mit einem renommierten Cartoonisten-Preis belohnt, und alle Welt findet das in Ordnung. Wie der europäische Kulturbetrieb die Nazifizierung der Juden betreibt, beschreiben Dirk Braunstein und Simon Duckheim
Gibt man bei Google das Stichwort »7. Oktober« ein, ist das erste Ergebnis, wenig überraschend, der entsprechende Wikipedia-Eintrag. »Der 7. Oktober«, erfährt man dort zunächst, »ist der 280. Tag des gregorianischen Kalenders (der 281. in Schaltjahren), somit bleiben noch 85 Tage bis zum Jahresende.« Es folgt eine Auflistung von Ereignissen aus »Politik und Weltgeschehen«, beginnend mit dem Jahr 1370, in dem am fraglichen Tag sechs Schweizer Kantone irgendeinen »Pfaffenbrief« vereinbart hatten. Der letzte Eintrag in dieser Rubrik ist der zum 7. Oktober 2023: »Die Hamas überrascht Israel« – faktisch korrekt mag diese Formulierung sein, der Sache angemessen ist sie umso weniger – »mit einem Terrorangriff aus dem von ihr beherrschten Gebiet des Gazastreifens heraus, bei dem sie in Israel über 1200 Personen, mehrheitlich israelische Zivilisten, ermordet und weitere 239 Personen entführt. Der Begriff 7. Oktober steht seither auch stellvertretend für den Terrorangriff.« That’s all.
Nun blieben, wir erinnern uns, bis zum Jahresende 2023 noch 85 Tage. Mehr als genug Zeit für einen geübten Karikaturisten, das »Ereignis« nach allen Regeln des zeitgenössischen Kulturbetriebs historisch-kritisch durchzudialektisieren, um es schließlich grafisch mit dem großen Ganzen in Einklang zu bringen.
Anfang Januar 2024 veröffentlichte das flämische Nachrichtenmagazin »Knack« (das nur ein »n« von der braunen Wahrheit trennt) die Zeichnung »Gazastrook« (flämisch für Gazastreifen) des belgischen Karikaturisten Gerard Alsteens, Künstlername GAL. Sie zeigt eine Landkarte, auf der die Umrisse des Eingangstores von Auschwitz-Birkenau auf die des Gazastreifens gelegt sind. Diese Leistung, mit äußerst limitierten künstlerischen Mitteln das Weltgeschehen in jenes rechte Licht zu rücken, in dem der 7. Oktober als eine Form des Widerstands erkennbar wird, zu dem die jüdischen Opfer der Nazis sich angeblich als unfähig erwiesen hatten, bedarf selbstredend der Würdigung. Dachte sich auch die Jury des Grand Prize Press Cartoon Belgium und kürte die Zeichnung jüngst, handgestoppte 542 Tage nach ihrer Veröffentlichung – schließlich ist die Thematik aktueller denn je –, kurzerhand zur »Karikatur des Jahres«.
Wir halten das für zu tiefgestapelt und würden, hands down, die Zeichnung unsererseits für den Titel »Karikatur des Jahrhunderts« nominieren wollen, bringt sie doch auf den Punkt, woran der Auschwitz-Überlebende Jean Améry schon vor knapp fünfzig Jahren keinen Zweifel hegte, dass nämlich die »von einem hochzivilisierten Volk mit organisatorischer Verläßlichkeit und nahezu wissenschaftlicher Präzision vollzogene Ermordung von Millionen als bedauerlich, doch keineswegs einzigartig zu stehen kommen« würde. »Alles«, so Améry weiter, »wird untergehen in einem ›Jahrhundert der Barbarei‹. Als die wirklich Unbelehrbaren, Unversöhnlichen, als die geschichtsfeindlichen Reaktionäre im genauen Wortverstande werden wir dastehen, die Opfer, und als Betriebspanne wird schließlich erscheinen, daß immerhin manche von uns überlebten.« Was Améry indes aus unschwer zu durchschauenden Motiven verschwieg, ist der Umstand, dass die Nutznießer dieser Betriebspanne ihr unrechtmäßiges Überleben zum Anlass nehmen würden, es ihren Lehrmeistern von einst (mindestens) gleichzutun. Gell, GAL?
