Von nun an bist du NXP
Heute vor dreißig Jahren starb Leo Hurwitz, der den ersten bedeutenden antirassistischen Film der USA gedreht hat. Neuerdings gibt es seine Filme auch online zu sehen. Von Stefan Ripplinger
Der Film »Strange Victory« ist, was man »unverdaulich« nennt. In einer für eine Dokumentation ganz ungewöhnlichen Bildsprache und in einer ebenso ungewöhnlichen Erzählweise klagt er in einer ganz ungewöhnlichen Schärfe die USA des Rassismus an und vergleicht sie mit Nazi-Deutschland.
Ein solcher Film fände heute, trotz Michael Moore, keinen kommerziellen Produzenten und Verleiher, und das war auch so, als er herauskam. Allein schon, ein Kino für die Uraufführung in New York zu mieten, gestaltete sich schwierig genug. Am ersten Tag, es war Samstag, der 25. September 1948, kam kaum ein Zuschauer; es war einfach zu schön draußen. Am zweiten Tag lief ein wichtiges Baseballspiel, die Red Sox schlugen die Yankees 7 zu 2; die New Yorker, selbst ihre roten Socken, hatten Besseres zu tun. Schließlich tröpfelten ein paar Journalisten von der rechten Kampfpresse ein. Einer von ihnen schrieb in den »New York Daily News« – ein mit Springers »Bild« vergleichbares Blatt –, hinter jeder Einstellung von »Strange Victory« sei »Stalins Stimme« zu vernehmen. Damit war das Schicksal des Films und seines Regisseurs, Leo T. Hurwitz, besiegelt. Er erhielt auf lange Zeit keine Aufträge in der Film- und Fernsehbranche mehr und wurde in den nächsten zwanzig Jahren von J. Edgar Hoovers FBI beschattet.
Hurwitz, Jahrgang 1909 (und verstorben 1991), war das letzte von acht Kindern eines russischen Anarchisten, der für die jiddische »Freie Arbeiter Stimme« schrieb. Er nannte seinen Jüngsten nach Trotzki. Der kleine Leo erwies sich als ein begabter Schüler, aber stieß immer wieder an unsichtbare Mauern mitten im Land der Freien. Was das für Mauern waren, hat John Berryman in seiner kurzen Erzählung »The Imaginary Jew« (1945) auf ganz unheimliche Weise greifbar gemacht. Job oder Stipendium oder Respekt verweigert, weil du vom Schema »weiß, angelsächsisch, protestantisch« abweichst – so oder so ähnlich war das Schicksal aller Beteiligten an »Strange Victory«. Der unabhängige Produzent Barney Rosset war Kind eines jüdischen Vaters, einer katholischen Mutter, ein doppeltes Stigma, denn auch die Katholiken wurden lange in den USA verfolgt. Der Komponist David Diamond hegte nie einen Zweifel daran, dass seine Karriere nicht vom Fleck kam, weil er nicht nur Jude war, sondern auch offen schwul lebte. Und der Hauptdarsteller, Virgil Richardson, sah sich schließlich sogar gezwungen, nach Mexiko ins Exil zu gehen. Doch von Richardson später mehr. »Strange Victory« war also nicht das Werk von mitfühlenden Humanisten, sondern von Leidenden, Kämpfenden. Aber es ist auch das Werk eines amerikanischen Kommunisten, der die sowjetische Montage auf verblüffende Weise weiterentwickelt.
