Helmut Lachenmann zum 85.
konkret gratuliert Helmut Lachenmann zu seinem heutigen 85. Geburtstag und veröffentlicht aus diesem Anlass ein Gespräch aus dem Jahr 2016, in dem sich der Komponist über Erfolg, existentielle Irritation und Kunst als Abenteuer äußert.
»Ich bin selber die Wunde«
Gespräch mit Tobias Rempe
Tobias Rempe: Helmut, erst mal herzlichen Glückwunsch – zu einem nun 13 Monate währenden 80. Geburtstag. Welches war für dich das denkwürdigste Konzert in dieser Jubelserie?
Helmut Lachenmann: Die Jubelserie ist noch lange nicht abgeschlossen. Und denkwürdig waren sie alle, jedes auf seine Weise. Immerhin: In Wiesbaden das Tubakonzert Harmonica mit dem HR-Orchester, das Schlagzeugkonzert Air und die Raumkomposition Schwankungen am Rand mit dem Ensemble Modern Orchestra und hochkarätigen Solisten wie Gérard Buquet und Rumi Ogawa im voll besetzten Kursaal an meinem Geburtstag, in ein Programm zusammengepfercht – das war eine vorher nie so intensiv erlebte kompakte Erfahrung. Aber denkwürdig auf andere Weise war auf jeden Fall kurz danach ein Konzert zusammen mit Ennio Morricone in Rom.
Mit Morricone! Das ist ja toll.
Es war ein wenig seltsam. Auf dem Programm standen neben meinem Mouvement und je einem Werk der gegenwärtigen Villa-Massimo-Stipendiaten zwei Musiken von Morricone, nämlich eine – von wem auch immer arrangierte – Suite aus der Filmmusik für Once Upon a Time in the West (Spiel mir das Lied vom Tod) und eine Komposition für Klavier und vier Bläser, eine Art Klavierquintett. Wie ich erfuhr, hat Morricone aber irgendwann den Veranstalter angerufen und gesagt: »Wenn der Lachenmann kommt, dann erlaube ich nicht, dass man die Filmmusik spielt. Dann stehe ich auf und gehe raus.« Immerhin saßen wir im Konzert einträchtig nebeneinander, Morricone und ich. Aber ich habe nicht gewagt, ihn auf seine Filmmusik anzusprechen.
Dabei magst du seine Filmmusik?
Ich mag seine Filmmusik, weil sie eine unwiderstehliche Aura hat. Rational komme ich dem nicht auf die Schliche. Ihre unmittelbare Wirksamkeit lässt mich einfach nicht gleichgültig. Wobei ich genau weiß, hier geht es um standardisierte Emotionalisierungsmittel, aber so wie er in Once Upon a Time in the West die Glocken und die Bassgitarre einsetzt, denke ich, er sollte sich zu seiner Filmmusik bekennen, denn die ist geistvoll.
Helmut Lachenmann und Ennio Morricone beim Konzert der Villa Massimo mit dem Ensemble Modern, Rom 2015
Du meidest ja eher die üblichen Kategorien U- und E-Musik, sprichst häufig lieber von Magie und Kunst. Wo würdest du denn die Filmmusik von Morricone da einordnen?
Also um schnell darauf zu antworten, flüchte ich in die Bemerkung, die ich mal gegenüber Heinz-Klaus Metzger gemacht habe, als dieser sich über die verlogenen Glücksversprechungen in der Schlagermusik moralisch entrüstete. Dem habe ich damals gesagt: Die U-Musik, die lügt ehrlich. Wir, die sogenannten »ernsten« Komponisten, wir betrügen immer wieder uns selber. Das ist viel schlimmer. Aber Morricones »Betrug« ist geistvoll. Darin spukt eine ganze Menge von klassischer Erfahrung, die bei ihm einfach nochmal innerlich erhitzt wird. Und das in Arrangements, deren technische Meisterschaft mich ebenso interessiert wie seine melodische Erfindungskraft.
Ein Hoch auf die Melodie?
Warum nicht? Wenn ich mit meinen Kindern in die Ferien fuhr, sangen wir ganz bestimmt nicht atonal … aber etwas anderes, was ich sonst nirgends finde: Die Musik Morricones lässt sich unendlich Zeit. Und jede seiner Filmmusiken ist anders, das unterscheidet ihn radikal von den meisten Filmmusiklieferanten. Ich habe Morricones Musik 1961 kennengelernt, da kam Spiel mir das Lied vom Tod in die deutschen Filmtheater. Und ich dachte: was ist das für ein Komponist? Der muss ja eine hochentwickelte Tonsatzpraxis haben – und inzwischen weiß ich, er war Schüler von Goffredo Petrassi. Und er war 1958 Teilnehmer bei den Internationalen Ferienkursen von Darmstadt.