Egal. Schlimmer fast als die Karikatur selbst ist freilich der Lobpreis der Jury: »Die Zeichnung von GAL prangert die schreckliche Situation in Gaza an, wo jeden Tag Unschuldige von der israelischen Armee ermordet werden. Genauso« – in Worten: ge!nau!so! – »wie es die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs mit den Juden in ihren Konzentrationslagern« – äh, in wessen jetzt? – »getan haben.« Und weiter: »Auch wenn dieser Vergleich heftige Kontroversen auslösen kann« – nichts für ungut, aber der Drops ist längst gelutscht – »und technisch nicht zu 100 Prozent korrekt ist« – klar, wenn’s um Auschwitz geht, das trotz aller Verlässlichkeit und Präzision seinerseits der technischen Perfektion entriet, kann man schon mal, frischfrommfröhlichfrei, übern Daumen peilen (wie ja selbst Korrektheit, die keine ist, sondern halt Inkorrektheit, immer noch die Wahrheit ausplaudern kann, wenn man nur feste dran glaubt) –, »so legt er doch den Finger in eine offene Wunde und gibt Anlass zum Nachdenken.« Der Vergleich legt was? Den Finger. Wohin? In eine offene Wunde. Die da wäre? Dass der ewige Jude nichts aus der Lektion gelernt hat, die die Deutschen ihm, für alle Beteiligten schmerzlich, erteilen mussten?
Für uns persönlich gibt der Vergleich jedenfalls weniger Anlass zum Nachdenken als zum Übergeben, genauso (auch wenn diese Analogie rein technisch Luft nach oben hat), wie es die Juden laut der Jury mit jener offenen Wunde getan haben: »Indem er einen Vergleich zieht zwischen dem, was die Deutschen den Juden angetan haben, und dem, was Israel heute den Palästinensern antut, unterstreicht GAL auch das kollektive Trauma, das von den Juden« – schwuppdiwupp! – »auf die Palästinenser übertragen wurde.«
Wie man kollektive Traumata unterstreicht, wissen wir nicht. Von Freud haben wir aber auch was gelesen und schlagen die Deutung vor, dass die Palästinenser als Kollektiv eine nachgerade therapeutische Funktion für den ideellen Gesamtjuden erfüllen, der sich nach streng analytischer Technik nun an der Gegenübertragung abzuarbeiten hat, um – endlich, endlich! – seinen zwanghaften Widerstand gegen die unumstößliche Realität aufzugeben, dass er auf dieser Erde nun mal nichts zu suchen hat. Noch je hatte. Auch diese »Wahrheit« übrigens hat der Allesgalvanisierer vermöge einer technisch endlich einmal einwandfreien Fehlleistung zur Geltung gebracht, kritzelte er doch das Tor von Birkenau in ein Gebiet, das von einer Terrororganisation beherrscht wird, die, wenn man sie nur ließe, die Juden – und zwar alle! – so gern in jenes Mittelmeer triebe, in das das GAL’sche Tor geradewegs führt.
Dass Kunst nur als solche gelten kann, wenn sie einen nachhaltigen Bildungsauftrag erfüllt, hatte die Jury selbstredend ebenfalls berücksichtigt: »Die grafische Umsetzung der Zeichnung« – beziehungsweise die zeichnerische Umsetzung der Grafik, ist doch eh alles wurscht! – »ist komplex und naiv zugleich« – die Naivität ist uns auch aufgefallen, die Komplexität hat sich uns nicht erschlossen –, »wie eine Karte, die in einer Schule aufgehängt werden könnte, um zu zeigen, was dem palästinensischen Volk angetan wurde.« Jedenfalls in der Schule des Antisemitismus, Grundkurs »Geografie für angewandten Judenhass«. Wer erinnert sich nicht an die komplex-naiven Karten aus dem Erdkundeunterricht, auf denen Oświęcim einfach eine Stadt irgendwo in Polen ist? Hier wird das rasende Gefasel von Leuten, die nicht wissen noch wissen wollen, was deutsche Vernichtungslager waren, auch nicht, was ein Krieg ist und welche Unterschiede es gäbe, sich aber sicher sind, der Gazastreifen sei gleich Auschwitz, ins Bild erlöst.
Wäre das Weltbild des ausgezeichneten Karikaturisten nicht schon durch die eine Grafik zur Genüge illustriert, finden sich online noch diverse weitere, darunter ein, nun ja, »Porträt« von Anne Frank (die ja auch sonst allenthalben als Projektionsfläche für Geschichtsrevisionisten herhalten muss). Es zeigt sie mit ausgemergeltem Gesicht sowie Skeletten in den Augen, und ein Teil ihres Haarschopfes ist überzeichnet mit – exakt! – den Umrissen des Gazastreifens. »Poor Anne Frank«, so der Titel des Bildes, das im Juni 2025 auf der Webseite »Cartoons Movement« mit der Unterschrift »Anne Frank in mind … starving a population« veröffentlicht worden ist.
