Friendly Fire
In Bayern schossen Bundeswehr und Polizei aufeinander. Von Florian Sendtner
Dass Putin kurz vor Potsdam steht, ist für den Militärhistoriker Sönke Neitzel keine Frage (siehe konkret 9/25). Nun scheinen die Russen aber in einer Art Zangenangriff gleichzeitig von Süden anzurücken, man kennt die perfide Taktik von Stalingrad. In der beschaulichen Kleinstadt Erding bei München fielen erste Schüsse, gab es einen ersten Verletzten auf deutscher Seite. Nun ja, auch die Schüsse wurden von deutscher Seite abgegeben.
Bei einem Schusswechsel zwischen Bundeswehr und Polizei wurde am 22. Oktober in Erding ein Soldat angeschossen. Anwohner hatten die Polizei alarmiert, nachdem sie am Ortsrand einen Bewaffneten gesehen hatten. Weder Anwohner noch Polizei wussten, dass es sich dabei um einen Bundeswehrsoldaten handelte, der an einer Großübung teilnahm. Der Bundeswehrsoldat hielt das Anrücken der Polizei für einen Teil der Übung und schoss auf die Beamten mit Platzpatronen. Die Polizei erwiderte das Feuer mit scharfer Munition. Gottseidank nur ein Streifschuss, meldeten die Medien, die Sache sei noch einmal glimpflich ausgegangen. Mit anderen Worten: Nichts passiert, der Mann ist ja weiterhin k. v. (»kriegsverwendungsfähig«)! Später teilten Anwälte des angeschossenen Soldaten mit, es handle sich um eine massive Gesichtsverletzung, ihr Mandant sei dauerhaft entstellt.
Für den Erdinger Landrat Martin Bayerstorfer, der als einer der Hauptverdächtigen für die »Kommunikationspanne« seine Hände in Unschuld wäscht, ist der Zwischenfall »eine absolute Katastrophe«. Den CSU-Mann nähmen sie bei der AfD mit Handkuss. Unterdessen nimmt die bayerische Polizei offensichtlich die Herausforderung an, in Ermangelung russischer Truppen auf bayerischem Boden vorerst gegen die Bundeswehr anzutreten. Der Vorsitzende des Landesverbands Bayern der Deutschen Polizeigewerkschaft, Jürgen Köhnlein, hatte gegenüber der »SZ« kaum sein Bedauern über den verletzten Bundeswehrsoldaten ausgedrückt, als er schon jegliche Humanitätsduseleien überwunden hatte und von Stolz und Genugtuung übermannt wurde: Die bayerische Polizei habe sich ja doch als »schlagkräftig« erwiesen. Die Bundeswehr ließ im Gegenzug verlauten, sie wolle »bei künftigen Übungen besser vorbereitet sein«. Beim nächsten Mal keine Platzpatronen mehr, soll das wohl heißen.
Getroffen hat es wenige, gemeint sind wir alle
In Graz statuiert die Polizei ein Exempel an der Antifa. Von Nikita Reichelt
Die Antifa ist für Rechte eine Chimäre: einerseits wohlstandsverweichlichte Individuen, die ständig Gender und Pronomen wechseln, andererseits eine Guerilla, die zugleich in Bundes- sowie Nationalrat sitzt und die Medien kontrolliert. In der Steiermark arbeitet eine Allianz aus Staatsanwaltschaft, Verfassungsschutz und rechtsextremer FPÖ-Regierung seit Monaten daran, eine Bedrohung von links zu konstruieren. Aber was ist passiert?
Nach dem Akademikerball in Graz im Januar 2025 wurde einem Burschenschafter die Couleurs-Kappe vom Kopf gerissen. Er stürzte und verletzte sich schwer. Polizei und Verfassungsschutz ermittelten wegen schweren Raubs und Bildung einer kriminellen Vereinigung. Es gab Hausdurchsuchungen, internationale Haftbefehle, Festnahmen sowie längere Untersuchungshaft. Sieben Personen galten als tatverdächtig. Die FPÖ und konservative Medien sahen in dem Vorfall einen politisch motivierten Gewaltexzess, der hartes Durchgreifen gegen »linksextreme Gewalttäter« erfordere. Burschenschaftler erschienen dabei als unschuldige Minderheit (man begebe sich auf eine kurze Internetrecherche zu deutschnationalen Burschenschaften, ihren Verstrickungen mit FPÖ, Identitären und dem Nationalsozialismus), die lediglich ungestört ihre kulturelle Identität pflegen will, der aber ständig (in bester Täter-Opfer-Umkehr) von linken Aktivistinnen und Aktivisten das Leben schwergemacht wird.
Deshalb stürmten Dutzende Polizisten, darunter die Spezialeinheit COBRA und Hundestaffeln, fünf Wohnungen, rissen Menschen aus dem Schlaf und zerschnitten Türen mit Motorsägen. Ein Beispiel, wie das staatliche Gewaltmonopol nicht nur zur Durchsetzung von Recht, sondern auch zur Einschüchterung linker Protestbewegungen eingesetzt wird. Ein Gericht beurteilte Teile eines Einsatzes später als rechtswidrig. Nun wird ein Jahr darauf der Fall vor Gericht verhandelt, um die Ereignisse der Nacht aufzuklären. Sieben Personen sind wegen schweren Raubes (Strafmaß fünf bis zehn Jahre) angeklagt. Die Repressionen haben die Beschuldigten finanziell und psychisch belastet. Ziel war wohl weniger die Aufklärung des Vorfalls als die Konstruktion einer Bedrohungslage und die Rechtfertigung weiterer Maßnahmen gegen politische Gegner/innen.
Ein Gerücht über Israel
Nicht einmal die Uno-Statistik belegt, dass es in Gaza eine Hungersnot gab. Von Jan Miotti
Den Unterschied zwischen ›Hunger haben‹ und einer Hungersnot nicht begreifen zu können, war und ist in deutschen und internationalen Medien ein Volkssport geworden«, schrieb Bernhard Torsch in konkret 9/25, und wer sich weigert mitzuturnen, zieht Diffamierung oder wenigstens Argwohn auf sich. Torsch behauptete, es gebe offensichtlich Hunger und Lebensmittelknappheit, aber – entgegen der Einstufung durch die Uno anhand der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) – eben keine Hungersnot in Gaza. Laut Uno waren zwischen der Ausrufung einer Hungersnot Stufe fünf (der höchsten) für rund 500.000 sowie Stufe vier für rund eine Million Menschen am 22. August und dem Waffenstillstand am 10. Oktober knapp über 10.000 Hungertote zu erwarten. Eine Prognose, die medial monatelang als Tatsache behandelt wurde.
Ende Oktober publizierte die Uno ihr regelmäßiges Update zur Lage in Gaza. Die Daten übernimmt sie weitgehend ungeprüft von der Hamas, die bekanntlich ihr Interesse an hohen Opferzahlen der Zivilbevölkerung geschickt mit halbwegs glaubwürdigen Angaben verschränkt. Die Welt erwartete das Schlimmste, eine bessere Gelegenheit, jeden Zweifel über die genozidale Absicht Israels auszuräumen, gab es selten. Mit welcher Zahl an »malnutrition-related deaths« unterstrich die Dienststelle für antiisraelische Propaganda die erwarteten 10.000 Hungertoten? Für den Zeitraum von Ende August bis Mitte Oktober: 192. Für den gesamten Zeitraum des Krieges: 463. Mehr waren nicht glaubwürdig.
Es ist kein Antimilitarist, wer sich bedenkenlos auf eine Diskussion über angemessene Kollateralschäden eines Krieges einlässt, und die israelische Opposition forderte von ihrer Regierung längst, so viele Lebensmittel in den Gazastreifen zu schicken, dass keine Knappheit herrscht, selbst wenn die Hamas einen Großteil davon stiehlt. Mitarbeiter von NGOs und Journalisten aber, die Gerüchte über Israel als Gewissheit in die Welt setzen, deren Widerlegung unterschlagen und unbeirrt damit fortfahren, Israel zum Bösen zu erklären, leben eine Obsession aus, die nur aus einer antisemitischen Projektion hervorgehen kann.
BUCH DES MONATS
Barbara Kirchner über Alte Frauen von Verena Lueken
Im Populismus ist der Vorwurf der Korruption ein beliebter Versuch, große gesellschaftliche Zusammenhänge in kleine Köpfe zu drücken. Das Publikum ist nach solchen Enthüllungen meistens blöder als vorher. »Politik ist ein schmutziges Geschäft« reimt sich für Deppen gut auf: »Ein starker Mann muss da mal aufräumen.«
Leider beschränkt sich diese Dummheit nicht aufs Politische. Auch in der Auseinandersetzung mit Kunst ist der Vorwurf der Korruption geläufig. Wenn du über Kunst schreibst, sei unbestechlich! Wieso denn? Wer das fordert, will, dass die in der Auseinandersetzung Dargestellten (etwa: Tänzerinnen, Malerinnen …) denen, die sie darstellen (etwa: Kritikerinnen, Schriftstellerinnen …), keine Geschenke machen. Aber Künstlerinnen sind Menschen, die viel zu verschenken haben, das gehört auch zum Wesentlichen der Darstellung, Kritik, Bewertung von Kunst.
Verena Lueken lässt sich von den Menschen, um die es in ihrem Buch Alte Frauen geht, gern was schenken. Und sie erzählt sehr aufschlussreich davon. Wir erfahren zum Beispiel, dass die Autorin einen Ausstellungskatalog der in Kuba aufgewachsenen US-amerikanischen Malerin Carmen Herrera und die darin enthaltene handschriftliche Widmung mit gemischten Gefühlen betrachtet, weil die Widmung sich auf ein Wiedersehen freut, das nie zustande kam, denn die Künstlerin ist inzwischen gestorben.
Oder die vor allem durch ihre Filme bekannt gewordene, aber in vielen Medien kunsterfahrene Weltentdeckerin Ulrike Ottinger schenkt der Autorin einen Schuber »mit zwei herrlichen Text- und vor allem Fotobänden über die traurig verstorbene Freundin« Tabea Blumenschein. Als die Künstlerin, während sie das Geschenk übergibt, von der Gefährtin redet, »füllt plötzlich«, heißt es im Buch, »wieder diese Zärtlichkeit das Zimmer, die schon bei der Erwähnung des jungen Peter Kern im Raum stand. Dann schlagen wir eines der Bücher auf und sinken in ein Fest der wilden Kostüme, der Schönheit und des Glamours, des Rausches und auch der Kunst, die sich um Grenzen zu Musik, zur Mode und Performance, zum Film und Drag nicht scherte.«
Als Filmkritikerin der »FAZ« hat Verena Lueken ihre Gefühle über Jahre so gut wie nie in einer Rezension zu Wort kommen lassen; schon gar nicht, wo ein ästhetisches Argument zu haben war, das den Platz im betreffenden Satz besser ausfüllte. Warum spricht sie jetzt in Alte Frauen immer wieder davon, wie sich die Begegnungen, wie sich Geschenke anfühlen?
Von Karl Kraus stammt die Einsicht, dass Selbstbespiegelung erlaubt ist, wenn das Selbst schön ist, aber zur Pflicht wird, wenn der Spiegel gut ist. Das gilt auch für Selfies mit Bewunderten. Man kann aus Luekens Buch lernen, wie man die permanente Personalisierung aller irgendwie personalisierbaren sozialen Fragen, die sich im Influencer-Zeitalter ausbreitet wie die Pest, nicht einfach verneint, um eine bemühte Scheinobjektivität herzustellen, sondern sie gegen den Schwachsinn kehrt, den sie sonst auslöst: Indem man zeigt, wie Bewunderung Aufmerksamkeit für Kunst erhöht.
Die größte Leistung von Alte Frauen ist, dass sich sein Titel im Text verwandelt. Dieser Titel kann übel gelesen werden: Oh je, gleich zwei biologische Kategorien auf einmal, Lebensalter und Geschlecht, und das in Zeiten, in denen das Einsortieren von Menschen nach Natureigenschaften zunehmend offizielle Politik autoritärer Regierungen (auch in sterbenden liberalen Demokratien) wird. Verena Lueken denkt anders. Sie nutzt, wenn sie deutet, was »alte Frauen« sein könnten, den Umstand, dass sie nicht nur von Film viel versteht, sondern auch von Tanz, einer körperlichen, also allerlei biologische Voraussetzungen beanspruchenden Kunst, die aber unter den richtigen Vorzeichen abstrakter sein kann als gerade das Schreiben (zumal das sentimentale). Tanz eignet sich als Modell für einen erwachsenen Umgang mit Natur, ein bewusstes Ausprobieren: »Körper im Raum. Manchmal mit, manchmal ohne Musik. Manchmal nur mit den natürlichen Geräuschen, die Füße auf Böden machen, oder dem Atmen der Tänzerinnen und Tänzer.«
Das Adjektiv im Buchtitel bezeichnet im Sinne dieser Bereitschaft zum Ausprobieren nicht einfach das, was am Ende des Lebens kommt: »Wir haben übers Altern kaum gesprochen«, schreibt die Autorin. Es geht darum, dass die Porträtierten gerade nicht mehr mit Naturzuschreibungen kämpfen müssen, die sie vom Schreiben, Malen, Tanzen, Reisen zu ihren eigenen Bedingungen abhalten würden. Es gibt einen bürgerlichen Aufsteigerinnen-Feminismus Marke Sheryl Sandberg, der biologische Zuschreibungen nur abstreifen will, um desto bereitwilliger soziale Normen (vormals »aus der Männerwelt«) zu erfüllen: Fitness, Kraft und Erfolg nach den Kriterien des Erwerbs- und Berufslebens.