Also Kunst?
Kunst nicht im emphatischen Sinne wie ich die Apparitions von Ligeti oder die Träumerei von Schumann für Kunst halte. Aber Kunst im Sinne von perfekter Beherrschung seiner Mittel, gekoppelt an echte Originalität. Morricone hat nicht eine neue Klangsprache erfunden. Er ist auch kein Strukturalist oder so etwas. Aber er hat nochmal diese alten Kategorien – Melodie, Harmonie und Rhythmus – in einer Weise geladen, wie ich es von keiner anderen Musik kenne. Er steht für mich in einer Reihe mit Dimitri Tiomkin, Nino Rota und Bernard Herrmann, hat aber immer irgendwie noch etwas entdeckt in Bereichen, von denen ich dachte, das ist längst abgelutscht. Es gibt doch aus der Barockmusik bei Pachelbel diesen berühmten »Basso ostinato«, und es ist klar, dass Morricone sich darauf bezieht, wenn bei Sacco und Vanzetti die Orgel einsetzt …
Du hast jetzt also Monate von Geburtstagsfeiern hinter dir, mit ganz viel Lebenswerk, Rückblick, Bilanz ziehen. Eigentlich wird da ja auch schon eingeordnet und Musikgeschichte geschrieben. Die SZ schreibt: »Lachenmanns Musik ist und bleibt eine bewusstseinsverändernde Klangdroge«, die FAZ: »Der lange Weg des 68ers durch die Institutionen ist eindrucksvoll vollendet.« Die Berliner Philharmoniker spielen dich, und selbst unter Orchestermusikern hört man fast kaum mehr ein klagendes Wort. Als Krönung hast du jetzt auch noch den Musikautorenpreis der GEMA für dein Lebenswerk bekommen und vermutlich danach mit Wolfgang Niedecken und Sido gefeiert. Fast könnte man meinen, es würde gar nicht mehr diskutiert über deine Musik. Ist dir das eigentlich recht?
Naja, was diesen Musikautorenpreis betraf – das hatte eine kleine Binnengeschichte. Nachdem man mich gefragt hatte, welche Musik von mir man bei dieser Verleihung in vier Minuten spielen könnte, und ich Vorschläge gemacht hatte, kam ein Brief mit der Eröffnung, dass man doch lieber gar nichts von mir aufführen lassen wollte, aus Rücksicht auf Gäste, die mit solcher Musik nichts anfangen könnten. Offenbar taugt meine Musik immer noch als Medium der Irritation. Und zugleich sehe ich mich inzwischen doch immer wieder kritischen Vorwürfen ausgesetzt, wieso ich so weit herunterkommen konnte, neuerdings eine Musik zu schreiben, die nicht mehr so schön hässlich klingt und in ihrer empfundenen gesellschaftskritischen Radikalität scheinbar stehengeblieben oder gar zurückgefallen ist. Es gibt ja immer noch Komponisten, die meinen, Musik könne als kompositorisch wie auch immer organisierter Widerstand gegen einen kollektiven alles beherrschenden Schönheitsbegriff gesellschaftsverändernd wirken, könne gar, wie ich neulich las, »den Finger auf die Wunden der Gesellschaft legen.« Das meinte ich vorhin mit Selbstbetrug. Mein drittes Streichquartett wird dann als Rückschritt empfunden, weil ich darin rückblickend auf entleerte Formeln zurückgreife, deren Präsenz als Ruinen so aktuell ist wie jedes mehr oder weniger faszinierende oder provozierende Geräusch. Vielleicht ist das ein bisschen vergleichbar mit Rückbezügen beim mittleren Schönberg, der, nachdem er die Zwölftontechnik entwickelt hatte, wieder einen Sonatensatz, ein Menuett oder Gigue, gar eine Musette schrieb. Das sind dann aber nicht irgendwie harmlos historisierende Neoklassizismen, sondern strukturalistisch zersetzte Skelette von überlebten aber immer noch zombiehaft überlebenden gesellschaftlichen Preziosen! Und die werden jetzt nicht mehr einfach als interessante Surrealismen in ihrer Verzerrtheit musikalisch genossen, die werden jetzt neu angeleuchtet nach dem Motto aus Shakespeares Hamlet: »Ist dies schon Wahnsinn, hat es doch Methode«.
