Mitten unter uns
Was sind Femizide? Überlegungen zum transnationalen Kampf gegen Frauenmorde. Erster Teil. Von Koschka Linkerhand
Am 8. April 2020 wurde in Leipzig die 37-jährige Myriam Z. ermordet, mutmaßlich von ihrem Expartner. Sie war mit ihrem Baby im Auwald spazieren, einem Waldstück, das im Frühling 2020, während der coronabedingten Ausgangsbeschränkungen, zu jeder Tageszeit voller Menschen war. Der Täter fügte Myriam Z. so starke Kopfverletzungen zu, dass sie tags darauf starb. Ihr Baby blieb unverletzt.
In den folgenden Tagen war – trotz Versammlungsverbots – von feministischer Seite viel zu hören und zu sehen: Unterführungen, die in der Nähe des Tatorts in den Wald hineinführten, wurden mit weißer Farbe bestrichen, um Platz für Trauerbekundungen und politische Forderungen zu schaffen. In diesen wurde betont, dass der Mord ein Femizid war – ein Frauenmord, ermöglicht durch strukturelle patriarchale Gewalt. Entsprechend erschienen auf den geweißten Wänden die Losungen des transnationalen feministischen Kampfs gegen Femizide: »Keine mehr – Ni una menos – Non una di meno!« Daneben fanden sich Aussagen wie »Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem (Ex-)Partner ermordet« und »Femizid hat kein Herkunftsland«. Die Forderung »Schützt eure Töchter!« wurde durchgestrichen und durch »Erzieht eure Söhne!« ersetzt.
An mehreren Orten knoteten Aktivistinnen weiße Bändchen an Brückenpfeiler und Zäune: eins für jede Frau, die in Deutschland einem Femizid zum Opfer gefallen ist. Am 16. Mai veranstaltete ein feministisches Bündnis unter dem Slogan »Das Private bleibt politisch!« am Tatort eine Kundgebung mit anschließender Demonstration. Bereits seit Bekanntwerden des Mordes wird der Tatort mit Transparenten, Blumen und Kerzen als Gedenkort gepflegt. In der unmittelbaren Umgebung erschienen weitere Transparente, Plakate und Graffiti, klärten über den Femizid auf und enthielten – teils mehrsprachig – Hinweise für Opfer sowie Zeuginnen und Zeugen häuslicher Gewalt. Zwei Redakteurinnen der feministischen Zeitschrift »Outside the Box« konnten der täterzentrierten Berichterstattung von »Bild«-Zeitung und »Leipziger Volkszeitung« einen »Jungle World«-Artikel über den Femizid entgegenstellen. Zur selben Zeit berichteten überregionale Medien über die durch die Ausgangsbeschränkungen zu erwartende Zunahme häuslicher Gewalt und über entsprechende Hilfsangebote – ein Erfolg jahrzehntelanger feministischer Aufklärung.
Die explizit gegen Femizide gerichtete Aufklärung hat vor einigen Jahren die Initiative #KeineMehr angestoßen. Sie setzt sich für die Verwendung des Begriffs in der Berichterstattung sowie für eine entsprechende Erfassung in der Kriminalstatistik ein. Im Zuge des Femizids an Myriam Z. gründete sich eine Leipziger Ortsgruppe, um weitere Fälle zu dokumentieren und inner- wie außerhalb der linken Debatte über Femizide aufzuklären.
