Das Volk, der Mob und der Wahn
Sogenannte Corona-Leugner und Neonazis probten in Leipzig für den Umsturz. Eine Farce in drei Akten. Von Thorsten Mense
1. Akt
Leipzig, Samstag, 7. November. Etwa 40.000 selbsternannte Querdenker und „Corona-Leugner“ aus der ganzen Republik versammeln sich in der Stadt, um das Ende der Pandemie auszurufen beziehungsweise zu fordern. Stolze, saturierte Bürger/innen mit Kindern an der Hand, die sonst kein Elend und keine Armut auf der Welt auf die Straße treibt, die sich aber nun unterdrückt fühlen, weil ein wenig Rücksichtnahme von ihnen verlangt wird. Autoritäre Charaktere, die sich im Widerstand gegen „die da oben“ wähnen und vom Deutschen Reich und Georg Friedrich Prinz von Preußen träumen. Esoteriker/innen und Verschwörungsfans, deren Unbehagen an der Welt endlich einen Sinn und Schuldige gefunden hat. Ohne Maske, ohne Abstand, weder zum Nachbarn noch zu den Hunderten Nazis, von „Blood and Honour“ bis Götz Kubitschek, die im Schutz der Masse ein faschistisches Familienfest feiern.
Die neue deutsche Volksgemeinschaft, vereint im Widerstand gegen „Corona-Diktatur“ und „Pandemie-Faschismus“. Während auf der Bühne schlechte Liedermacher/innen von Frieden singen und den Holocaust relativieren, schwenken davor Familien Regenbogen-Flaggen und schauen den rechten Hooligans zu, die am Rande Jagd auf Pressevertreter/innen und Linke machen. Später setzt sich diese mehrere Hundert Mann starke SA an die Spitze der Bewegung. Sie prügelt ihrem Volk, das ihr mit Herzluftballons und „Love Wins“-Fahnen folgt, durch die Polizeiketten den Weg über den Leipziger Ring frei, musikalisch begleitet von Marius Müller-Westernhagens Freiheitshymne. Mit freundlicher Unterstützung der sächsischen Polizei – die das hätte verhindern können, wenn sie denn gewollt hätte – und dem Support Tausender Wutbürger/innen konnten die Nazis das Zentrum der größten Stadt des Freistaats für einen Abend zur national befreiten Zone machen. Ein perfektes Zusammenspiel der verschiedenen autoritären Milieus. Ohne die „Querdenken“-Masse im Rücken wäre das den Nazis nicht möglich gewesen, ohne die Gewalt der Nazis hätte „Querdenken“ nicht trotz Verbots über den Ring laufen können.
Der Erfolg des Tages und der Bewegung liegt genau in dieser Symbiose, wie im Nachgang in einschlägigen Telegram-Gruppen offen gelobt wird. Diese Zusammenarbeit ist keineswegs nur taktischer Natur. So bunt der Haufen, so einig ist man sich im Hass auf die, die im Hintergrund angeblich die Fäden ziehen (Bilderberger, Gates, die Juden) und einem die Freiheit verwehren (Merkel, die BRD-GmbH, die Antifa). Spätestens als sich im von Störenfrieden gesäuberten Zentrum unter Rufen von „Wir sind frei, Corona ist vorbei!“ eine Polonaise in Gang setzt, ist die Stadt vollends zur von jeder Rationalität befreiten Zone verkommen. Ein Volksfest des kollektiven Wahns, eine Manifestation der Grenzen der Aufklärung.
Die angekündigte Revolution blieb aus, doch war es für die Teilnehmenden ein gelungenes Reenactment der Leipziger Wendedemonstrationen von 1989, inklusive „Wir sind das Volk“-Rufen und deutsch-deutschem Gemeinschaftsgefühl. Auch wenn sich die Mittel der Vernunftbefreiten durchaus unterschieden – die einen warfen Küsse und Herzchen, die andern Flaschen und Pyrotechnik –, war ihnen allen jedes Mittel recht. Was man an dem Tag in Leipzig vorgeführt bekam, war das „Bündnis aus Mob und Elite, das die Geschichtsschreibung Faschismus nennt“ (Dietmar Dath), und ein Freistaatsapparat, der nicht willens ist, dem Einhalt zu gebieten.
Am Abend um halb sechs sah sich das Bündnis „Leipzig nimmt Platz“, das die Gegenproteste organisiert hatte, zu folgender Warnung gezwungen: „Wir schätzen die Lage als zu gefährlich ein. Zieht euch bitte sofort zurück.“ Aus gutem Grund: „Polizei gibt auf“, so die gleichlautende Meldung, die kurz darauf über verschiedene News-Ticker lief. Die drei Wasserwerfer und zwei Räumpanzer, die keine drei Kilometer von der temporären Machtübernahme entfernt mit laufendem Motor auf ihren Einsatz warteten, durften erst in der Nacht in Aktion treten, als in Connewitz ein paar Barrikaden brannten.