Was haben wir daraus zu lernen? Dass ein jüdisches Mädchen, das sich zwei Jahre lang mit seiner Familie in einem Hinterhaus verstecken musste, bis es erst nach Auschwitz und kurz vor Kriegsende – als es schon, wie eine Zeitzeugin berichtete, nur noch »ein Skelett war« – nach Bergen-Belsen verschleppt wurde, wo Anne Frank schließlich elendig krepierte, aus heutiger Perspektive als Opfer derer zu betrachten ist, die es nicht mehr gäbe, hätten die Nazis ihren Plan vollenden können. Und auch wenn dieses zeichnerisch umgesetzte Gedankenexperiment moralisch nicht vollumfänglich korrekt ist, so legt es doch den Finger in eine offene Wunde, von deren Urhebern sich Anne Frank nur darin unterscheidet, dass sie als personifizierte Unschuld ins kollektive Bewusstsein eingegangen ist. Was indes nichts daran ändert, dass sie Jüdin war und ewig bleiben wird – und gemäß einer aufgeklärten Logik, die in ihrer Perfidität nachgerade als Einmaleins des zeitgemäßen Antisemitismus gelten kann, in letzter Konsequenz ihrerseits Blut an den Händen hat. Folgerichtig hatten Unbekannte bereits im August 2024 die Hände der Anne-Frank-Statue in Amsterdam mit roter Farbe bemalt und »Free Gaza« auf den Sockel geschmiert. So nämlich!
Niemand, der noch ganz bei Trost ist, möchte gerne im Gazastreifen leben, nicht gestern, nicht heute, nicht morgen. Aber es ist Krieg, und dass auch und vor allem Unschuldige im Krieg sterben, ändert nichts daran, dass dieser am 7. Oktober 2023 begann und nicht erst, wie glauben wollen muss, wer die Israelis gleich Nazis gleich Völkermörder setzt, tags darauf. Wer aber die Geschichte Israels am 14. Mai 1948 beginnen lässt – und keinen Holocaust früher –, darf jede militärische Reaktion Israels als spontanen Ausdruck eines ganz typischen Vernichtungswillens – wie sagt man? – »lesen«. Und wird gewiss seine Gründe dafür haben, die man ebenso gewiss als antisemitisch bezeichnen darf.
Die »Jüdische Allgemeine«, die allerdings auch jüdisch ist, das heißt parteiisch, nicht wahr, sprach von einem »Eklat«. Schön wär’s, wäre’s wahr. Geschehen ist jedoch tatsächlich folgendes: Todessüchtige »Kämpfer« der Hamas haben grauenerregende Taten zumal an Frauen begangen, für die selbst die Bezeichnung »sexualisierte Gewalt« noch schönfärberisch klingt. Unausdenkliches haben die Männer aus dem Gazastreifen Frauen angetan, weil sie Frauen waren. Unvorstellbar das Männer-, Frauen- und allgemein das Menschenbild jener, die sich Leben nur als Vergewaltigungs- und Tötungspraxis denken können – eine Praxis, die Selbstzweck und zugleich Mittel zu einem höheren Zweck ist, nämlich den Opfern auf bestialischste Weise zu demonstrieren, was Adorno zufolge durch Auschwitz zur Realität geworden ist: dass es Schlimmeres zu fürchten gibt als den Tod.
Als Reaktion auf den Überfall auf Israelis in Israel jedenfalls rückt dessen Armee beim Angreifer ein, damit dieser Horror sich nicht wiederhole noch ähnliches geschehe. Als Reaktion wiederum darauf erbricht wer in Westeuropa behaglich ein Bild, das die Täter mit den Juden in den deutschen Vernichtungslagern verwechselt und die Israelis mit den Nazis. Reaktion: erster Preis in einem Zeichenwettbewerb.
Das ist kein Eklat, das ist Normalität. Und zu der gehört auch, dass das Massaker vom 7. Oktober endgültig und unmissverständlich gezeigt hat, was geschähe, wenn jene kartografische Vision, die landauf, landab unter der Losung From the River to the Sea fröhlich’ Urständ feiert, Wirklichkeit würde.
Dirk Braunstein und Simon Duckheim schrieben in konkret 5/25 über das stillgestandene Hirn von Bundeswehr-Reservisten
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