Verena Luekens alte Frauen sind nicht so. Sie geraten auf Umwegen und quer zur Norm in die Anerkennung ihres Tuns. Sie sind »von Beruf« eher ihre jeweils eigene Idee von sich, weniger »Malerin« oder »Schriftstellerin«. Es ist auch eine Person dabei, die der biologistische Essentialismus nicht »Frau« nennen würde. Das Buch befreit seinen Titel konsequent von Normzuschreibungsgepäck, bis man sich sogar vorstellen kann, etwas, das weder Mensch ist noch einen Beruf hat, könnte eine interessante alte Frau sein. New York, warum nicht?
Etwas Ermutigenderes als dieses Buch gibt es für Menschen, die Normzuschreibungen nicht mögen, im Moment nirgendwo zu lesen.
Verena Lueken: Alte Frauen. Ullstein, Berlin 2025, 320 Seiten, 24,99 Euro
Meine Freiheit muss nicht deine sein
Die CSU plant, die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu beschränken. Von Stefan Dietl
Für das deutsche Kapital ist die EU ein Erfolgsgarant. Das hiesige Exportmodell basiert vor allem darauf, die europäischen Nachbarn mit Gütern deutscher Produktion zu überschwemmen. Ohne Zölle und dank des Euro sogar ohne Währungsauf- und abwertungen. Die europäische Einigung ist für den Standort Deutschland die Voraussetzung zur Durchsetzung in der internationalen Staatenkonkurrenz.
Doch das Ressentiment ist für die deutsche Politik bekanntlich oft größerer Antrieb als schnöder Mammon, und so werden aus rassistischen Erwägungen Grundprinzipien der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft trotz allem immer wieder in Frage gestellt. So derzeit einmal mehr von der CSU. Dass nicht nur Waren und Dienstleistungen ungehindert die europäische Binnengrenzen überqueren können, sondern auch deren lohnabhängige Produzenten, ist der CSU schon lange ein Dorn im Auge. »Armutsmigration«, »Einwanderung in die Sozialsysteme«, »organisierter Sozialbetrug« sind die Stichworte, unter denen sie die Arbeitnehmerfreizügigkeit, insbesondere für osteuropäische Beschäftigte, ins Visier nimmt.
»Wer betrügt, der fliegt«, hieß es einst bei Seehofer. Heute klingt es etwas feinsinniger, aber die Melodie bleibt gleich. CSU-Generalsekretär Martin Huber will »die Arbeitnehmerfreizügigkeit schützen, indem man sie einschränkt«. Das ist ungefähr so logisch, wie das bayerische Wirtshaussterben durch ein Alkoholverbot aufhalten zu wollen. Dass diese argumentative Absurdität kaum auf Kritik stößt, verdankt die CSU vor allem dem Umstand, dass sie damit die weitverbreiteten rassistischen Stereotype der deutschen Mehrheitsgesellschaft bedienen kann.
Während das Bild des Bulgaren und Rumänen, der auf der Jagd nach Hartz IV die deutschen Grenzen überquert, die Medienöffentlichkeit bestimmt, redet niemand über die Hunderttausenden osteuropäischen Arbeitsmigranten, deren gnadenlose Ausbeutung am Rande der Legalität die Grundlage für die Milliardenprofite in zahlreichen Branchen legt. Ob Spargelstechen in der deutschen Landwirtschaft, Schlachten bei Tönnies, das Schleppen von Paketen oder die Pflege von Alten und Kranken – ohne migrantische Arbeitskraft würde das »Modell Deutschland« schlicht zum Erliegen kommen.
Schade, dass wir nicht in Verhältnissen leben, in denen es den Ausgebeuteten und anschließend Erniedrigten möglich ist, einfach zu sagen: Dann macht euren Dreck doch alleine.
Einfach wertlos
Klaus Weber über ein Antikriegsbuch von Gerd Bedszent
Die »Hintergründe des Phänomens Krieg« will er erklären – marxistisch und wertkritisch. So das Vorwort. Doch die Marxsche Theorie hat zum »Phänomen« nicht viel zu sagen. Marx hat vor allem vom »inneren Krieg« kapitalistischer Staaten, vom »Bürgerkrieg« geschrieben, der in manchen »Phasen« offen zutage tritt, meist aber latent sei. Was die wertkritische Seite betrifft, so reicht es dem Autor, jeweils dann, wenn es ihm passt, den »Philosophen Robert Kurz« zu zitieren. Dieser meinte, Kapitalismus sei eine Folge militärischer Aktionen und nicht ein gesellschaftliches Verhältnis, das zur Warenproduktion ausgebeutete Arbeitskraft erheischt und »Mehrwert« (Profit) erzielen will.
Überhaupt arbeitet der Autor nach dem Prinzip: Ich stelle eine Behauptung auf und suche mir dann von Marx, Engels, Kurz oder einem mir bekannten Bücherschreiber ein Zitat raus, das dann hinreichend »belegen« soll, wie wertvoll meine Behauptung ist. Dabei unterlaufen ihm Fehler, die jedem Abiturienten null Punkte einbringen würden: Bei den Kriegsgöttern kennt er nur Männer und vergisst Pallas Athene, die (vor allem in der Ilias) große Freude am Metzeln und Schlachten zeigt; für das Ende des Ersten Weltkriegs macht er die Befehlsverweigerung einer »großen Anzahl der in die Schützengräben Gezwungenen« verantwortlich, obwohl von circa 13 Millionen deutschen Soldaten gerade mal 100.000 desertierten; die faschistische Kriegspropaganda eines Goebbels ist ihm die »bisher wohl schlimmste Konditionierung« der Massen.
Für das bereitwillige und begeisterte Mitmachen eines Großteils der Bevölkerung kann der Autor – weil ideologie-theoretisch unterbelichtet – nur »Manipulation und Repression« in Anschlag bringen. Dass – wie heutzutage – auf »Kriegstüchtigkeit« in allen Staatsapparaten vorbereitet wird (vom Kindergarten über die Hochschulen bis in die Betriebe) und diese »Botschaft« bei den Subjekten auch »ankommen« muss: Leerstelle. Und obwohl die Massen unterdrückt und manipuliert werden, gibt es »immer Hoffnung« in Form der »Gattung Mensch«. Diese soll »aktiv werden«, viel lesen und Antikriegsfilme schauen – so kann sie »die Schrecken vergangener Kriege wahrnehmen, erleben, sich warnen lassen«. Das »Bewusstsein« ist dann »gestärkt« und »eine starke Friedensbewegung« wird es schon richten: »Es ist ganz einfach.«
Gerd Bedszent: Krieg – eine Geschichte ohne En-de. Trafo, Berlin 2025, 156 Seiten, 12,80 Euro
Der Feind meines Feindes
Warum der Chefredakteur der »Jüdischen Allgemeinen« bei Springers »Welt TV« vor der Islamisierung warnt. Von Stefan Gärtner
Man muss nicht immer einer Meinung sein mit Leuten, mit denen man einer Meinung ist, und geht es vielleicht um anti-russische Propaganda und darum, an wessen Seite der heutige Nato-Partner Finnland 1944 stand (auf der falschen), dann würde ich, schon um mich nicht dem Vorwurf prorussischer Propaganda auszusetzen, den sowjetischen Überfall nicht unterschlagen, der im Nachgang des Hitler-Stalin-Pakts zum sogenannten Winterkrieg 1939/40 führte und mit Annexionen auf Kosten Finnlands endete.
Genauso hat Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der »Jüdischen Allgemeinen«, erst mal Recht, wenn es um Israel geht und darum, wie tendenziell einäugig die deutsche Berichterstattung ist und dass »fast nie erwähnt wird, was die israelische Regierung alles unternimmt, um Zivilisten zu schützen, und was die Hamas zugleich tut, um den Blutzoll der eigenen Bevölkerung in die Höhe zu treiben, damit der Krieg der Bilder gegen Israel gewonnen wird« (konkret 7/25). Und wirklich hört es ja nicht auf; »Süddeutsche Zeitung«, 1. Oktober: »Das israelische Vorgehen hat laut den Vereinten Nationen und der Gesundheitsbehörde in Gaza bereits 65.000 Palästinenserinnen und Palästinenser das Leben gekostet.« Als gehörten zum Kriegführen nicht immer zwei; und dass die Hamas hier nicht mehr vorkommt und an all den Toten ganz unschuldig ist, kennzeichnet den Stand der Ermittlungen.
In dieser Atmosphäre hat sich Engel ins »Welt TV« gesetzt, um eine »Welt«-Recherche zu kommentieren, wonach Asylanträge in Deutschland zu 90 Prozent befürwortet werden, wobei jetzt Springer unterschlägt, dass immer weniger Menschen dazu kommen, überhaupt einen zu stellen. »Wir sitzen«, sagt also Engel, »gesellschaftlich auf einem Pulverfass mit Blick auf Migration und mit Blick auf illegale Migration, und auch das bekommen die Bürger natürlich mit: Überlastung der Kommunen, Überlastung des Bürgergeldes, Überlastung der großen Vermögen«, halt, das war ein Witz, das hat Engel nicht gesagt. Gesagt hat er: »Ich bin da immer sehr dafür, uns nur aufzuhalten bei empirischen Fakten und nicht sozusagen bei der politischen Wertung dann; es gibt diese Umfragen beziehungsweise Studien, dass rund um das Jahr 2040 beziehungsweise 2050 in Deutschland dann womöglich – oder nicht womöglich, sondern voraussichtlich – es eine islamische Mehrheit geben wird«; womit er, der sich mit Wahnerzählungen doch eigentlich auskennen müsste, tatsächlich die Wahnerzählung vom Bevölkerungsaustausch weiterträgt. »Das Gros der muslimischen Bürger in diesem Land ist genauso bürgerlich wie Sie und ich, und es gibt aber innerhalb dieser Gruppe, die sehr, sehr groß ist, eine Minderheit, die dann aber wieder so groß ist, (dass sie) dieser Gesellschaft Probleme bereitet. Das Thema Kriminalität, das Thema innere Sicherheit, das Thema Antisemitismus, das Thema Frauenbilder, das Thema Nicht-arbeiten-Wollen«, und mindestens dieses Thema kenn’ ich; und möchte aber nicht ausschließen, dass es einen jüdischen Deutschen besorgen kann, wenn zu den deutschen Antisemiten noch muslimische hinzukommen. Denn zwar ist das Geschmackssache, ob man es für diskriminierend hält, Muslimen ihren Antisemitismus vorzuwerfen, wo der sich von unserem am Ende nicht unterscheidet; gleichwohl ist jeder Judenfeind einer zuviel, und ganz unverständlich ist das dann nicht, wenn Engel die Aussicht auf eine Million Muslime als Neubürger bedrohlicher findet als die auf eine Million Buddhisten.
Einer der Hauptbeschleuniger des Nahost-Zanks ist immer das vererbbare »Rückkehrrecht« gewesen, also die groteske Zumutung, die es für Israel bedeuten würde, im eigenen Staat unter »zurückgekehrten« Palästinensern – von denen die meisten das Land, in das sie da zurückkehren würden, nie gesehen hätten – als Minderheit zu leben; denn wenn man wo weiß, wie das enden kann, Minderheit unter feindlicher Mehrheit zu sein, weiß man’s da. In der Minderheit sind deutsche Juden auch, und zwar gegenüber gleich zwei Mehrheiten, und wer Angst hat, da unter die Räder zu kommen, mag hoffen, es werde bei relativer Toleranz und Miteinander unter Polizeischutz bleiben; sicherer ist der Schulterschluss mit der stärkeren Mehrheit, die das Gewaltmonopol und offiziell nichts gegen Juden hat, auch wenn darauf kein Verlass ist: So sind wir mit den Juden gegen die uns überfremdenden Kaffer, stellen uns aber sofort auf deren Seite, wenn es gegen Israel geht. Es mag die Lage der deutschen Juden kennzeichnen, dass es unterm Aspekt von Leib und Leben noch dann plausibel ist, sich als guter Deutscher zu empfehlen, wenn wir uns daran erinnern, dass auch 1933ff. die jüdischen Landsleute dachten, als gute Patrioten und Kriegsteilnehmer könnten sie doch unmöglich zu Vaterlandsfeinden und für vogelfrei erklärt werden. Kriminalität, innere Sicherheit, Antisemitismus, Frauenbilder, Nicht-arbeiten-Wollen – Engel verpackt seine Sorge in die Sorgen der Mehrheit, und ein Freund ist allemal der, der denselben Feind hat. Der Deal lautet hier: Ich mit euch gegen die Clan-Faulenzer, die ihre Frauen verschleiern, ihr mit mir gegen dieselben Faulenzer, die mich als Israeliten hassen.