2. Akt
Der Tag darauf. Die beiden ranghöchsten Politiker des Freistaats treten vor die Kamera. Statt der erwarteten Rede über die Härte des Rechtsstaats und den entschlossenen Kampf gegen Extremisten bedauert Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) bloß leise, dass der Tag „etwas anders verlaufen“ sei als gedacht, während sein Innenminister Roland Wöller (CDU) die Riots als „Corona-Party“ verharmlost und die Polizeikräfte lobt, die für einen „überwiegend friedlichen Verlauf“ gesorgt hätten. Eine „gewaltsame Auflösung einer friedlichen Versammlung stand nicht zur Debatte“, so der Law-and-Order-Minister, der sonst nach jeder linken Demo, bei der eine Mülltonne umkippt, nicht müde wird zu betonen, dass es keine rechtsfreien Räume geben darf. Gewalttätige Ausschreitungen und Angriffe auf Polizistinnen und Polizisten habe es, wie er zu berichten weiß, erst später und nur in Connewitz gegeben. Kein Wort zu den marodierenden Nazis, zu den Angriffen auf Journalistinnen und Journalisten, zur Selbstaufgabe des Rechtsstaats. Im Gegenteil: Der Vorwurf, die Polizei habe versagt, so der Innenminister mit einer selbstherrlichen Arroganz, von der selbst Lukaschenko noch was lernen könnte, sei „unsachlich“ und „völlig abwegig“.
Keine zehn Minuten dauert diese Farce. Rückfragen sind nicht erlaubt. Selbst wer einen realistischen Blick auf die sächsischen Verhältnisse hat, muss irritiert darüber sein, mit welch gründlicher Realitätsverweigerung das Offensichtliche und tausendfach Dokumentierte einfach geleugnet wird – womit die sächsische Staatsführung durchaus den Demonstrantinnen und Demonstranten vom Vortag Konkurrenz und sich selbst ein weiteres Mal zum Gespött der ganzen Republik macht.
3. Akt
Die Tage danach. Montag nachmittag gibt das Landeskriminalamt eine Erklärung mitsamt Zeugenaufrufen raus. Es ermittele wegen schweren Landfriedensbruchs, Brandstiftung und Sachbeschädigung, ein politischer Hintergrund der Straftaten werde vermutet. Kein ungewöhnlicher Vorgang nach solch massiven Ausschreitungen. Nur: Der Verfasser ist die Soko LinX, die Ermittlungen beschränken sich auf vermeintliche linke Gewalt am Rande des „Woodstock für Nazis“ („Neues Deutschland“).
Während das LKA nach Linken fahndet, schieben sich im Laufe der Woche das Innenministerium, die Polizeiführung, die Stadt Leipzig und das Oberverwaltungsgericht, das die Versammlung entgegen dem Wunsch der Stadt im Zentrum erlaubt hatte, gegenseitig die Schuld für das Fiasko zu. Innenminister Wöller wirft der Stadtverwaltung nun plötzlich vor, zu spät gehandelt zu haben, die Eskalation sei absehbar gewesen - und liefert so selbst den Grund für seinen vielfach geforderten Rücktritt. Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) kontert öffentlich mit „Pfui, Herr Wöller. Das sagen Sie, nachdem Sie live im Lagezentrum zugeschaut haben, wie Hooligans, Nazis und andere Polizeikräfte überrennen.“
Der Aufruf aus CDU-Kreisen, die „Sorgen“ der Menschen ernst zu nehmen, darf natürlich auch nicht fehlen. Und obwohl es in der Koalition kriselt, scheinen sich Grüne und SPD, die entgegen allem Anschein in Sachsen mitregieren, bereits entschieden zu haben, sich um des Koalitionsfriedens willen auf ihre eigentümliche Rolle als Steigbügelhalter der autoritären Revolte zu besinnen. So bleibt vorerst als einzige Konsequenz die Verschärfung der Corona-Schutzverordnung, nach der nun bloß noch Versammlungen mit maximal 1.000 Menschen zugelassen sind. Eine Regel soll künftig verhindern, dass es wie am Wochenende zu zehntausendfachem Regelbruch kommt.
Das, was gerade in Sachsen zu beobachten ist, ist kein Versagen des Staates, sondern ein Putsch. Nur weiß man nicht so recht, wer hier gegen wen putscht, wie der Journalist René Loch treffend feststellt: „Nazis gegen die Regierung? Die Polizei gegen die Regierung? Die Regierung gegen die Regierung?“ Es ist in Sachsen oft schwierig, diese politischen Akteure voneinander abzugrenzen. Klar ist nur, der Freistaat hat sich vollends zu einem failed state entwickelt, dessen Verantwortliche – aus Unwissenheit, Unfähigkeit oder Sympathie für die Aggressoren – nicht bereit sind, Menschen vor dem rechten Mob zu schützen. Man wird es selbst tun müssen. Masken werden dafür nicht reichen.
Thorsten Mense schreibt in konkret 12/20 über Gewalt gegen Flüchtlinge auf der Balkanroute