Der Begriff femicide wurde 1976 von der US-amerikanischen Aktivistin Diana Russell geprägt und ist seither vor allem in lateinamerikanischen Ländern zum Kampfbegriff geworden. In Mexiko oder Argentinien bringen Demonstrationen gegen Frauenmorde, gegen nachlässige polizeiliche Ermittlungen und für Strafverschärfungen Zehntausende auf die Straßen. Die Losung Ni una menos! (»Nicht eine weniger!«) verweist auf die kollektive Morddrohung, der Frauen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit ausgesetzt sind: von seiten ihrer Partner, Expartner oder Väter, aber auch von ihnen unbekannten Vergewaltigern, Serienmördern oder dem organisierten Verbrechen. #KeineMehr fasst die Drohung, die nur für einige Frauen wahr wird, aber alle meint, so zusammen: »Frauen* werden getötet, weil sie Frauen* sind.«
Der Kampf gegen Femizide beruft sich somit auf eine entscheidende Gemeinsamkeit innerhalb der weiblichen Subjektposition im kapitalistischen Patriarchat. Femizide sind die extreme Zuspitzung einer Kette von patriarchalen Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen – eine Kette, die unter anderem über sexuelle Belästigung in der Öffentlichkeit, Stalking, häusliche Gewalt und Vergewaltigung reicht. Das Phänomen ist, wie bereits Diana Russell feststellte, »as old as patriarchy«, verschärft sich aber in gesellschaftlichen Krisensituationen wie der Corona-Pandemie.
So kritisiert das »Transnationale feministische Manifest«, das von feministischen Gruppen aus den USA, Australien, lateinamerikanischen und europäischen Ländern unterzeichnet wurde, dass die aufgrund der Pandemie verhängten Ausgangssperren Frauen auf den häuslichen Raum verwiesen. Damit war ein erhöhtes Maß an reproduktiven Tätigkeiten verbunden (wie die Versorgung der Kleinfamilie und Homeschooling), während gleichzeitig die Gewalt durch Ehemänner und Väter zunahm. In einer gesellschaftlichen Krisensituation auf die patriarchalen Geschlechtscharaktere zurückgeworfen zu werden, endet für Frauen im schlimmsten Fall darin, Opfer eines Femizids zu werden.
In Mexiko wurden allein für den April dieses Jahres 377 Morde an Frauen statistisch erfasst – die höchste Zahl seit Beginn der Erfassung von Femiziden im Jahr 2012. In der Statistik des Bundeskriminalamts (BKA), die seit 2015 die (zumeist weiblichen) Todesopfer partnerschaftlicher Gewalt verzeichnet, wurden für dieses Jahr bis Ende April 65 von ihrem Partner oder Expartner getötete Frauen gezählt; für das gesamte Jahr 2019 waren es 135 Morde.
Die feministische Besinnung auf globale Gemeinsamkeiten des Subjekts Frau trägt dazu bei, Femizide zu politisieren. Sie hilft, ein Bewusstsein für die patriarchale Gewalt zu wecken, sich dagegen zu solidarisieren und Staat und Öffentlichkeit unter Druck zu setzen. In verschiedenen Ländern Lateinamerikas – wie Mexiko, Argentinien, Uruguay – haben feministische Kämpfe erreicht, dass Femizid als Straftatbestand beziehungsweise strafverschärfendes Merkmal in die Gesetzbücher aufgenommen wurde. Die gesellschaftliche Leugnung des Phänomens ist damit nicht vorüber: Die mexikanische Frauenrechtlerin Ana María Hernández kritisiert, dass von den 377 Frauenmorden im April 2020 nur 70 Fälle als Femizide kategorisiert werden. Dennoch setzt die Aufnahme von Femiziden in die Gesetzbücher sowie in die Berichte der Weltgesundheitsorganisation auch für die feministische Diskussion in Deutschland ein Fanal.
Ni una menos als Massenbewegung entzündete sich 2015 in Argentinien am Mord an der 14jährigen Chiara Páez. Sie wurde von ihrem Freund erschlagen, der sie anschließend mit Hilfe seiner Familie vergrub. Hunderttausende gingen auf die Straße, weil mitten unter ihnen ein junges Mädchen getötet worden war, das den Forderungen eines Mannes eine eigenständige Entscheidung entgegengesetzt hatte: Chiara Páez hatte sich geweigert, eine Abtreibung vornehmen zu lassen.
Myriam Z. hatte sich von ihrem späteren mutmaßlichen Mörder getrennt und mit einem anderen Mann ein Kind bekommen. Obwohl dieser Mord mitten unter uns geschehen ist, gibt es in Deutschland außerhalb feministischer Zusammenhänge noch keine vergleichbare öffentliche Empörung, kein breites Bewusstsein für die potentiell gegen alle Frauen gerichtete Vernichtungsdrohung. Um das zu verstehen, müssen die Differenzen zwischen den feministischen Bewegungen in Lateinamerika und in Deutschland ins Auge gefasst werden.