Daran ist zumal das pauschale Urteil hässlich, das der muslimischen Judenfreundschaft nicht eben zuarbeitet; wer aber die Szenen vom 7. Oktober 2023 noch vorm geistigen Auge hat, als Muslime vor Freude auf Berliner Straßen tanzten, und wer die deutsche Opfererzählung kennt, die sich, kostet das israelische Vorgehen Menschen- und zumal Kinderleben, darin wiedererkennt, dass Krieg und Verderben tatsächlich stets von Juda kommen, wird vielleicht verstehen, warum sich der Chefredakteur einer jüdischen Zeitung rechts andient: Da ist die Macht. Und links, da liebt man den Islam und hasst Israel. Noch Fragen?
Stefan Gärtner schrieb in konkret 10/25 über eine üble Verrenkung der »Süddeutschen Zeitung«
Münchner Marmorschädel
Franz Josef Strauß steigt auf nach Walhalla. Von Florian Sendtmer
Als die »Süddeutsche Zeitung« das im September erschienene Hannah-Arendt-Buch von Winfried Kretschmann gebührlich beweihräucherte (»ein außergewöhnliches Politikerbuch«, weil »sich hier Macht und Geist mal ausnahmsweise auf Augenhöhe begegnen«), flocht sie, als Trost für die kritik- und distanzlose, dafür sehr humorige Besprechung, einen Seitenhieb auf den mutmaßlich neidischen Münchner Kollegen ein: »Muss Markus Söder sich jetzt bei Insta abmelden, einen kleinen Adorno-Band machen oder wenigstens einen Podcast mit Richard David Precht?«
Dabei hatte Söder die Sache längst eingetütet. Er zieht nach mit zwei Marmorbüsten, die in die Walhalla kommen sollen, den 1842 von König Ludwig I. errichteten Ruhmestempel der Teutschen, der bei Regensburg über der Donau den Athener Parthenon nachäfft. Dort oben, wo Totila und Teutelinde, Kaiser Wilhelm I. und Turnvater Jahn unbewegt über die Besucher hinwegstarren, ziehen nun, als mutmaßlich letzte »große Teutsche« im unschlagbaren Doppelpack ein: Franz Josef Strauß und Hannah Arendt. Über letztere ließ das bayerische Kabinett verlauten (ein bei Kretschmann bestelltes Diktum?): »Arendt beeindruckte als unabhängige Denkerin, deren theoretische Arbeiten und öffentliche Tätigkeit bis heute weltweit Debatten über Totalitarismus, Freiheit und politische Verantwortung prägen.« Um nicht zu sagen: Deren theoretische Arbeiten bis heute so erfolgreich für die Relativierung der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen missbraucht werden.
Zu seinem Übervater ließ Söder auf allen asozialen Kanälen am 3. Oktober, Strauß’ 37. Todestag, verkünden: »Wir gedenken Franz Josef Strauß.« Ja, Söder kann subtil sein: Auch ein fehlender Genitiv-Apostroph reicht, um in der Standarddisziplin »Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod« einen Punkt zu machen! Unter den allein bei Facebook über 1.500 zumeist zustimmend-ehrfürchtigen Kommentaren unter Söders weihevollem Gesülze folgte unweigerlich immer wieder der totalitäre Untertanenstoßseufzer: »Der hätte aufgeräumt!« Strauß’ Sonthofener Rede von 1974, nie war sie so präsent wie heute: »Und wenn wir hinkommen und räumen so auf, dass bis zum Rest dieses Jahrhunderts von diesen Banditen keiner es mehr wagt, in Deutschland das Maul aufzumachen.«
Ominöse Begegnungen
Der Altgrüne Hubert Kleinert und sein Rechtsverständnis. Von Florian Sendtner
Ich bin alles andere als ein Freund der AfD.« Ein Satz à la »Einige meiner besten Freunde sind Juden.« Das lange »Aber«, das sich an diese Beteuerungssätze anschließt, war im Fall Hubert Kleinert ein Feuilleton-Aufmacher in der »SZ«, in dem der alte Kumpel von Joschka Fischer und heutige Professor an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung in Gießen haarklein auseinandersetzt, warum der Ausschluss des AfD-Kandidaten Joachim Paul von der Wahl zum Oberbürgermeister in Ludwigshafen am 21. September völlig falsch gewesen sei. Die »Nichtzulassung der Kandidatur von Herrn Paul« sei »nicht nur rechtswidrig«, sondern »auch verfassungswidrig«, da »offensichtlich aus politischen Gründen« erfolgt. Kleinerts Fazit: »So etwas gibt es sonst nur in autoritären Systemen.«
Hubert Kleinert ist alles andere als ein Freund der AfD. Auch wenn bei der AfD die Sektkorken geknallt haben dürften angesichts solcher Äußerungen eines linksgrünversifften Staatsrechtslehrers in der »Systempresse«. Besser hätte es Horst Mahler selig nicht formulieren können! Und auch Kleinerts Argumente im Detail sind so recht nach dem Geschmack der AfD.
Der Wahlausschuss stützte sich beim Ausschluss des AfD-Kandidaten auf den rheinlandpfälzischen Verfassungsschutz, wonach Joachim Pauls Wahlkreisbüro in Koblenz im Zentrum rechtsextremer Vernetzungsbestrebungen steht; Stargast war 2023 etwa der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner, der kurz darauf der Hauptreferent der »Remigrations«-Konferenz von Potsdam war. Kleinert wiegelt ab: »Begegnungen« lediglich »mit dem ominösen Herrn Sellner«. Vermutlich kam Sellner rein zufällig bei Paul vorbei, auch die Zuhörer waren total überrascht. Und das kostet den arglosen AfD-Mann nun die OB-Kandidatur!
Jetzt stelln wer uns mal janz dumm! Das scheint Kleinerts Begriff von Rechtsstaatlichkeit zu sein. Sellners internationaler Ruhm unter Rechtsextremisten beruht darauf, dass er nachweislich engen Kontakt mit dem rechtsextremen australischen Massenmörder Brenton Tarrant pflegte und gern damit kokettiert. Man dürfe das nicht falsch verstehen, sagt Sellner, der Kontakt sei rein menschlich motiviert gewesen.
Mut zur Lücke
Leo Herrmann über das Buch Architektur der Gegenwart von Philip Ursprung
Wer in der Kunst-, Literatur- oder Musikgeschichte einen Kanon globalen Ausmaßes aufstellt, muss spätestens seit den Methodendiskussionen der sechziger Jahre mit Gegenwind rechnen. Schließlich sind Einseitigkeiten und Ausschlüsse bei solchen Synopsen unvermeidlich. Vorwürfe, eine eurozentrische Perspektive einzunehmen oder Beiträge von Frauen nicht ausreichend zu würdigen, gehen selten fehl. Entsprechende Darstellungen sind denn auch zumindest auf akademischem Niveau selten geworden.
Die Architekturhistoriografie kennt traditionell weniger derartige Skrupel, auch weil methodologische Debatten dort in der Regel mit Verspätung ankommen. Die Geschichte des Bauens wird in der Regel bis heute als eine Abfolge von Stilen erzählt – von der italienischen Renaissance über den französischen Klassizismus und die Reformarchitektur zum Neuen Bauen. Erst in den letzten Jahren hat eine Diskussion um die Berechtigung des Kanons als Werkzeug der Architekturgeschichtsschreibung eingesetzt.
Auch deshalb ist es bemerkenswert, dass sich der renommierte Schweizer Architekturhistoriker Philip Ursprung nun an ein Buch über Architektur der Gegenwart gewagt hat. Das schmale Bändchen soll einen schnellen Überblick geben und muss deshalb viele grundsätzliche Fragen gar nicht berühren: Warum beispielsweise sollte die Gegenwart gerade 1970 beginnen? Und was darf eigentlich als Architektur gelten im Gegensatz zum schlichten Bauen?
Ursprung gliedert sein Buch lose in verschiedene Themenfelder und beginnt einzelne Abschnitte oft szenisch mit Satzteilen wie »An einem grauen Frühlingstag«. So sehr er damit auch die Relativität seines Standpunktes zu betonen sucht, das Bändchen liefert tatsächlich nicht weniger als einen Kanon der Architektur seit den siebziger Jahren mitsamt dazugehöriger Meistererzählung. Die makroökonomische Entwicklung – angefangen mit der Rezession nach Ende des Nachkriegsbooms – dient dabei als Grundstruktur für ein umfängliches Architekturpanorama.
Das ist mal mehr, mal weniger überzeugend und stellenweise sogar dubios – aber gerade weil er Widerspruch provoziert, kann ein Kanon wichtig sein. Eine Absage an jeglichen Universalismus ist jedenfalls keine gute Alternative.
Philip Ursprung: Architektur der Gegenwart. 1970 bis heute. C. H. Beck, München 2025, 128 Seiten mit 41 Abbildungen, 12 Euro
Die Befreiung von Auschwitz
Stefan Gärtner über eine üble Verrenkung der »Süddeutschen Zeitung«
Es hat Gründe, dass ich die »Tagesschau« nicht zum Feierabend rechne. Am 7. September etwa waren sozusagen Israel-Wochen: Erst wurden Palästinenser in Israels Gefängnissen vergewaltigt, dann erhielt ein Film, der dagegen ist, dass Israel, aus Spaß an der Sache, fünfjährige palästinensische Mädchen tötet, in Venedig einen Löwen, und wer sich eine satirische Nachrichtensendung hätte vorstellen mögen, in der allein Israel als Superbösewicht vorkommt, hätte hier Ansätze gefunden.
Die Entwicklung zum ideellen Gesamtschurkenstaat war da aber schon abgeschlossen, dieweil Ronen Steinke, Redakteur bei der »Süddeutschen Zeitung« und promovierter Völkerrechtler, in einem Kommentar zwar Vorsicht empfahl, in Nahost von »Völkermord« zu sprechen, aber zugleich, schon um der Leserbriefredaktion Überstunden zu ersparen, das israelische »Menschheitsverbrechen« klar benannte.
Jetzt ist es also raus, und nur mein Unwille, Geschmacklosigkeit mit Geschmacklosigkeit zu kontern, bewahrt mich vor dem Verdacht, die »SZ«, die ja mal einen soliden antizionistischen Ruf hatte, habe ihre jüdischen Redakteure nicht zufällig eingestellt. Selbstverständlich glauben nur Antisemiten, Steinke sei letztlich Israeli, und selbstredend hat der Kollege keinerlei Verpflichtung, die Sache anders zu betrachten als die deutschen Gojim. Dass seine Landsleute den Juden Auschwitz nie verzeihen werden, ist aber die andere Wahrheit, es sei denn, man wäre irgendwann quitt, und den Völkermord gegen das »Menschheitsverbrechen« einzutauschen ist die Nachricht, man habe nicht Krebs, sondern bloß Alzheimer.
Denn das Menschheitsverbrechen, das ist Auschwitz, allenfalls noch Stalins Gulag. Niemand kommt auf die Idee, den Massenmord der Roten Khmer, den Vietnam-Krieg oder die 30.000 Menschen, die täglich weltweit Hungers sterben, als Menschheitsverbrechen zu bezeichnen, auch wenn Steinke das insinuiert: »In Gaza geschieht ein Menschheitsverbrechen. Egal, wie man es nennt.« Im Unsinn der Formulierung steckt bereits das, was für Adorno Meinung und Wahn verschwisterte, und Eike Geisels »Wiedergutwerdung der Deutschen« darf als abgeschlossen gelten, wenn wir unsre Juden jetzt dabeihaben.