Der Einfluss der sowjetischen Montage wird in Hurwitz’ Arbeit früh deutlich. Anfang der dreißiger Jahre gehört er zu der Workers Film and Photo League, die im Auftrag der Kommunistischen Partei Propaganda erstellt. Wer den kurzen Film der League über den Hungermarsch 1931, in dessen Abspann der Name von Hurwitz noch nicht auftaucht, mit dem über den Hungermarsch 1932 vergleicht, wird über die unterschiedliche Machart staunen. Die Reportage von 1931 ist interessant genug, weil sie zeigt, wie viele Frauen und Afroamerikaner bei den Demonstrationen der Arbeitslosen mitliefen, aber hier wird nur abgeschwenkt, nicht verarbeitet. 1932 haben wir plötzlich das vor uns, was Sergei M. Eisenstein »intellektuelle« und Hurwitz in einem Artikel für »New Theatre« (1934) »externe Montage« genannt hat: Nicht nur werden Reportagebilder mit Zeitungsseiten oder christlichen Transparenten gekontert, sondern beispielsweise auch der Fraß für die Hungrigen mit dem Müll am Kai oder in der Gosse kauernde Obdachlose mit den Häusern, in denen sie nicht mehr wohnen dürfen.
Ein erster Höhepunkt in dieser Kontrast- und Kombinationstechnik ist »Heart of Spain« (1937). Gemeinsam mit Paul Strand, einem der bedeutendsten Fotografen des Jahrhunderts, hat Hurwitz aus völlig disparatem, teils amateurhaftem Material über den Spanischen Bürgerkrieg und die faschistischen Bewegungen der Zeit einen aufwühlenden Film gefügt. Der Schluss, der von dem System der Blutspenden und der Versorgung der verletzten republikanischen Kämpfer berichtet, ist ein kontrapunktisches Meisterstück: Da werden, zum Teil rasch – »time means blood« –, Arme von Blutspendern, gereckte Fäuste, Granateneinschläge, Ampullen, Marschierende, strömendes Blut und Tanzende ineinandergewirkt, dass der Zuschauer den Eindruck erhält, der Film handele nicht nur vom Herzen Spaniens, sondern wäre von ihm durchpulst.
Hier und um so mehr in der bekanntesten Zusammenarbeit von Hurwitz und Strand – »Native Land« (1942), einem düsteren Bekenntnis zu den USA, das sich in der Frage zusammenfassen lässt: »Was haben unsere Verfolgten von der Bill of Rights?« – zielt die Montage auf den Intellekt und auf die Imagination gleichermaßen. In Wolf-Eckart Bühlers Gesprächsfilm »Leo T. Hurwitz. Filme für ein anderes Amerika« (1980), aber auch in den langen Unterhaltungen des Regisseurs mit der Jungianerin Ingela Romare stellt er seine Idee von kollektiven Bildern vor, die uns miteinander verbinden, aber deren Zeichen wie Hieroglyphen stets noch gedeutet werden müssen. Hurwitz’ Arbeit besteht darin, diese latenten Zusammenhänge manifest zu machen. So erklären sich die zu Clustern, ja Allegorien verdichteten Sequenzen aus völlig unabhängig voneinander gefilmtem Material.
In »Strange Victory« wird das Verfahren überdeutlich. Zu Beginn sehen wir zufällige, allesamt bedrückt wirkende Passanten in New York, die sich an einem Kiosk Zeitungen kaufen. Dahinein schießt Hurwitz verstörende Eindrücke von Kämpfen und Waffen des gerade gewonnenen Zweiten Weltkriegs. Das ist die traumatische Version der externen Montage – das Verdrängte kehrt zurück. Die ironische geht so: Neugeborene greifen mit ihren Patschhändchen aus, die Kamera rast einen Wolkenkratzer hoch und lässt so die Kinder nach Höherem streben. Hinter kollektiven Bildern stehen, sagt Hurwitz, »needs«, Bedürfnisse, Triebe. Das durchdeklinierte Blut im Spanienfilm, der Wechsel von wilder Natur und Denkmälern, Gewachsenem und Gemachtem in »Native Land« sind Allegorien solcher Triebe und Ansprüche der Kämpfenden und Sich-Emanzipierenden. Doch werden »needs«, sonst gäbe es sie nicht, versagt.