Die große feministische Theoretikerin Silvia Federici führt in Die Welt wieder verzaubern (Mandelbaum) aus, wie im globalen Süden das kapitalistisch-patriarchale Geschlechterverhältnis durch neokoloniale Ausbeutung verstärkt wird. Das trifft schwarze und indigene Frauen mit besonderer Härte. Die permanente ökonomische Unsicherheit eines großen Teils der Bevölkerung verstärkt laut Federici einerseits den Machismo, der sich in physischer und sexueller Gewalt gegen Frauen äußert. Andererseits verhindert sie die bürgerliche Verdrängung der reproduktiven Arbeiten in den privaten Raum, wo sie von voneinander isolierten Frauen verrichtet werden. Die Frauen drängen mit ihren Problemen und Diskriminierungserfahrungen in die Öffentlichkeit und werden zu Vorreiterinnen sozialer Kämpfe – »weil es nichts gibt, worauf sie sich verlassen können, und alles andauernd verhandelt werden muss, Kämpfe erfordert und auch gleich wieder zu verteidigen ist.« Diesen alltagsnahen, dezentralen feminismos populares liegt die Erfahrung zugrunde, dass Frauen sich in Communitys und Nachbarschaften autonom organisieren müssen, um sich gegen den Zugriff von Staat und Großkonzernen zu wehren.
Die Militärdiktaturen etwa in Chile oder Argentinien haben den Staat als Täter und Vergewaltiger ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, wie es auch in der Protestperformance Un violador en tu camino (»Ein Vergewaltiger auf deinem Weg«) der chilenischen Aktivistinnengruppe Las Tesis heißt, die transnationale Berühmtheit erlangte. Parallel zu ihrer Verwurzelung in den feminismos populares beziehen sich Las Tesis ausdrücklich auf akademische Feministinnen wie Rita Segato, die als Anthropologin an der Universität Brasília lehrt und von feministischen Kollektiven auf dem ganzen Kontinent diskutiert wird.
In vielen Kämpfen lateinamerikanischer Feministinnen zeigt sich ein spannendes
Paradox: Im Bemühen, ihre Familien zu versorgen, also ihren reproduktiven Verpflichtungen als Frauen nachzukommen, werfen Aktivistinnen grundsätzliche Fragen nach nicht mehr kolonialen oder nicht mehr kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensweisen auf, in denen Frauen nicht auf die patriarchale Rolle als Fürsorgerin und Elendsverwalterin abonniert wären. Ein zweites Paradox liegt in der Gleichzeitigkeit zweier Stoßrichtungen: Einerseits kämpfen Feministinnen (vor allem indigene) gemeinsam mit den Männern ihrer Communitys gegen den Staat, andererseits gegen die Männergewalt in den eigenen Ehen und Familien. Die Konflikte liegen sozusagen offen auf der Straße – und können gemeinsam verhandelt
werden. Die allermeisten Frauen sind alphabetisiert und haben Zugang zu städtischer Infrastruktur, Medien und Kommunikationstechnologien. Neben der Kolonialgeschichte und der ähnlichen Position lateinamerikanischer Staaten in der internationalen kapitalistischen Arbeitsteilung begünstigt der spanische Sprachraum den gemeinsamen politischen Bezugsrahmen.
Obwohl die Frauenmordstatistiken von Mexiko und Deutschland nicht unmittelbar vergleichbar sind, lassen sie erkennen, dass die Femizidrate Mexikos weitaus höher ist als die deutsche. Nach einem Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 2016 hat Honduras die weltweit höchste Rate an Femiziden, die von (Ex-)Partnern oder Familienmitgliedern verübt werden (15 Morde auf 10.000 Einwohnerinnen), während Deutschland mit 0,51 Morden leicht über dem westeuropäischen Mittelwert liegt. Auch ist hierzulande die organisierte Kriminalität kein vergleichbar großer Faktor hinsichtlich der Ermordung von Frauen.