Deutscher Gehorsam
Mit seiner Ideengeschichte Die Deutschen und der Gehorsam beleuchtet Martin Wagner eine ganz besondere Beziehung. Von Matthias Becker
Dass die Deutschen eine »schwierige« Beziehung zu Macht und Autorität haben, gilt außerhalb des deutschen Planeten für ausgemacht. Insbesondere in den Ländern der Alliierten gelten sie als unterwürfig und machtverliebt, gerne bereit, nach unten zu treten und nach oben zu buckeln. Das sind Klischees, natürlich, aber haben sie einen wahren Kern? Der Wunsch, gehorchen zu dürfen und Gehorsam zu verlangen, ist sicher keine deutsche Besonderheit. Er spielte hierzulande allerdings eine besondere Rolle. »Der Deutsche gehorcht gern«, hieß es bündig im 18. Jahrhundert, auf Grund seines »folgsamen Charakters«.
Der Germanist Martin Wagner legt eine Diskursgeschichte der letzten drei Jahrhunderte vor, mit der er nachvollziehen will, »wie über den Gehorsam gesprochen und nachgedacht wurde«. Damit ist bereits eines der beiden Kardinalprobleme dieser Untersuchung angesprochen. Es geht darin nicht darum, ob die Deutschen ihren diversen Obrigkeiten mehr und eifriger als andere Nationen gehorchten, sondern der Autor zeichnet Bedeutungsverschiebungen nach. Weil aber in der Öffentlichkeit irgendwann jeder Standpunkt und auch sein Gegenteil von irgendwem geäußert wird, entsteht ein diffuses Bild. Lob und Kritik am Gehorsam treten im Diskurs gleichzeitig auf, anders als in der geschichtlichen Wirklichkeit, die Martin Wagner in seiner Ideengeschichte eben aussparen will.
Das andere, verwandte Problem besteht darin, dass der Autor den Begriff des Gehorsams so weit fasst, dass er sich auf jedes konforme Verhalten bezieht, gleich ob bei der Arbeit, in der Familie oder beim Militär. Die »Ideengeschichte« einer so grundlegenden sozialen Tatsache ufert naturgemäß aus.
Immerhin wird deutlich, dass das Verhältnis von Reaktion/Reaktionärem und Autorität/Gehorsam verwickelt ist. Staatliche Autorität wird seit der Aufklärung von vielen Publizisten als Voraussetzung begriffen, um Herrschaft und Privilegien abzubauen. »Die Geschichte des zivilisatorischen Fortschritts in der Moderne ist die Geschichte einer Substitution von personalem durch legalen Gehorsam«, behauptet Martin Wagner – Gleichheit vor dem Gesetz gibt es nur, wenn alle Bürger gleichermaßen gehorchen, ohne unterwerfende Staatsmacht keine Demokratie.
Die antidemokratische Reaktion im 19. Jahrhunderts hielt Gehorsam jedenfalls nur bedingt für eine Tugend. Sie fremdelte mit der bürokratischen, angeblich abstrakten und lebensfremden Staatsherrschaft. Als Alternative propagierte sie charismatische Staatsmänner, die kraft ihrer Persönlichkeit und Stärke legitimiert seien, sich über Gesetze, Verfahrensregeln und Normen hinwegzusetzen. Die Sehnsucht nach dem starken Mann entspricht einer erneuten Personalisierung von Herrschaft, eine Quelle dessen, was oft als »konformistische« oder »autoritäre Revolte« verrätselt wird. So zieht sich die rechte Kritik an Anpassung und Staat über den Nationalsozialismus bis zum Rechtspopulismus von heute.
Martin Wagner verweist auf historische Begebenheiten nur, um Thesen zu illustrieren. Die strukturelle Schwäche des demokratisch orientierten Bürgertums nach der gescheiterten Revolution 1848 und die antidemokratische Orientierung der Eliten in Adel, Militär und Justiz kommen nicht vor. Auch dass der massenhafte Ungehorsam an der Front und an der Heimatfront den Ersten Weltkrieg beendete, erwähnt er nicht.
Es bleibt die unbequeme und erklärungsbedürftige Tatsache, dass von keiner anderen Nation zwei Weltkriege und ein Völkermord vergleichbaren Ausmaßes ausgingen. So unterschiedliche Autoren wie Elias Canetti, Fritz Fischer, Sebastian Haffner und Georg Lukács haben nach Erklärungen dafür gesucht. Im Gegensatz zu Wagners Ideengeschichte betrachteten sie gesellschaftliche Positionen, befassten sich mit der Vorstellungswelt verschiedener sozialer Gruppen und ihrem Verhältnis zueinander. Ohne eine solche gesellschaftsanalytische Perspektive kann bei der Untersuchung der German Weirdness kaum mehr herauskommen als Küchenpsychologie und Banalitäten über einen angeblichen Nationalcharakter, dessen Fortleben rätselhaft bleibt.
Martin Wagners Untersuchung läuft schließlich auf eine vorsichtige Rehabilitierung des Gehorsams hinaus. Er begrüßt die angeblich »neue, wertoffenere Betrachtung« des Konzepts und fordert eine Debatte darüber »wie, wo und in welchem Maß wir gehorchen wollen oder gehorchen müssen«. Das verwundert nicht, seine Doktorarbeit wurde von dem konservativen Historiker Jörg Baberowski betreut, er selbst war Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Mit antideutschen Analysen teilt der Autor das schlichte Narrativ, demzufolge im historischen Verlauf personale durch strukturelle Herrschaft ersetzt werde, was wiederum faschistische und antidemokratische Revolten auslösen soll. Aber das ist falsch, jedenfalls zum Teil. Der stumme Zwang der Verhältnisse ist nur ein Aspekt der kapitalistischen Entwicklung. Besonders im Alltag von Lohnabhängigen und ihren Angehörigen bleibt die personale Herrschaft präsent. Es öffnen sich neue Räume für Willkür und Privilegien, auch wenn letztere selten definiert und niedergeschrieben werden.
Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verflüchtigte sich der Ausdruck »Gehorsam« allmählich, nicht aber die soziale Praxis. »Vom Straßenverkehr über die Schule bis zum Steuerwesen und der Realität des Arbeitsplatzes werden wir regelmäßig mit Situationen konfrontiert, in denen uns Gehorsam abverlangt wird – wobei die Verwendung des Wortes Gehorsam hier doch heute in der Regel seltsam verstörend wirken würde.« Damit legt er den Finger in die Wunde: Die vermeintliche Entscheidungsfreiheit ist für das Selbstbild der Deutschen so wichtig wie nie zuvor in den vergangenen drei Jahrhunderten. Die Zwänge, denen sie sich beugen, werden als Tabu behandelt, bemäntelt, eskamotiert. Gehorsam wird praktiziert, aber nicht mehr so genannt.
Martin Wagner: Die Deutschen und der Gehorsam. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2025, 236 Seiten, 32 Euro
Matthias Becker schrieb in konkret 8/25 über die Zivilisationsgeschichte Ökologie der Freiheit
From the River to the Gate
Ein belgischer Karikaturist kotzt eine wüst antisemitische Zeichnung aus, wird dafür mit einem renommierten Cartoonisten-Preis belohnt, und alle Welt findet das in Ordnung. Wie der europäische Kulturbetrieb die Nazifizierung der Juden betreibt, beschreiben Dirk Braunstein und Simon Duckheim
Gibt man bei Google das Stichwort »7. Oktober« ein, ist das erste Ergebnis, wenig überraschend, der entsprechende Wikipedia-Eintrag. »Der 7. Oktober«, erfährt man dort zunächst, »ist der 280. Tag des gregorianischen Kalenders (der 281. in Schaltjahren), somit bleiben noch 85 Tage bis zum Jahresende.« Es folgt eine Auflistung von Ereignissen aus »Politik und Weltgeschehen«, beginnend mit dem Jahr 1370, in dem am fraglichen Tag sechs Schweizer Kantone irgendeinen »Pfaffenbrief« vereinbart hatten. Der letzte Eintrag in dieser Rubrik ist der zum 7. Oktober 2023: »Die Hamas überrascht Israel« – faktisch korrekt mag diese Formulierung sein, der Sache angemessen ist sie umso weniger – »mit einem Terrorangriff aus dem von ihr beherrschten Gebiet des Gazastreifens heraus, bei dem sie in Israel über 1200 Personen, mehrheitlich israelische Zivilisten, ermordet und weitere 239 Personen entführt. Der Begriff 7. Oktober steht seither auch stellvertretend für den Terrorangriff.« That’s all.
Nun blieben, wir erinnern uns, bis zum Jahresende 2023 noch 85 Tage. Mehr als genug Zeit für einen geübten Karikaturisten, das »Ereignis« nach allen Regeln des zeitgenössischen Kulturbetriebs historisch-kritisch durchzudialektisieren, um es schließlich grafisch mit dem großen Ganzen in Einklang zu bringen.
Anfang Januar 2024 veröffentlichte das flämische Nachrichtenmagazin »Knack« (das nur ein »n« von der braunen Wahrheit trennt) die Zeichnung »Gazastrook« (flämisch für Gazastreifen) des belgischen Karikaturisten Gerard Alsteens, Künstlername GAL. Sie zeigt eine Landkarte, auf der die Umrisse des Eingangstores von Auschwitz-Birkenau auf die des Gazastreifens gelegt sind. Diese Leistung, mit äußerst limitierten künstlerischen Mitteln das Weltgeschehen in jenes rechte Licht zu rücken, in dem der 7. Oktober als eine Form des Widerstands erkennbar wird, zu dem die jüdischen Opfer der Nazis sich angeblich als unfähig erwiesen hatten, bedarf selbstredend der Würdigung. Dachte sich auch die Jury des Grand Prize Press Cartoon Belgium und kürte die Zeichnung jüngst, handgestoppte 542 Tage nach ihrer Veröffentlichung – schließlich ist die Thematik aktueller denn je –, kurzerhand zur »Karikatur des Jahres«.
Wir halten das für zu tiefgestapelt und würden, hands down, die Zeichnung unsererseits für den Titel »Karikatur des Jahrhunderts« nominieren wollen, bringt sie doch auf den Punkt, woran der Auschwitz-Überlebende Jean Améry schon vor knapp fünfzig Jahren keinen Zweifel hegte, dass nämlich die »von einem hochzivilisierten Volk mit organisatorischer Verläßlichkeit und nahezu wissenschaftlicher Präzision vollzogene Ermordung von Millionen als bedauerlich, doch keineswegs einzigartig zu stehen kommen« würde. »Alles«, so Améry weiter, »wird untergehen in einem ›Jahrhundert der Barbarei‹. Als die wirklich Unbelehrbaren, Unversöhnlichen, als die geschichtsfeindlichen Reaktionäre im genauen Wortverstande werden wir dastehen, die Opfer, und als Betriebspanne wird schließlich erscheinen, daß immerhin manche von uns überlebten.« Was Améry indes aus unschwer zu durchschauenden Motiven verschwieg, ist der Umstand, dass die Nutznießer dieser Betriebspanne ihr unrechtmäßiges Überleben zum Anlass nehmen würden, es ihren Lehrmeistern von einst (mindestens) gleichzutun. Gell, GAL?
Egal. Schlimmer fast als die Karikatur selbst ist freilich der Lobpreis der Jury: »Die Zeichnung von GAL prangert die schreckliche Situation in Gaza an, wo jeden Tag Unschuldige von der israelischen Armee ermordet werden. Genauso« – in Worten: ge!nau!so! – »wie es die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs mit den Juden in ihren Konzentrationslagern« – äh, in wessen jetzt? – »getan haben.« Und weiter: »Auch wenn dieser Vergleich heftige Kontroversen auslösen kann« – nichts für ungut, aber der Drops ist längst gelutscht – »und technisch nicht zu 100 Prozent korrekt ist« – klar, wenn’s um Auschwitz geht, das trotz aller Verlässlichkeit und Präzision seinerseits der technischen Perfektion entriet, kann man schon mal, frischfrommfröhlichfrei, übern Daumen peilen (wie ja selbst Korrektheit, die keine ist, sondern halt Inkorrektheit, immer noch die Wahrheit ausplaudern kann, wenn man nur feste dran glaubt) –, »so legt er doch den Finger in eine offene Wunde und gibt Anlass zum Nachdenken.« Der Vergleich legt was? Den Finger. Wohin? In eine offene Wunde. Die da wäre? Dass der ewige Jude nichts aus der Lektion gelernt hat, die die Deutschen ihm, für alle Beteiligten schmerzlich, erteilen mussten?