Dieselben Kinder, die eben noch nach den Sternen griffen, sehen sich auf einmal zurückgestutzt und abgestempelt: NXP (afroamerikanisch, christlich, protestantisch), WJ (weiß, jüdisch), WXC (weiß, christlich, katholisch). Antisemitische Aufkleber, gelynchte Afroamerikaner, verleumderische Graffiti, die Augen eines Ku-Klux-Klansman, die Augen eines rassistischen Demokraten aus dem Kongress ... Bereitet euch auf die Fakten vor, warnt der Kommentator die Neugeborenen, denn »Rassentrennung ist ein Fakt«. Nun tun einem die drolligen, strampelnden, süßen Dinger leid. Die einen werden Opfer, die andern Täter sein.
Dieser Umkehrung von hoffnungsvollen in hoffnungslose Babys steht die andere gegenüber von einem Nazi-Reich, das zerschlagen wurde, und einem noch gespenstischen, das sich in unserer Mitte zu errichten scheint. Hurwitz illustriert das ganz simpel, indem er die Nazigebäude, die am Anfang zusammenstürzten, sich per rückwärts laufendem Film wieder aufrichten lässt. Der Film ist also nicht linear erzählt, sondern aus dialektisch einander entgegengesetzten Blöcken geformt. Er verwendet, wie schon »Native Land«, nicht nur dokumentarisches Material, sondern auch Nachgespieltes.
Der Schauspieler Virgil Richardson, von dem schon die Rede war, spielt eine bittere Episode seines eigenen Lebens nach. Er gehörte zu den Tuskegee Airmen, einer am Ende 922 Mann starken Truppe von fast ausschließlich afroamerikanischen (und einigen wenigen lateinamerikanischen) Piloten, deren Aushebung Präsident Franklin D. Roosevelt nach 1941, gegen den Rat seiner Generäle, gestattete. Die Truppe errang viele Erfolge im Zweiten Weltkrieg, danach waren alle wieder arbeitslos. Hurwitz zeigt Richardson, wie er um eine Stellung anfragt und hinauskomplimentiert wird. Unter allen Bauingenieuren waren in der Nachkriegszeit 0,13 Prozent Afroamerikaner, heute sind es 6,4 Prozent, damals bildeten sie 2 Prozent der Ärzte und Zahnärzte, heute knapp 4, und so weiter, nur in den Billiglohngruppen war und bleibt der Anteil der Afroamerikaner enorm. Der Film ist, was das betrifft, in über 70 Jahren kaum gealtert. Ein Disclaimer scheint jedoch nötig: Dutzende Male kommt darin das N-Wort vor, »Strange Victory« ist also für die akademische Linke und die linksliberale Szene ungeeignet, für alle historisch und ästhetisch reflektierten Materialisten aber eine dringende Empfehlung.
Leo T. Hurwitz hat den kompletten Eichmann-Prozess mitgeschnitten und daraus eine preisgekrönte Zusammenfassung erstellt. Mit seiner zweiten Frau, Peggy Lawson, der er nach ihrem Tod seinen fast vierstündigen »Dialogue With a Woman Departed« (1972–1980) gewidmet hat, und dem 1935 mit seiner Familie aus Saarbrücken geflohenen Kameramann Manfred Kirchheimer drehte er noch etliche sehenswerte Filme, über Kunst, über Natur, über Städte und Zeichen, in denen er seine allegorische Montage noch feiner, noch breiter webt. Die Wucht von »Strange Victory«, des Films über den antifaschistischen Sieg, der doch keiner war, hat er aber nicht wieder erreicht und wohl auch nicht mehr angestrebt.
Hurwitz’ Filme gibt es neuerdings unter leohurwitz.com online zu sehen. »Strange Victory« liegt als DVD und Blu-Ray bei Milestones vor; die von Ingela Romare herausgegebene Werkausgabe ist derzeit nur in Bibliotheken verfügbar. Hinzuweisen ist auch auf die unter solidaritycinema.com abrufbaren, jüngeren antirassistischen Filme.
Stefan Ripplinger schrieb in konkret 11/20 über Paul Celan und den Literaturbetrieb