Angesichts der besonderen gesellschaftlichen Voraussetzungen, denen die weibliche Subjektivität in Lateinamerika unterliegt, verwundert es nicht, dass wichtige Anstöße für feministische Bewegungen überall auf der Welt heute aus Lateinamerika kommen: die Forderung nach einem Frauenstreik, der Kampf für das Recht auf Abtreibung und gegen Femizide.
Eine breite feministische Selbstorganisation über Communitys und auch Generationen hinweg ist in Deutschland derzeit nicht in Sicht. Den feminismos populares steht der institutionalisierte Feminismus der Frauenhäuser und -beratungsstellen sowie der Gleichstellungsbüros gegenüber, die von Staatsgeldern abhängig sind und ihren feministischen Aktionsradius in einem kräftezehrenden Balanceakt ausloten müssen.
Genauso wie der akademische Feminismus hierzulande – eine weitere Errungenschaft der zweiten Frauenbewegung – sind feministische Institutionen an ihrer Bestandssicherung interessiert und müssen fortwährend ihre Systemrelevanz unter Beweis stellen. Das hegt den emanzipatorischen und staatskritischen Elan unvermeidlich ein. Dazu kommt, dass die feministische Theoriebildung an deutschen Universitäten nicht mehr eng mit feministischem Aktivismus verbunden ist und überdies den Bezug zu den »gelebten Realitäten von Frauen und Mädchen« (Mona Eltahawy) verloren hat. Analog beschränken sich viele Spielarten von Aktivismus auf einen kleinen, subkulturellen Rahmen und haben sich ihrerseits von der theoretischen Auseinandersetzung entfernt.
Die Diskussion über Femizide, die in Deutschland langsam anläuft, bietet einen guten Anlass, sich über die materiellen und ideellen Bedingungen feministischer Bewegungen klarzuwerden und auf dieser Grundlage den eigenen politischen Handlungsspielraum abzustecken und zu erweitern. Aus der Perspektive feministischer Theoriebildung muss es darum gehen, die Verbindung zu einem zielgerichteten Aktivismus, einer welthaltigen feministischen Praxis wieder zu vertiefen. Das Thema Femizide zeigt besonders eindrücklich: Feministische Theorie muss getragen sein vom Willen, die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen Frauen, Mädchen, Queers und rassistisch Verfolgte leiden, zu verändern. Ein gutes Beispiel bietet, neben den alten und neuen Schriften Silvia Federicis, der Band Femicide. The Politics of Woman Killing, den Diana Russell und Jill Radford 1992 herausgegeben haben. Genauso unverzichtbar ist es, die Erfahrungen und Analysen lateinamerikanischer Autorinnen wie Rita Segato und Marcela Lagarde y de los Ríos heranzuziehen.
#KeineMehr hat begonnen, die Arbeiten einiger Autorinnen und Kollektive zu rezipieren und zu übersetzen. Daran gilt es anzuknüpfen und sie im Sinne einer feministischen Subjekttheorie und -kritik weiterzudenken. Völlig klar ist, dass das Ziel einer feministischen Femizidforschung in der Politisierung und Abschaffung dieser Morde liegt, die mitten unter uns stattfinden und grundsätzlich jede Frau treffen können.
Silvia Federici: Die Welt wieder verzaubern. Feminismus, Marxismus & Commons. Aus dem Englischen von Leo Kühberger. Mandelbaum, Wien/Berlin 2020, 300 Seiten, 20 Euro
Jennifer Löcher/Lisa Buhl/Janna Tegeler: »Die Feminismos Populares und die Frauenbewegung in Argentinien«. In: »Outside the Box. Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik #7«, Leipzig 2019, 185 Seiten, 9 Euro
Jill Radford/Diana E. H. Russell (Hg.): Femicide. The Politics of Woman Killing. Twayne, New York 1992, 379 Seiten
Koschka Linkerhand lebt in Leipzig und ist Herausgeberin des Sammelbands Feministisch streiten (Querverlag)