Für uns persönlich gibt der Vergleich jedenfalls weniger Anlass zum Nachdenken als zum Übergeben, genauso (auch wenn diese Analogie rein technisch Luft nach oben hat), wie es die Juden laut der Jury mit jener offenen Wunde getan haben: »Indem er einen Vergleich zieht zwischen dem, was die Deutschen den Juden angetan haben, und dem, was Israel heute den Palästinensern antut, unterstreicht GAL auch das kollektive Trauma, das von den Juden« – schwuppdiwupp! – »auf die Palästinenser übertragen wurde.«
Wie man kollektive Traumata unterstreicht, wissen wir nicht. Von Freud haben wir aber auch was gelesen und schlagen die Deutung vor, dass die Palästinenser als Kollektiv eine nachgerade therapeutische Funktion für den ideellen Gesamtjuden erfüllen, der sich nach streng analytischer Technik nun an der Gegenübertragung abzuarbeiten hat, um – endlich, endlich! – seinen zwanghaften Widerstand gegen die unumstößliche Realität aufzugeben, dass er auf dieser Erde nun mal nichts zu suchen hat. Noch je hatte. Auch diese »Wahrheit« übrigens hat der Allesgalvanisierer vermöge einer technisch endlich einmal einwandfreien Fehlleistung zur Geltung gebracht, kritzelte er doch das Tor von Birkenau in ein Gebiet, das von einer Terrororganisation beherrscht wird, die, wenn man sie nur ließe, die Juden – und zwar alle! – so gern in jenes Mittelmeer triebe, in das das GAL’sche Tor geradewegs führt.
Dass Kunst nur als solche gelten kann, wenn sie einen nachhaltigen Bildungsauftrag erfüllt, hatte die Jury selbstredend ebenfalls berücksichtigt: »Die grafische Umsetzung der Zeichnung« – beziehungsweise die zeichnerische Umsetzung der Grafik, ist doch eh alles wurscht! – »ist komplex und naiv zugleich« – die Naivität ist uns auch aufgefallen, die Komplexität hat sich uns nicht erschlossen –, »wie eine Karte, die in einer Schule aufgehängt werden könnte, um zu zeigen, was dem palästinensischen Volk angetan wurde.« Jedenfalls in der Schule des Antisemitismus, Grundkurs »Geografie für angewandten Judenhass«. Wer erinnert sich nicht an die komplex-naiven Karten aus dem Erdkundeunterricht, auf denen Oświęcim einfach eine Stadt irgendwo in Polen ist? Hier wird das rasende Gefasel von Leuten, die nicht wissen noch wissen wollen, was deutsche Vernichtungslager waren, auch nicht, was ein Krieg ist und welche Unterschiede es gäbe, sich aber sicher sind, der Gazastreifen sei gleich Auschwitz, ins Bild erlöst.
Wäre das Weltbild des ausgezeichneten Karikaturisten nicht schon durch die eine Grafik zur Genüge illustriert, finden sich online noch diverse weitere, darunter ein, nun ja, »Porträt« von Anne Frank (die ja auch sonst allenthalben als Projektionsfläche für Geschichtsrevisionisten herhalten muss). Es zeigt sie mit ausgemergeltem Gesicht sowie Skeletten in den Augen, und ein Teil ihres Haarschopfes ist überzeichnet mit – exakt! – den Umrissen des Gazastreifens. »Poor Anne Frank«, so der Titel des Bildes, das im Juni 2025 auf der Webseite »Cartoons Movement« mit der Unterschrift »Anne Frank in mind … starving a population« veröffentlicht worden ist.
Was haben wir daraus zu lernen? Dass ein jüdisches Mädchen, das sich zwei Jahre lang mit seiner Familie in einem Hinterhaus verstecken musste, bis es erst nach Auschwitz und kurz vor Kriegsende – als es schon, wie eine Zeitzeugin berichtete, nur noch »ein Skelett war« – nach Bergen-Belsen verschleppt wurde, wo Anne Frank schließlich elendig krepierte, aus heutiger Perspektive als Opfer derer zu betrachten ist, die es nicht mehr gäbe, hätten die Nazis ihren Plan vollenden können. Und auch wenn dieses zeichnerisch umgesetzte Gedankenexperiment moralisch nicht vollumfänglich korrekt ist, so legt es doch den Finger in eine offene Wunde, von deren Urhebern sich Anne Frank nur darin unterscheidet, dass sie als personifizierte Unschuld ins kollektive Bewusstsein eingegangen ist. Was indes nichts daran ändert, dass sie Jüdin war und ewig bleiben wird – und gemäß einer aufgeklärten Logik, die in ihrer Perfidität nachgerade als Einmaleins des zeitgemäßen Antisemitismus gelten kann, in letzter Konsequenz ihrerseits Blut an den Händen hat. Folgerichtig hatten Unbekannte bereits im August 2024 die Hände der Anne-Frank-Statue in Amsterdam mit roter Farbe bemalt und »Free Gaza« auf den Sockel geschmiert. So nämlich!
Niemand, der noch ganz bei Trost ist, möchte gerne im Gazastreifen leben, nicht gestern, nicht heute, nicht morgen. Aber es ist Krieg, und dass auch und vor allem Unschuldige im Krieg sterben, ändert nichts daran, dass dieser am 7. Oktober 2023 begann und nicht erst, wie glauben wollen muss, wer die Israelis gleich Nazis gleich Völkermörder setzt, tags darauf. Wer aber die Geschichte Israels am 14. Mai 1948 beginnen lässt – und keinen Holocaust früher –, darf jede militärische Reaktion Israels als spontanen Ausdruck eines ganz typischen Vernichtungswillens – wie sagt man? – »lesen«. Und wird gewiss seine Gründe dafür haben, die man ebenso gewiss als antisemitisch bezeichnen darf.
Die »Jüdische Allgemeine«, die allerdings auch jüdisch ist, das heißt parteiisch, nicht wahr, sprach von einem »Eklat«. Schön wär’s, wäre’s wahr. Geschehen ist jedoch tatsächlich folgendes: Todessüchtige »Kämpfer« der Hamas haben grauenerregende Taten zumal an Frauen begangen, für die selbst die Bezeichnung »sexualisierte Gewalt« noch schönfärberisch klingt. Unausdenkliches haben die Männer aus dem Gazastreifen Frauen angetan, weil sie Frauen waren. Unvorstellbar das Männer-, Frauen- und allgemein das Menschenbild jener, die sich Leben nur als Vergewaltigungs- und Tötungspraxis denken können – eine Praxis, die Selbstzweck und zugleich Mittel zu einem höheren Zweck ist, nämlich den Opfern auf bestialischste Weise zu demonstrieren, was Adorno zufolge durch Auschwitz zur Realität geworden ist: dass es Schlimmeres zu fürchten gibt als den Tod.
Als Reaktion auf den Überfall auf Israelis in Israel jedenfalls rückt dessen Armee beim Angreifer ein, damit dieser Horror sich nicht wiederhole noch ähnliches geschehe. Als Reaktion wiederum darauf erbricht wer in Westeuropa behaglich ein Bild, das die Täter mit den Juden in den deutschen Vernichtungslagern verwechselt und die Israelis mit den Nazis. Reaktion: erster Preis in einem Zeichenwettbewerb.
Das ist kein Eklat, das ist Normalität. Und zu der gehört auch, dass das Massaker vom 7. Oktober endgültig und unmissverständlich gezeigt hat, was geschähe, wenn jene kartografische Vision, die landauf, landab unter der Losung From the River to the Sea fröhlich’ Urständ feiert, Wirklichkeit würde.
Dirk Braunstein und Simon Duckheim schrieben in konkret 5/25 über das stillgestandene Hirn von Bundeswehr-Reservisten
Rasterfahndung anno 2025
Deutsche Polizeichefs lieben Gotham, Datenschützer sind bestürzt. Wie geht es weiter mit der Datenanalyse-Software der US-Firma Palantir? Von Peter Kusenberg
Am 23. Juli 2025 erhob die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) Verfassungsbeschwerde »gegen systematische polizeiliche Datenanalysen in Bayern«. Das Werkzeug Vera, das dort zum Einsatz kommt, verwertet und verknüpft in einem als »Data-Mining« benannten Prozess riesige Datenmengen aus unterschiedlichen behördlichen Datenbanken. Der Vorwurf der GFF richtet sich gegen den unrechtmäßigen Einsatz der Software, der das Grundrecht des Einzelnen verletze, über private Daten zu bestimmen.
Vera heißt in Hessen Hessendata, in Nordrhein-Westfalen Datenbankübergreifende Recherche und Analyse (DAR). In Baden-Württemberg trägt die Software noch den Namen Gotham, unter dem das US-Unternehmen Palantir sie vermarktet. Die Regierung in Stuttgart hatte bis Ende Juli einen Dissens über den Einsatz von Gotham simuliert, damit die größere Regierungspartei, die Grünen, sich als »kritisch« inszenieren konnte. Doch, wie üblich bei jenen prinzipienlosen Gesellen, gilt nach der Einigung über die Polizeigesetz-Anpassung der bereits im März geschlossene Vertrag mit Palantir für mindestens fünf Jahre.
Jenes 2003/04 gegründete Unternehmen nutzte einen Algorithmus des Bezahldienstes Paypal, der zur Ermittlung von Online-Betrug eingesetzt wurde. Palantir, benannt nach einem der »allsehenden Augen« im Fantasy-Werk Der Herr der Ringe, wurde, wie Paypal, unter anderen von Peter Thiel gegründet, dem erzlibertären Investor aus Frankfurt, den der Satiriker Jan Böhmermann vor drei Jahren in einem martialischen Video besang: »Feel his German affection / For natural selection / Ja, ruling the world has a certain appeal.« Der gruselige Offshore-Liberalist operiert vornehmlich im Hintergrund, während Palantirs Vorstandsvorsitzender Alex Karp als das Gesicht des Unternehmens auftritt. Karp, gleichfalls Jahrgang 1967, und ebenfalls, dank seines Studiums in Frankfurt, deutsch sprechend, wirkt auf den ersten Blick einnehmend. In der Wikipedia heißt es über ihn, er sei »der Sohn eines jüdischen Kinderarztes aus New York und einer afroamerikanischen Künstlerin«. Im Dokumentarfilm des Regisseurs Klaus Stern, »Watching You – Die Welt von Palantir und Alex Karp« (2023), heißt es über ihn, er sei »einer der größten Nebelkerzenwerfer« und wolle »auf seine Art die Weltherrschaft«. Für Kai Diekmann, Ex-Chefredakteur der »Bildzeitung«, ist er folgerichtig ein »unglaublicher Typ«. In Sterns Film sagt Karp an einer Stelle, dass sein Programm »zum Töten von Menschen eingesetzt werden« könne.
Bei deutschen Ermittlungsbehörden beschränkt sich Palantirs Gotham darauf, Daten verschiedener Datenbanken miteinander zu verknüpfen und zu visualisieren, angeblich ohne Internetverbindung. Am 10. August 2025 meldete der IT-Nachrichtendienst »heise online«, dass sich die Firma »gegen Vorwürfe mangelnder Datensicherheit beim umstrittenen Einsatz ihrer Datenanalyse-Software bei deutschen Polizeien (!)« wehre: »Eine Übertragung oder ein Abfluss von Daten – etwa in die USA – ist technisch ausgeschlossen«, hieß es. Der Zugriff auf die Server in Hessen und Bayern mag aktuell beschränkt sein, doch die Schöpfer von marktbeherrschenden Programmen – das zeigt der Aufstieg von Meta, Alphabet und Amazon –sind an einer ständigen Erweiterung ihrer Macht interessiert. Peter Thiel nennt das Monopol ein Ideal seines unternehmerischen Handelns, das aktuelle Weltpolitik direkt beeinflusst. So konnte dank Palantirs Hilfe die Ukraine insbesondere in den ersten Kriegsmonaten die russischen Truppen enorm schwächen.
Seit beinahe zehn Jahren ist es staatlichen Ermittlungsbehörden erlaubt, Spähsoftware auf Smartphones einzusetzen, allerdings, das hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, nur in eklatanten Fällen mit Höchstfreiheitsstrafen ab drei Jahren. Der IT-Sicherheitsexperte Dennis-Kenji Kipker meint, die Gotham-Software bewirke einen »ganz erheblichen sicherheitspolitischen Beifang: Die sicherheitsbehördliche Datenauswertung, die bislang der begründete Ausnahmefall ist, wird dadurch zum begründeten Regelfall gemacht.«
Leider, wie »heise online« schreibt, schwindet der Enthusiasmus der Datenschützer, es werden »Aufsichtsbehörden verklagt, weil sie zu wenig tun«. Dabei wächst der Bedarf, da in den Gotham-Bundesländern jeweils mehrere tausend Beamte Zugriff auf das System haben, und dass die alle nach Terroristen fahnden, ist zweifelhaft. NRW-Innenminister Herbert Reul hält Gotham für ein »Riesending«, um Anschläge zu verhindern, der unkaputtbare Jens Spahn und Innenminister Alexander Dobrindt sind gleichfalls begeistert. »Offenkundig sieht Dobrindt sich als Lobbyist eines hochumstrittenen US-Unternehmens«, sagte Konstantin von Notz (Die Grünen) dem Magazin »Stern«. Also jammern die deutschen Palantir-Fans, ihnen seien die Hände gebunden, es gebe keine europäische Software gleicher Qualität.