Gut, es wird noch diskutiert – aber tatsächlich wohl eher innerhalb einer Art Inner Circle …
Es gibt für manche Leute fast so etwas wie eine Avantgarde-Idylle, in der sie sich auch wieder ganz wohl, fast wie zu Hause fühlen. Mit meiner Musik wollte ich immer in aller Ungeschütztheit in die Höhle des Löwen: in den bürgerlichen Konzertsaal. Es ging mir dabei nie um verrückte, wie auch immer provozierende Klänge oder Aktionen. Sondern immer um neue beziehungsweise neu reflektierte Kontexte, um ständige Neuorientierung des Hörens. Jede Musik sollte uns veranlassen, noch einmal über Musik nachzudenken. Das bedeutet existentielle Irritation, denn Musik als Medium magischer Geborgenheit ist unverzichtbar.
Ich möchte noch einmal zu den Jubelarien zurück. Du hast dein eigenes Denken über Kunst immer mit Bildern und Worten wie Bergwanderung, Arbeit, Widerstand …
Abenteuer!
… natürlich, Abenteuer beschrieben. Nun erlebst du, dass du zum Klassiker wirst. Was macht das mit deinem Komponieren?
Na gut, Bach und Beethoven sind auch Klassiker und können sich nicht wehren. Egal ob Klassiker oder »verkanntes Genie«: Es ist immer besser, derlei zu hören als derlei zu ignorieren. Und beim Komponieren mache ich, was ich mache, und kümmere mich nicht um meinen Heiligenschein oder meine Narrenkappe im Kulturbetrieb. Ich bin viel zu beschäftigt mit meinen klangtechnischen, kompositionspraktischen Aufgaben, Möglichkeiten, Hindernissen, Lähmungen, Befreiungen, Entdeckungen. Ich gehe jedes Mal von den unmittelbar mich umgebenden Klangerfahrungen aus. Und weiß dabei natürlich im Hinterkopf, dass sie als wie auch immer vertraute Kultur-Requisiten dieser unserer Gesellschaft angehören. Ich zitiere immer wieder den wunderbaren Werktitel von Morton Feldman: The Viola in My Life. Ich suche in jeder Komposition auf andere Weise »the music in my life«. Und gerate dabei in permanente Auseinandersetzung mit dem, was ich einst im Hinblick auf den hierzulande waltenden Musikbegriff den »ästhetischen Apparat« genannt habe. Ich arbeite gerade an einem Stück für acht Hörner mit Orchester. Acht Hörner! Wahnsinn – das hat natürlich etwas zu tun mit Wagner und mit Bruckner, mit Mahler und mit Strauss. Und mit meiner eigenen diesbezüglichen Traumatisiertheit, ich muss das alles auf meine Weise durchstoßen. Das heißt meine Klangvorstellung beziehungsweise Spekulation ist konfrontiert mit Elementen, die der bürgerlichen Musikpraxis angehören. Und ich benutze das 5-Linien System, die temperierte Stimmung, ich benutze die Einrichtung Orchester, die Einrichtung Konzertsaal mit all den zugehörigen vom Steuerzahler zu finanzierenden logistischen Voraussetzungen. Derart sensibilisiert komponiere ich: was ich hören und erleben will. Dabei stolpert das so Geschaffene vorne und hinten über die Erwartungen in unserer Gesellschaft. Und das gibt – und vor allem gab – dann immer wieder richtigen Ärger, Proteste, Eklats. Und wenn jemand sich aufregt und mir vorhält, das ist doch keine Musik, wenn der Konzertsaal nur noch zum Spielplatz von sinnlosen Basteleien wird, dann sage ich mir: Das ist mein Mann! Den muss ich gewinnen. Und wenn andere sagen, meine Musik sei »sehr interessant« – dann empfinde ich das fast als Schlag unter die Gürtellinie. Aber inzwischen kann man die Rolle als Märtyrer oder als interessanter Bürgerschreck auch jederzeit meistbietend dem Entertainment verkaufen. Da blicke ich schon durch. Also werde ich so nicht viel an gesellschaftsverändernder Energie vermitteln können. Es geht eigentlich nur, indem man für sich selber das komponiert, was man hören möchte. Mit seiner ganzen sensibilisierten Intelligenz und seinem Gespür und seiner eigenen Lust, etwas zu machen.
