LK 43

literatur konkret Nr. 43

Queer gelesen

»Es wird berichtet, dass Sie öfter Auseinandersetzungen mit anderen Zimmergenossen hatten. Ein Aggressionspotential ist bei Ihnen also vorhanden, das bei einem Homosexuellen nicht zu erwarten wäre … Weder Ihr Gang, Ihr Gehabe oder Ihre Bekleidung haben auch nur annähernd darauf hingedeutet, dass Sie homosexuell sein könnten.« Mit dieser Begründung lehnte das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Asylantrag eines jungen Afghanen ab, der wegen seiner Homosexualität verfolgt wurde. Einen entsprechenden Antrag eines Irakers schmetterte der Wiener Schwulenerkennungsdienst wiederum wegen »überzogenen ›mädchenhaften‹ Verhaltens (Mimik, Gestik)« ab.

Mit dem globalen Rechtsruck feiert die Homo- und Transphobie, die auch aus der Mitte der Gesellschaft nie verschwunden war, fröhliche Urständ. Politik gegen »Genderideologie«, Regenbogenfamilien und Ehe für alle betreibt nicht nur die AfD, sondern auch CDU-Chefi n Annegret Kramp-Karrenbauer, und Elitevertreterinnen wie Gloria von Thurn und Taxis meinen, sich schützend vor den heterosexuellen Mann stellen zu müssen. Noch heute führen Ärzte und Heilpraktikerinnen »Konversionstherapien« zur »Heilung« von Homosexuellen durch.

Die ungarische Regierung hat soeben das Studienfach Gender Studies verboten, und nachdem die regierungsnahe Tageszeitung »Magyar Idők« verkündet hatte, das Musical »Billy Elliot« verführe Jugendliche zur Homosexualität, setzte die ungarische Staatsoper das Stück ab.

literatur konkret 2018/19, das Sonderheft zur Frankfurter Buchmesse, analysiert neue und alte Ressentiments, diskutiert aber auch Widersprüche innerhalb der queerfeministischen Szene. Eine Queerlese der Neuerscheinungen (S. 17 ff.) vom schwulen Zombieschocker bis zur Hommage an Butches rundet das Heft ab.

Der Fotograf Daniel Nicoletta ist seit 40 Jahren Chronist der LGBT-Bürgerrechtsbewegung in der »gay capital of the world« und Weggefährte von Harvey Milk, der als erster offen schwuler Politiker in den USA Stadtrat von San Francisco war, bis ihn 1978 sein Vorgänger Dan White erschossen hat. Fotos aus Nicolettas Band LGBT San Francisco (Reel Art Press 2017, 304 Seiten) illustrieren das Heft.


Inhalt

  • »Meinen Tuntenstatus hat Jens Spahn nicht verändert«
    Gespräch zwischen Jule Jakob Govrin und Patsy l’Amour laLove über die zunehmende Trans- und Homophobie und die richtige Art, innerhalb der queeren Szene zu streiten

  • Die Grenzen des Spiels
    Alexandra Colligs über Widersprüche des Queerfeminismus am Beispiel seiner Kulturkritik

  • Gerecht oder Geschlecht
    Wie die Bundesregierung für geordnete Geschlechterverhältnisse sorgen will. Von Oliver Tolmein

  • »Die Deutschen lachen gerne nach unten«
    Interview mit dem Autor und Blogger Johannes Kram über »die schrecklich nette Homophobie in der Mitte der Gesellschaft« und deutschen Humor

  • Oscar und ich
    Harald Nicolas Stazol über den Schauprozess gegen Oscar Wilde als Urknall der LGBT-Bewegung

  • »Ficken heißt bei mir nicht angreifen«
    Interview mit der Rapperin Sookee über misogynen und queerfeindlichen Gangstarap, Songs für den Mainstream und die Sprache der Sexualität

  • Rezensionen

    15 konkret-Autorinnen und -Autoren stellen 16 neue Bücher vor

    -  Harald Nicolas Stazol über Boy Erased von Garrard Conley
    -  Christoph Horst über Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern von Liane Bednarz und Lucius Teidelbaums Die christliche Rechte in Deutschland. Strukturen, Feindbilder, Allianzen
    - Tina Manske über Butches. Begehrt und bewundert  von Pia Thilmann
    - Marit Hofmann über Darling Days. Mein Leben zwischen den Geschlechtern von iO Tillett Wright
    - Christina Mohr über Nackt über Berlin von Axel Ranisch
    - Geraldine Spiekermann über Anne Lister. Eine erotische Biografie von Angela Steidele
    - Sabine Lueken über »Aus dem Volkskörper entfernt?« Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus von Alexander Zinn
    - Thomas Schaefer über Verwirrnis von Christoph Hein
    - Christopher Kirschner über Die Naturalisierung des Geschlechts. Zur Beharrlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit von Gero Bauer, Regina Ammicht Quinn und Ingrid Hotz-Davies (Hg.)
    - Werner Jung über Ein Winter in Istanbul von Angelika Overath
    - Stefan Ripplinger über Die Idee der Homosexualität musikalisieren. Zur Aktualität von Guy Hocquenghem von Heinz-Jürgen Voß (Hg.)
    - Emily Philippi über Die Mitte der Welt von Andreas Steinhöfel
    - Michael Sailer über Paris-Austerlitz von Rafael Chirbes
    - Jürgen Kiontke über Queer Cinema von Dagmar Brunow und Simon Dickel (Hg.)
    - Kuku Schrapnell über Angriff der Maismenschen von Thomas Pregel