Vor rund 50 Jahren ersehnte der deutsche Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), Horst Herold, eine »Superdatenbank«, wie es der bayerische Datenschutzbeauftragte Thomas Petri, Bezug nehmend auf das Überwachungs-Ideal im NS-Staat, nennt. Herold, »Computerfetischist« und Erfinder der Rasterfahndung, erklärte, »die Polizei könnte ihren Einsatz nach hochprognostischen Kriminalitätsballungen ausrichten, sie könnte zu der Zeit an dem Ort sein, an dem den Hochrechnungsergebnissen entsprechend das Verbrechen räumlich passieren muss.« Petri meint, Herold wäre begeistert gewesen von Gotham, damit hätte das BKA Folkerts, Klar und Mohnhaupt wohl schon nach 20 Minuten eingesackt – und alle Bundesbürger mit »klammheimlicher Freude« gleich mit.
Peter Kusenberg schrieb in konkret 6/25 über die digitale Offensive der Regierung Merz
»Nazis melden ihren territorialen Anspruch an«
Neonazis mobilisieren gegen queere Gedenk- und Festdemonstrationen, die unter dem Namen Christopher Street Day (CSD) stattfinden. konkret sprach darüber mit Eike Sanders vom antifaschistischen Autor*innenkollektiv Feministische Intervention (AK Fe.In)
konkret: CSDs gibt es in Deutschland seit 1979. Nazi-Mobilisierungen dagegen sind erst seit 2024 in die Schlagzeilen geraten. Wurden CSDs vorher tatsächlich in Ruhe gelassen?
Eike Sanders: CSDs und die daran beteiligten Personen wurden in der extremen Rechten immer schon als feindlich wahrgenommen. Und klar ist, dass es auch in ihrer Anfangsphase Nazi-Mobilisierungen gegen CSDs gab. Seit mindestens 2019 führt die neonazistische Kleinstpartei Der Dritte Weg die Kampagne »Homopropaganda stoppen« durch. Ihre Aktionen blieben aber unter dem Radar. Was wir nun sehen, ist, dass mit neuen Gruppen von Neonazis eine neue Dynamik entstanden ist: Es ist letzten und diesen Sommer zu wesentlich größeren Mobilisierungen gekommen, und sie fanden in ganz Deutschland statt.
Die größte Mobilisierung mit rund 700 Nazis war 2024 in Bautzen. Wie kam es zu diesem Ansprung?
Antifeministische und queerfeindliche Einstellungen sind schnell abrufbar. 2024 musste niemand eine Kampagne konzipieren, um Leute zu überzeugen. CSD-spezifische Parolen waren 2024 noch eher die Ausnahme. Viel eher hörte man »Hier kommt der nationale Widerstand«, »Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen« und dergleichen. In Bautzen 2024 stand auf dem Fronttransparent der neonazistische Hegemonieanspruch programmatisch zusammengefasst: »Weiß, normal und hetero«. Das verdeutlicht, dass die CSDs als Ausdruck einer feministischen, antirassistischen, demokratischen, links-grün-versifften Zivilgesellschaft gesehen werden. Gegen diese melden die jungen Neonazis einen territorialen Anspruch an. Es geht ihnen um eine rechte Raumnahme, und CSDs scheinen ihnen dafür der richtige Angriffspunkt. Auf dieses Jahr hin hat sich der Auftritt professionalisiert, und man sieht vermehrt Transparente, die spezifisch für den Event gemacht wurden.
Wie erklären Sie diese neue Dynamik in der extremen Rechten?
2023/24 sind sehr viele Neonazi-Gruppen entstanden, vor allem mit jungen Leuten. Sie haben vereinzelt Kontakte zu bekannten Organisationen, zu Überresten der NPD, die mittlerweile Die Heimat heißt, oder zur JN als Jugendorganisation mit Spin-offs wie der Elblandrevolte, die in Bautzen, Görlitz und Dresden maßgeblich an der Mobilisierung beteiligt war. Heute stehen auch die Kinder der Nazi-Kader, die wir aus den neunziger Jahren kennen, auf der Straße. Soziale Medien spielen ebenfalls eine Rolle. Auf Tiktok gibt es eine rechte Subkultur, die sehr viel breiter Wirkung erzielt. Auffällig ist das kollektive Leitbild einer jungen gewaltbereiten Männlichkeit, die sich in sexistischen, queerfeindlichen und rassistischen Posts ausdrückt. Soweit wir aber sehen, entsteht der Erstkontakt nicht im Netz. Man kennt sich, wo nicht aus der Familie, aus der Schule oder aus Sportvereinen, und da vor allem aus Fussballfangruppen. Es ist also der gesamtgesellschaftliche Aufschwung der extremen Rechten durch alle Sozialisierungsinstanzen des Alltags, der sich auf die Einstellungen der Jungen auswirkt.
Die Mobilisierungen dürften also zunehmend Erfolge verzeichnen?
2025 blieb der »Erfolg« von Bautzen 2024 aus. Zwar war dort dieses Jahr mit rund 450 Nazis wieder der größte Aufmarsch gegen CSDs, aber schon merklich weniger. Außerdem begleitete eine eigens organisierte queerantifaschistische Gegendemonstration die Parade, die dafür sorgte, dass Nazis nicht direkt im Nacken der CSD-Teilnehmenden gehen konnten, wie es die Polizei auch dieses Jahr zuließ. Und doch wird leider viel bleiben: Eine neue Generation von Nazis hat Lernerfahrungen gemacht, ihre Sozialisierung wird dahingehend bestärkt, dass es für sie normal wird, am Wochenende irgendwo hinzufahren, um zu schauen, wen sie zusammenschlagen oder wenigstens, wem sie mit Gewalt drohen können, und sie konnten einmal mehr ihren territorialen Anspruch anmelden.
Und die CSDs?
Dort gibt es eine besorgte Stimmung, aber auch eine kämpferische. Auch in diesem Jahr sind weitere Veranstaltungen dazugekommen, teilweise in kleinen Städten, wo es noch nie einen CSD gab. Und wir sehen, dass sich viele CSDs ein politischeres Motto gegeben haben, beispielsweise »Nie wieder still«. Das Bewusstsein, dass queeres Leben angegriffen wird, ist da, und man geht in die Offensive.
Antifeminismus und Queerfeindlichkeit werden auch aus der sogenannten Mitte heraus praktiziert. Wie wirkt sich das auf die CSDs aus?
Solange die Bundesregierung der AfD nach dem Mund redet und handelt, werden die jungen Nazis, wie es in den Neunzigern der Fall war, sich als Vollstrecker des Volkswillens sehen. Dazu gehören auch Merz’ Aussage vom »Zirkuszelt« oder dass Klöckner der queeren Gruppe der Bundestagsverwaltung die Teilnahme am CSD in Berlin untersagte. Und es hat natürlich Auswirkungen auf CSDs, wenn die Regierung sicher geglaubte, feministische oder queerpolitische Errungenschaften in Frage stellt oder gar zurückdreht. Die meisten Medien und auch die Verwaltungen nannten die Nazi-Mobilisierungen »Gegendemonstrationen«, als ob sie eine legitime Meinungsäußerung darstellen. Dadurch ist etwas entstanden, das vor 2024 nicht so war. Nämlich, dass die Existenz eines CSDs verhandelbar ist, dass es Pro und Contra gibt, dass es lokalen Behörde offensteht, CSDs nicht zu genehmigen oder absurde Auflagen zu erlassen. Nazis sind dann längst nicht das einzige Problem für queeres Leben.
Ein Zwischenfazit Eike Sanders Recherche, veröffentlicht auf dem Portal NSU Watch, finden Sie hier.
Putins Pyrrhussieg
Ein »Deal« zwischen Russland und den USA wäre für Russland bei weitem nicht so vorteilhaft, wie es der europäische Mainstream darstellt. Von Reinhard Lauterbach
Mitte August, als diese Zeilen geschrieben wurden, war nicht klar, was aus dem Putin-Trump-Gipfel in Alaska und dem anschließenden Auftritt der versammelten Ukraine-Unterstützer aus Europa in Washington in Sachen Beendigung des Ukraine-Konflikts tatsächlich herauskommen würde. Ein schneller »Deal« war ohnehin unwahrscheinlich angesichts des hinhaltenden Widerstands, den gerade die EU und ihre größeren Mitgliedsstaaten allem entgegensetzen, was in ihren Augen wie der kleinste Vorteil für Russland aussieht. Aber selbst in dem Fall, dass die USA die russischen Friedensbedingungen im Kern annehmen sollten und die »Europäer« verstünden, dass sie dem nichts Ernsthaftes entgegenzusetzen haben, wäre die Lage Russlands im Anschluss bei weitem nicht so triumphal, wie es westeuropäische Kommentatoren als Schreckensszenario an die Wand malen.
Denn was hätte Russland in diesem Fall gewonnen? Etwa 120.000 Quadratkilometer schwer zerstörtes Land mit einer Bevölkerung, deren Loyalität vor allem in den besetzten Teilen der Bezirke Cherson und Saporischschja mit einigen Fragezeichen zu versehen ist. Ein Wiederaufbau, der Abermilliarden kosten und Jahre oder auch Jahrzehnte dauern würde. Kurz: Russland hätte wirtschaftlich einen schweren Klotz am Bein gewonnen. Die Vorkommen an Lithium und anderen strategischen Metallen im Donbass, aus deren Verkauf sich der Wiederaufbau vielleicht anteilig finanzieren lassen könnte, sind zwar geologisch seit Jahrzehnten nachgewiesen, aber bis heute nicht ansatzweise erschlossen.
Von der »Demilitarisierung« und »Denazifizierung« der Ukraine hat Wladimir Putin zuletzt nicht mehr gesprochen – es sieht so aus, als ob er sich damit abgefunden habe, dass Russland einen feindseligen und angesichts der vermutlich nicht zu umgehenden Gebietsverluste zum Revanchismus angestifteten südwestlichen Nachbarn behält. Was Russland versucht, ist, diese absehbare Gegnerschaft der Ukraine auf einem für Moskau militärisch handhabbaren niedrigen Niveau zu halten. Ob das gelingt, ist mehr als fraglich; die ukrainische Armee ist heute kriegserfahren und nach Urteilen militärischer Fachleute die kampfstärkste in Europa westlich von Russland. Darauf, dass die Ukraine ihre Armee freiwillig reduziert – auch aus finanziellen Gründen –, braucht Russland nicht zu hoffen, und das schon deshalb, weil Horden enttäuschter demobilisierter Soldaten ein ähnlicher innenpolitischer Unruhefaktor wären wie die Freikorps in der frühen Weimarer Republik.
Auf irgendwelche Bündnispartner in der politischen Klasse der heutigen Ukraine kann Russland nach heutigem Stand nicht setzen; Kräfte, die vor 2022 als »prorussisch« galten, sind aus dem politischen Feld eliminiert, ihre führenden Vertreter leben im Moskauer Exil oder haben ihre politische Aktivität eingestellt. Ihre Chancen auf eine Massenbasis dürften angesichts der Zerstörungen, die der Krieg gerade in den östlichen – und früher tendenziell russlandfreundlichen – Teilen der Ukraine angerichtet hat, aller Wahrscheinlichkeit nach als bestenfalls gering einzustufen sein. Wenn Russland versuchen sollte, sich die Loyalität der Bevölkerung in den eroberten Gebieten durch Sozialleistungen zu kaufen, wird das irgendwann auf politischen Widerstand in der Bevölkerung im »alten« Russland stoßen, die auch nicht auf Rosen gebettet ist und nicht auf Dauer irgendwelche Solidaritätsopfer wird bringen wollen.
Wie Russland seine sicherheitspolitischen Interessen – im Kern, sich die Nato vom Hals zu halten – vertraglich garantieren will, ohne permanenten militärischen Druck ausüben zu müssen, ist nicht minder unklar. »Die Europäer« werden einige Kreativität entwickeln, alle Demilitarisierungs- und Neutralisierungspläne zu unterlaufen. Denn für sie wäre mit einem Misserfolg in der Ukraine schon der erste Versuch, wenigstens vor der eigenen »Haustür« Weltmacht zu spielen, gescheitert. Und auf die Treue der USA gegenüber einem eventuellen Friedensvertrag zu vertrauen, wäre auch einigermaßen leichtfertig. Russland würde also auch bei einem »Deal« nicht darum herumkommen, erhebliche Teile seiner Streitkräfte zur Grenzsicherung nahe der Ukraine stationiert zu halten – wodurch sie zur Machtprojektion an anderer Stelle fehlen würden. Auch in diesem Fall würde eine Überlegung wahr, die der private Nebengeheimdienst Stratfor im Herbst 2013 anstellte – kurz bevor EU und USA den Euromaidan lostraten: Russland durch »trouble in its backyard« von einer an anderer Stelle raumgreifenden Politik – wie damals in Syrien – abzuschrecken. Trumps »Deal«-Szenario macht da offenbar keinen großen Unterschied in der allgemeinen Stoßrichtung.