Ist dann der Anspruch, als Künstler die Gesellschaft zu verändern, eine Illusion?
Ich weiß, es gibt bei den jungen Komponisten immer noch – oder schon wieder – Erwartungen, die Gesellschaft wie auch immer aufzurütteln, »ihr den Finger auf die Wunde zu legen«. Ich finde das rührend und ich respektiere solche Absichten, aber deren Naivität geht auf Kosten der ästhetischen Stringenz. Und überhaupt: Wer bin ich denn, dass ich der Gesellschaft den Finger auf die Wunde lege …? Ich bin selber die Wunde.
Wie wirkt Kunst dann?
Kunst sollte begriffen und genossen werden als eine nicht kommerziell verseuchte Welt, in der wir daran erinnert werden, dass wir Geist-fähige Kreaturen sind. Wo das passiert, da wird das Hören zum Beobachten. Und wenn ich beobachte, sage ich nicht mehr, das ist gut oder das ist schlecht. Ich sage auch nicht, das ist langweilig oder interessant, sondern: was ist das? Und dabei beobachte und entdecke ich auch mich selber. Wo das passiert, fängt bei aller Begeisterung oder Verwirrung das Hören an zu denken. Nicht unbedingt intellektuell, wahrscheinlich eher mit den Nerven, aber es fängt an, zu denken. Und wo es in uns anfängt zu denken, da erwacht der Widerstand.
Ist das für dich die vornehmste Eigenschaft der Kunst? Außerhalb der üblichen Ordnung zu sein?
Die übliche Ordnung dient zur Verdrängung der inneren Unordnung, hält sie mühsam in Schach. Wir leben in einer absolut unfreien Gesellschaft. Wir sind dominiert, kontaminiert, paralysiert, anästhetisiert, gelähmt von so vielen kommerziell orientierten Einflüssen. Um uns lauert das schwarze Loch definitiver Verblödung, nicht weniger verhängnisvoll als jede Ideologie. Ich glaube, die Kunst muss in diesem System sich erkennen als Angebot von dem, was ich ein Abenteuer nenne! Als Angebot von Entdeckungsreisen des Geistes, wobei wir nicht nur unseren Erlebnis-Horizont öffnen, sondern zugleich uns erkennen als Kreaturen, die in der Lage sind, ihren Bewusstseins-Horizont zu reflektieren, und, um mit Ernst Bloch zu reden, denkend seine Begrenztheit zu überschreiten. Das ist der entscheidende Punkt. Und das ist eine Erfahrung gleichzeitig von Verantwortung und von Glück.
Vermutlich ist aber ein anderes Verständnis von Kunst verbreiteter…
Sicher! Mir scheint, dass wir in einer kunstbeflissenen aber umso mehr kunstvergessenen Gesellschaft leben, mit zum Teil verheerenden Konsequenzen, die sich spätestens dort zeigen, wo man meint, beim verordneten Sparen zuerst ansetzen zu können. Da muss man halt kämpfen, und in dem Zusammenhang sollten Komponisten auch mal den Begriff Kunst in den Mund nehmen, darüber nachdenken und sich diesem Begriff wenigstens soweit definitorisch nähern, dass er sich – wohlgemerkt mit allem Respekt – abgrenzt vom alltäglichen Unterhaltungsbetrieb. Die zentralen Begriffe, mit denen wir leben und an denen unsere Gesellschaft sich orientiert, sind Wachstum, Sicherheit und Spaß. Und den Begriff des Schönen, den bekommst Du überall nachgeschmissen. Wie schön!
Und was siehst du, wenn du ohne den Gedanken an die Wahrnehmung und Wirkung von Kunst auf die Gesellschaft blickst?
Ich sehe all diese aktuellen kollektiven Wahnsinns-Egoismen mit der damit verbundenen Angst, in irgendeiner Form die eigene Geborgenheit aufs Spiel zu setzen. Das würde bedeuten, man müsste Opfer bringen. Immerhin: Ich sehe solche Ansätze und gebe die Hoffnung nicht auf.
Aus: »›Ich bin selber die Wunde‹. Gespräch mit Tobias Rempe« (2016). In: Helmut Lachenmann: Kunst als vom Geist beherrschte Magie. Schriften 1996 bis 2019. Hg. von Ulrich Mosch. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 2020 (in Vorbereitung)
Fotos: © Villa Massimo / Alberto Novelli