Im übrigen gilt alles, was Donald Trump Wladimir Putin vielleicht zusagen mag, nur für ihn selbst und in geringerem Maße für seine Partei, die auch ihren »Falkenflügel« hat. Im Fall, dass die nächste US-Präsidentenwahl wieder die Demokraten gewinnen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch eine auf Ausgleich mit Russland zielende US-Politik wieder revidiert würde. Und sei es im Namen des ideologischen Arguments der »Bekämpfung von Autokraten«. Ganz abgesehen von Trumps notorisch sprunghafter Natur und der Tatsache, dass er Russland gerade erst im Südkaukasus einen heftigen Tritt vors Schienbein verpasst hat: durch den Anspruch, unter US-Regie eine direkte Straßenverbindung von Aserbaidschan durch armenisches Territorium in dessen Exklave Nachitschewan und weiter bis in die Türkei – und natürlich auch umgekehrt von der Türkei zum Kaspischen Meer – zu bauen und diese von amerikanischen Söldnerfirmen »sichern« zu lassen. Das würde den Zugriff der USA auf die zentralasiatischen Rohstoffvorkommen ermöglichen, die bisher über das russische Leitungsnetz exportiert werden, womit Moskau die Hand am Regler behält – und wäre ein empfindlicher Rückschlag für Russlands Position im Südkaukasus.
Zusammengefasst: Russland hat den Ukraine-Krieg begonnen wie nach dem Lehrbuch von Clausewitz: als »Fortsetzung der Politik unter Einmischung anderer Mittel«. Wie es von diesen »anderen Mitteln« jetzt wieder herunterkommen will, ohne an seinen politischen Zielen Abstriche zu machen, ist derzeit kaum absehbar. Genausowenig, welche innenpolitischen Folgen das für das System Putin haben könnte.
Mars macht mobil
Thomas Schaefer über Douglas Rushkoffs Abrechnung mit den Tech-Oligarchen
Derzeit scheint es so, als müssten sich Trump, Musk, Thiel, Bezos und Konsorten vor nichts und niemandem fürchten – außer vor den Konsequenzen ihres eigenen Handelns. Was es mit »Longterminism«, mit der aufs Armageddon abzielenden Parareligiosität von Trumps »Vordenker« Steve Bannon, dem »Technofaschismus« et cetera auf sich hat, weiß man mittlerweile. So krankt denn auch das vieldiskutierte Buch des »Medientheoretikers« Douglas Rushkoff daran, dass es Dinge repetiert, die nicht nur bekannt, sondern in manchen Aspekten bereits überholt sind (etwa die volatile Position Musks im amerikanischen Machtapparat betreffend). Problematischer ist, dass Rushkoffs Analyse mitunter etwas oberflächlich ist und merkwürdig zu Naturüberhöhung und Aufklärungsfeindlichkeit neigt. Und es gehört fast schon zum unvermeidlichen Wesensmerkmal solcher Bücher, dass sie dünn werden, wenn es um Krisenauswege geht. Rushkoff jedenfalls folgt einer gegenwärtig offensichtlich beliebten These, derzufolge alternative Lebensformen in kleinen Einheiten wie etwa der Nachbarschaft den Königsweg darstellen.
Dass es sich dennoch lohnt, Survival of the Richest zu lesen, liegt daran, dass eine Schwäche gleichzeitig die Stärke des Buches ist: Es ist sehr unterhaltsam, in diesem typisch amerikanischen Sound gehalten, der flott daherkommt und den Eindruck vermittelt, der Autor habe wirklich Ahnung, nicht zuletzt, weil er immer dabei ist, wenn es spannend wird. Das gilt gleich für die erste Episode, in der Rushkoff irgendwo in der Wüste zu einem Vortrag vor ausgesuchten Milliardären eingeladen wird. Sie haben allerdings kein Interesse an seinen grundlegenden Erkenntnissen zu Digitalisierung und so weiter, sondern wollen aus Expertenhand erfahren, ob sie sich auf ihre Security verlassen können, wenn es zum Armageddon kommt, welche Bunkertypen zu empfehlen sind und dergleichen mehr. Insiderschnurren wie diese sind tatsächlich dazu geeignet, Probleme zu konkretisieren, und wenn sie dazu beitragen, dass Leute, die sich bislang nicht mit den »Richest« beschäftigt haben, mehr wissen als zuvor, ist das ja auch in Ordnung.
Douglas Rushkoff: Survival of the Richest. Warum wir vor den Tech-Milliardären noch nicht einmal auf dem Mars sicher sind. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp, Berlin 2025, 282 Seiten, 22 Euro
Kritik der Politik – kurzer Lehrgang
Zum hundertsten Geburtstag von Johannes Agnoli ist ein Buch über seine politische Theorie erschienen. Von Axel Berger
Der Marxismus ist nicht die Lehre von den Revolutionen, sondern die Lehre von den Konterrevolutionen«, schrieb einst Amadeo Bordiga. Denn, so der von Stalin geschasste erste Vorsitzende der Kommunistischen Partei Italiens weiter, »alle wissen sich zu bewegen, wenn sich der Sieg abzeichnet, jedoch nur wenige wissen dies zu tun, wenn die Niederlage kommt, sich kompliziert und andauert«. Isolation und Verzweiflung, vor allem aber fehlende analytische Klarheit, und nicht etwa plumpe Vorteilsnahme, seien die Grundlagen des Opportunismus. In der Tat war und ist das Wühlen der wenigen Anhänger/innen einer klassenlosen Gesellschaft in nicht-revolutionären Zeiten meist weniger von historisch-materialistisch begründeter Strategie als von taktischen Winkelzügen geprägt: Wählen des kleinsten Übels, Märsche durch fremde Institutionen, fragile Bündnisse mit ihren eigentlichen Gegnern, isolierte Kampagnen gegen die größten Zumutungen, (sub-)kulturelle Selbstbehauptung.
Einer der wenigen marxistischen Intellektuellen, der sich substantiell mit diesem Dilemma und seiner Basis – der Analyse des bürgerlichen Staats – befasste, war Johannes Agnoli. Am Anfang stand für ihn die Illusion: »Es liegt eine Faszination in der Vorstellung, das Proletariat bemächtige sich gerade der demokratischen Staatsorgane, die von der Bourgeoisie zwar in die Geschichte eingeführt, von ihr aber aufgegeben und verraten worden sind«, schrieb der 1925 in den italienischen Dolomiten geborene und jahrelang an der Berliner Freien Universität lehrende Politikwissenschaftler 1968; um anschließend zu verdeutlichen, dass er diese Faszination ganz und gar nicht teile.
Überraschend war das nicht. Im Jahr zuvor hatte der bis dahin weitgehend unbekannte Agnoli mit seiner Schrift Die Transformation der Demokratie einen der zentralen Orientierungspunkte für die im Entstehen begriffene Außerparlamentarische Opposition (Apo) vorgelegt. Darin hatte er die Tendenz des parlamentarischen Verfassungsstaates zur »Involution«, der Transformation demokratischer Rechte zur Nutzung als reine Herrschaftstechniken, aufgezeigt. Der Sinn bestehe letztlich darin, heißt es weiter, »einen Zustand des sozialen Friedens zu garantieren, in dem gesellschaftlicher Antagonismus und politische Opposition entkräftet« würden. Nicht im Parlamentarismus, sondern nur in den Kämpfen gegen ihn könnten die Besitzlosen also ihre Emanzipation erreichen.
Acht Jahre später legte Agnoli nach. Sein zweites Buch, Der Staat des Kapitals – das Gesamtwerk besteht neben diesen beiden Schriften lediglich aus kaum zwei Dutzend Aufsätzen sowie seiner von einem Studenten mitgeschnittenen Abschiedsvorlesung –, stellt trotz des geringen Umfangs von kaum siebzig Seiten die bis heute vielleicht konziseste marxistische Analyse des Wesens des »ideellen Gesamtkapitalisten« (Friedrich Engels) dar. Dieses Wesen bestand für ihn vor allem darin, dass die Handlungsfähigkeit des formal gegenüber einzelnen gesellschaftlichen Gruppen autonomen Staats völlig »vom Zwang zur Verwertung und Akkumulation« abhängig sei. Damit aber wäre die grundsätzliche Richtung staatlicher Politik, allen partikularen Aushandlungsprozessen zum Trotz, immer gesetzt: »Die Herren des Staates üben Macht über das Volk aus; und keine gesellschaftliche Herrschaft, die sich gegen die Herren der Ökonomie kehren könnte.« Nur der »auf der gesellschaftlichen Ebene und in der unmittelbaren Produktion vorangetriebene Angriff gegen das Kapital und seinen Organisator« könne den »regenerativen Charakter« des Kapitalismus sprengen, so Agnolis Fazit.
Angesichts solcher Sätze verwundert es nicht, dass sich der 2003 Verstorbene in den Jahren der Krise und der Domestizierung der Linken zu den vielen Vergessenen gesellt hat. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Politologe Michael Hewener zum hundertsten Geburtstag Agnolis nun eine kurze Sammlung von Texten samt biografischer Einleitung vorgelegt hat. Hewener, der auch für die neue fünfbändige Werkausgabe mitverantwortlich ist, beschreibt darin die Genese des jungen Faschisten und Wehrmachts-Freiwilligen zum Marxisten und dessen politisches Wirken in der Apo und an der Universität, gibt aber auch einen Einblick in die »Kritik der Politik«, als die Agnoli seine Analysen und Interventionen stets verstanden wissen wollte.
Wozu aber sollte man sich diese aneignen? Zum Beispiel, um sich der überall in den westlichen Demokratien stattfindenden autoritären Wende, im Agnolischen Jargon: der Involution, bewusst zu werden. Mit Sicherheit aber, um sich auch in der Niederlage zumindest im Denken weiterbewegen zu können: »In der dürftigen Zeit finden wir (das Denken) nur in der Negation«, gab Agnoli 1990 den Leserinnen und Lesern von konkret mit auf den Weg. Denn: »Die Utopie, die aus der Destruktion aller Strukturen der Ungleichheit, der Unterdrückung, der Herrschaft entsteht, das ist heute der einzig mögliche Ausweg aus der sich anbahnenden Vernichtung.« (Beide Zitate stammen aus konkret 2/90.) Es sind Sätze wie diese, die man allzu lange nicht vernommen hat.
Michael Hewener (Hg.): Johannes Agnoli oder: Subversion als Wissenschaft. Dietz, Berlin 2025, 176 Seiten, 14 Euro
Axel Berger schrieb in konkret 5/25 über die Folgen des Klimawandels für den afrikanischen Kontinent
Who cares!
Care-Arbeit ist im Kapitalismus vor allem ein Verlustgeschäft und wird deshalb prinzipiell geringgeschätzt, wie die dänische Autorin Emma Holten in ihrem Buch Unter Wert eindrücklich nachweist. Von Klara Hohnke
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) will, dass mehr gearbeitet wird. Dabei haben fast zwei Millionen Menschen in Deutschland einen Zweitjob, mehr als die Hälfte aller Überstunden ist unbezahlt. Vor allem Frauen sollen aus der Teil- in die Vollzeit wechseln und »die Wirtschaft stärken«. Am Kampftag der Arbeitenden warnte der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke vor dem Ende des Achtstundentags. Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung sieht vor, dass die tägliche Höchstarbeitszeit in eine wöchentliche geändert werden kann. Laut Werneke »werden 13 Stunden Arbeit am Stück möglich und rechtlich zulässig«. Die Warnung kommt zu Recht, die große Empörung bleibt erschreckenderweise aus. Trotzdem werden gerade pflegende Personen nur müde die Köpfe schütteln. Welcher Achtstundentag?
Care-Arbeit kennt keine Arbeitszeitbegrenzung. Hausarbeit, Mental load, Pflege und Betreuung von Personen oder Beziehungen finden permanent statt. Und sie sind sehr ungleich verteilt. Wer online nach Bildern zu »Altenpflege«, »Pflege von Kindern« oder einfach nur »Pflege« sucht, findet meistens Fotos weiblicher Pflegekräfte. Immer lächelnd. Diese Ergebnisse sind ein Abbild der Gesellschaft, ihrer Erwartungen und Stereotype. Aufgaben, die von Fürsorgeberufen übernommen werden, waren traditionell bei Frauen in der als privat und unpolitisch dargestellten Familie angesiedelt. Die Care-Arbeit der Mutter, Schwester oder Oma wurde als natürlich, nicht aber als Tätigkeit, geschweige denn produktive gesehen.
Der berechnete »Gender Care Gap«, das heißt das Gefälle der Zeitdauer, die von Frauen und Männern für unbezahlte Fürsorgearbeit aufgewendet wird, liegt in Deutschland derzeit bei 44,3 Prozent. In einer Woche verbringen Frauen neun Stunden mehr mit unbezahlter Arbeit als Männer. Der geschlechtsbezogene Unterschied existiert auch bei bezahlter Pflegearbeit. Kaum überraschend ist daher ein aktueller Befund des Paritätischen Wohlfahrtsverbands: Junge Frauen haben ein besonders hohes Armutsrisiko. Sie sind häufiger in sozialen Berufen angestellt, in denen die Bezahlung schlecht ist. Ebenso wenig überraschend rechnet das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung im Bereich von Erziehung, Sozialem und Gesundheitswesen mit Schwierigkeiten, Fachkräfte zu bekommen.
Zur systematischen Unsichtbarmachung und Entwertung von Care-Arbeit ist jetzt ein Buch erschienen. Mit Unter Wert gelingt der Dänin Emma Holten eine spannende Aufarbeitung von Fürsorgearbeit in den westlichen Wirtschaftssystemen. Doch das kapitalistische Ideologem von Arbeit, Preis und Wert ist im gesellschaftlichen Denken fest verankert. Der Verlag zitiert stolz das Magazin »Woman«: »Emma Holten klärt in Unter Wert auf, warum wir auch für Care-Arbeit ein Preisschild brauchen.« Weder DTV noch »Woman« scheinen Unter Wert verstanden zu haben. Holten betont mehrfach, dass Care-Arbeit sehr wohl ein Preisschild hat. Nur ist der Preis eine Null. Im Kapitalismus sind Preis und Wert nie dasselbe. Es ist die willkürliche Zuschreibung, die durchgerechnete, effizienzgetrimmte Einordnung von Care-Arbeit, die Holten zu Recht kritisiert. Fürsorge soll nicht einfach monetarisiert, sondern ihr gesellschaftlicher Wert anerkannt werden: »Der Kampf um Selbstbestimmung, Freiheit und ein eigenes Einkommen darf nicht zu einer Idealisierung des Arbeitsmarktes verkommen«, denn Gefühle und Fürsorge lassen sich nicht in Zahlen übersetzen. Aber was nicht passt, wird passend gemacht. Care-Arbeit bringt keine materiellen Produkte hervor. Darum wird sie als Verlustgeschäft dargestellt.
Fürsorgearbeit wird außerdem nicht anerkannt oder wertgeschätzt, weil niemand bedürftig oder auf Pflege angewiesen sein möchte. Abhängigkeit gilt als Schwäche. Und Schwäche darf sich niemand leisten. »Wenn Freiheit als die Freiheit von Fürsorge definiert wird, heißt das auch immer, dass eine unsichtbare, abgewertete Person … diese Fürsorge übernehmen muss.« Pflege wird so zu einer Konfrontation mit Körpern, die nicht, nicht mehr oder noch nicht so funktionieren, wie es die Produktionsweise für ihr Fortbestehen braucht. In einer kapitalistischen Gesellschaft, in der Produktivität, Leistung und ein selbständiger Beitrag zur Akkumulation Status bringen, gilt es jeden Anschein von Bedürftigkeit zu vermeiden. Der notorische Tellerwäscher wird zum Millionär nur durch harte Selbstausbeutung, nicht weil er zwischendurch eine Umarmung bekommt oder jemand im Verborgenen seine Wäsche reinigt.
Spannend ist die Unterscheidung zwischen Care-Arbeit, die eine Person leisten muss, und der, die sie leisten darf. Ähnlich wie durch die neokoloniale Praktik des Brain drain sind es in den reicheren westlichen Staaten vor allem marginalisierte Frauen, die die Fürsorgearbeit übernehmen. In den letzten Jahren ist laut der Agentur für Arbeit die Zahl der Angestellten in Pflegeberufen um 22 Prozent gewachsen. Das liegt an den Fachkräften, die aus dem Ausland angeworben worden sind, um die Leerstellen im Pflegesystem zu füllen. Dadurch verlagert sich nicht nur die Pflegelücke. Care-Arbeit wird gleichermaßen zu einer ausbeuterischen Arbeit wie zu einem Privileg. Personen, die in der Lohnarbeit beschäftigt sind, werden
Zeit und Möglichkeit genommen, sich in fürsorglichen und liebevollen Beziehungen zu entfalten. Und wer zu Hause mit Hausarbeit, Pflege und Versorgung von Angehörigen beschäftigt ist, kann sich nicht gleichzeitig auf dem Arbeitsmarkt verausgaben. Care-Arbeit führt zum ökonomischen Fortbestehen des Systems, aber zu individueller Armut. Das ist der Widerspruch der Fürsorge: »Unwert schafft Wert.«
Angesichts der Debatte um mehr Arbeit ist Unter Wert hochaktuell, doch die nötige radikale Neuaushandlung des Wirtschaftssystems wird es kaum geben. »Deutschland wird wieder ein Land werden, in dem Fleiß, Leistung und Erfolg anerkannt und belohnt werden«, verspricht Kanzler Merz. Man darf bezweifeln, dass er dabei an die Care-Arbeitenden dachte. Vielleicht klatschten wir statt dessen alle noch einmal dankbar vom Balkon.
Emma Holten: Unter Wert. Warum Care-Arbeit seit Jahrhunderten nicht zählt. Aus dem Dänischen von Marieke Heimburger. DTV, München 2025, 288 Seiten, 22 Euro
Klara Hohnke schrieb in konkret 7/24 über das kapitalistische Interesse am Gender Pay Gap
Sozis in der Dissidenz
Das »Friedensmanifest« einiger SPD-Mitglieder sollte ein Protest gegen die Parteispitze sein, weicht aber von Deutschlands Kriegskurs kaum ab. Von Johannes Schillo
War da nicht was? Ein heißer Konflikt, bevor die sommerliche Hitzeperiode begann? Ach ja, Anfang Juni erblickt ein »Manifest« das Licht der Welt, das ein paar Tage lang für größte Aufregung sorgt. Unerhört, leibhaftige SPD-Mitglieder fangen an, mit der Friedensbewegung zu liebäugeln! Genauer gesagt: Verunsicherte Altfunktionäre geben zu bedenken, ob sich nicht verbreitete Friedenshoffnungen und Kriegsängste – gegen den eigenen Niedergang und in Konkurrenz zu BSW/AfD – in Wahlstimmen ummünzen lassen. Dazu verfassen parteieigene »Friedenskreise« ein Manifest, das mit der umwerfenden Losung »Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung« antritt.
Es benennt mit den ersten beiden Punkten das, was die deutsche Politik sowieso vorhat – eine gigantische Aufrüstung im Rahmen neu gewonnener europäischer Eigenständigkeit, die aber koordiniert und kontrolliert, ohne Erzeugung der bekannten »Rüstungsspirale«, stattfinden soll. Und am Ende irgendwie zu Abrüstung führen könnte – wenn man sich nur oft genug auf dieses Ideal beruft.
Die Notwendigkeit, sich mit dem russischen Kriegsgegner zu verständigen, liegt zwar noch etwas in der Ferne, aber auf irgendeinen Vertrag muss es ja hinauslaufen; benutzbar soll »unsere« östliche Einflusssphäre schließlich wieder werden. Wozu sonst der ganze militärische Aufwand? Und das Nato-Oberhaupt im Weißen Haus hat sowieso keine Hemmungen, entsprechende Gespräche zu führen und Geschäftsgelegenheiten zu sondieren.
Angesichts der allgemeinen Empörung reibt man sich die Augen. Das soll eine »Kampfansage« (»FR«, 12.6.) sein, die sich »frontal gegen die Pläne von Regierung und SPD-Spitze« (»Stern«, 10.6.) stellt? Ein paar verstaubte Ideale aus der Zeit, als der Kalte Krieg mit Entspannungsmaßnahmen flankiert wurde, sollen die radikale Infragestellung der Verteidigung gegen Putins Reich des Bösen sein? Im Grunde weiß das auch die Presse besser und kann sich nebenbei über die Nostalgie altgedienter Sozis lustig machen: »Gegen einen solchen Kracher vermag nicht einmal das Furzkissen des Überschall-Teslas anzustinken« (»FAZ«, 13.6.).
Trotzdem wird gehetzt, dass es nur so kracht, und klagt die »FAZ« im selben Atemzug über »Realitätsverweigerung« (12.6.). Die Autoren des Manifests seien als »Sicherheitsrisiko für Deutschland und Europa« einzustufen, als »Tauben am Tor zur Hölle«, wie der Spruch von Kanzler Scholz, Pazifisten seien »Engel aus der Hölle«, zeitgemäß abgewandelt wird.
Das Stichwort »Realitätsverweigerung« macht sich auch die SPD-Spitze zu eigen und stellt dann auf dem folgenden Parteitag klar, dass es nur einen realistischen Kurs gibt, nämlich den, den die SPD gemeinsam mit CDU/CSU eingeschlagen hat. Das heißt: alles dafür tun, dass zum Ende des Jahrzehnts Kriegstüchtigkeit hergestellt ist und der Iwan einpacken kann. Von Skepsis, geschweige denn von Widerstand ist beim Parteitag kaum etwas zu spüren.
Die Presse ist etwas überrascht; die »Grabenkämpfe von einst brechen nicht auf« (»General-Anzeiger«, 30.6.), heißt es. Entdeckt wird vielmehr »eine gewisse Wurstigkeit« der Delegierten (»FR«, 30.6.), andere Kommentare sprechen von der Feigheit der Dissidenten, denn keiner von ihnen habe den Mut gefunden, »auf offener Bühne auch nur ein kritisches Wort gegenüber ihrem Parteivorsitzenden zu äußern« (»FAZ«, 30.6.). Eine Debatte über den Wehrdienst findet nicht statt, statt dessen wird im Hinterzimmer mit den Jusos ein Kompromiss ausgehandelt, der ganz auf der offiziellen Linie (siehe konkret 6/25) liegt: Vorerst keine Wehrpflicht, sondern erst, wenn man sie brauchen kann. Und auch ein paar Bedenken, ob die Aufrüstung mit der Fünf-Prozent-Marke solide eingefädelt ist, dürfen laut werden.
Erstaunlich ist, wie wohlwollend die selbsternannte Gegenöffentlichkeit (»Overton«, »Nachdenkseiten«) auf den Vorstoß der SPD-Dissidenten reagiert. Als würde der Antikriegsprotest hier seinen entscheidenden Schub erhalten. Ausgerechnet die »Junge Welt«, die von den regierenden Sozialdemokraten in die Extremistenecke gestellt wird, sieht hier den »Auftakt für einen aktiven Kern der Friedensbewegung« (20.6.). Als ob nicht mit einer Initiative wie »Sagt nein!« aus der Verdi-Opposition, unterstützt von mehr als 25.000 Unterzeichnern, längst ein wirklicher Einspruch gegen den Kriegskurs der (in der Regel SPD-nahen) DGB-Führung erfolgt wäre.
Die Kritik der Initiative am halbherzigen SPD-Dissidententum gilt solchen Altlinken als »sektiererisch«. Anscheinend träumen sie vom legendären »breitesten Bündnis« der Friedensbewegung, in dem auch gemäßigte Kriegstreiber ihren Platz finden. Immerhin, Nico Popp fällt dann im »JW«-Interview mit Peter Brandt die Harmlosigkeit des Manifests auf; das Bekenntnis zum Kombinat von Rüstung mit Kontrolle und Diplomatie sei eine Position, »die bis in die Union hinein mal Konsens war« (20.6.).
Dem Manifest steht ja auch die eigentliche Sorge – Mitglieder-, Wähler- und Profilschwund – auf die Stirn geschrieben, und Mitverfasser Mützenich dementiert gleich, dass man »ein Stachel im Fleisch der SPD oder der Koalition sein« wolle (»Junge Welt«, 14./15.6.). Gerade angesichts dieser konstruktiven Haltung stellen die Reaktionen aus der SPD-Führung und dem Regierungslager eine erklärungsbedürftige Hetze dar. Sie geht nur aus dem bedingungslosen Schulterschluss hervor, der der Nation bei der Kriegsvorbereitung abverlangt wird und der gegen einen traditionellen Friedensidealismus durchgesetzt werden muss.
Das Feindbild Russland steht felsenfest, und selbst eine minimale Abweichung wird bestraft, sogar eine, die die Ziele im Groben teilt und die sich der westlichen Feindschaftserklärung – wegen Putins »Angriffskrieg« – anschließt.
Johannes Schillo schrieb in konkret 6/25 über die Wehrpflicht in Deutschland
