Die junge Garde des Arbeiterverrats

Der neue Syriza-Vorsitzende Stefanos Kasselakis will seine Partei nach dem Vorbild der US-amerikanischen Demokraten umgestalten. Von Nikos Chilas

Er kennt kein Pardon. Stefanos Kasselakis lässt niemanden vorbei, ehe er sich mit ihm hat fotografieren lassen. So auch Ende September in den Gängen der Vouli, des griechischen Parlaments, als er der Parlamentsfraktion seiner Partei seine Aufwartung machte. Einigen Gesichtern konnte man ansehen, dass sie nicht begeistert waren, zumal etliche von ihnen anderen, sogar rechten Parteien angehörten.

Regelrecht geschockt zeigten sich allerdings die Vertreter der »tiefen« Syriza. Es gibt einiges, was sie ihrem frischgebackenen Chef nicht verzeihen können:

Zunächst seinen unerwarteten Sieg gegen ihre Favoritin, die ehemalige Arbeitsministerin Efi Achtsioglou, bei der Stichwahl um den Posten des Parteichefs am 24. September; dann die Tatsache, dass er mit erst 35 Jahren die »Gerontokraten« der Partei noch älter aussehen lässt, Parolen wie: »Machen wir den griechischen Traum wahr!«, die sehr amerikanisch klingen, aber bei der linken Basis gut ankommen; seine berufliche Vita vom Broker der Investmentbank Goldmann Sachs bis zum Schiffseigner; seine Angeberei: Er behauptet, er sei der einzige, der den rechtskonservativen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis besiegen könne, weil er »besser Englisch spreche« und als Unternehmer »mehr von der Wirtschaft verstehe«; seine rechte Vergangenheit in den USA, wo er von seinem 14. Lebensjahr bis Anfang dieses Jahres lebte und in den Krisenjahren 2012 bis 2015 zum Unterstützer von Mitsotakis wurde, der damals, als Minister für die Verwaltungsreform, abertausende Staatsangestellte entließ und die Gehälter der übrigen drastisch kürzte. Noch heute empfindet Kasselakis »großen Respekt« vor Mitsotakis, dessen Politik er erst kritisiert, seit er 2023 zum »Linken« wurde; und schließlich seine rechte Zukunft: Er will, wie er sagt, in Übereinstimmung mit Alexis Tsipras, seinem Vorgänger in der Parteiführung, Syriza in eine Partei verwandeln, die der US-amerikanischen Demokratischen Partei ähnelt.

Mit einem solchen Typen fotografiert werden? Die linke Seele rebelliert dagegen. Die Parteigranden gehen ihm entweder aus dem Weg oder wollen ihn nur treffen, wenn keine Kameras da sind.

Es ist allerdings nicht nur die traditionelle Linke, die aus dem Staunen über den Aufstieg dieses Mannes aus dem politischen Nichts nicht herauskommt. Die gesamte politische Klasse Griechenlands ergreift das Grauen bei dem Gedanken, ihr könnte Ähnliches zustoßen. Versuche, das scheinbar Unerklärliche zu erklären, kommen daher von allen Seiten. Die beiden gängigsten Erklärungsmodelle sind folgende:

Für die Psychoanalytikerin Dimitra Athanassopoulou ist Kasselakis ein neuer »Menschentyp«, eine Mutation des Homo sapiens zum Homo social sapiens, wie ihn die herrschende narzisstische Kultur hervorbringe. Nicht der echte Kasselakis, sondern sein »Selfi« sei das, was Anklang bei einem Massenpublikum finde, das ebenfalls als Abbild seiner selbst dahinvegetiere.

Die zweite Deutung dieser neuen Politikerkarriere ist eine politische: Der Selfmademan aus Amerika sei, nach dem Politologen Vassilis Rogas, ein Derivat sowohl der sich im späten Neoliberalismus ausbreitenden Entpolitisierung der Politik, als auch der der Politikmanier einer weit zurückliegenden Ära, in der die Herrscher nicht mittels repräsentativer Verfahren, sondern kraft eines Gottesgnadentums obwalteten – was dem Muster des heutigen populistischen Volksgnadentums ähnelt.

Eine umfassendere Erklärung dieses Phänomens hatte bereits 2018 der deutsche Politikwissenschaftler Alex Demirović geliefert, als er nach der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 bis 2009 den Niedergang der professionellen Politiker diagnostizierte. An ihre Stelle würden Unternehmer treten, die Staaten quasi als Privatunternehmen führten. Demirović hatte allerdings neoliberale und rechte Politiker wie Donald Trump im Visier. Mit Kasselakis, und das ist die eigentliche Sensation, tritt erstmals ein »linker« Unternehmer in dieser Rolle auf.

Kasselakis ist freilich kein Trump. Nicht ganz zumindest. Denn statt Gift und Galle zu speien, verbreitet er jugendlichen Charme und Zuversicht. Als offen homosexuell lebender Mann zeigt er zudem besondere Sensitivität für die Rechte von unterdrückten sozialen Gruppen. Die Schmutzarbeit, darunter auch die Produktion von Fake News, ist ihm dennoch nicht fremd. Sie wird aber nicht von ihm selbst, sondern von seinen Hintermännern durchgeführt, die in einer Gemeinde nahe Athen sitzen.

Ob diese Janusköpfigkeit ihm auf Dauer Erfolg bescheiden wird, ist zweifelhaft. Seine Partei steht unmittelbar vor der Spaltung. Und die Meinungsumfragen Anfang Oktober zeigen, dass Kasselakis’ Popularität nicht über das linke Milieu hinausreicht – Syriza verharrt bei knapp 17 Prozent der Stimmen (bei den Nationalwahlen von 2019 waren es 31,5 Prozent). Das könnte fatale Auswirkungen auf die Europawahlen im nächsten Juni haben, bleibt doch Syriza, als die prozentuell stärkste Landesgruppe, die Gallionsfigur der europäischen Linken. Ihr Zerfall wird von den Schwesternparteien genau beobachtet. Fraglich, ob diese demnächst einem gemeinsamen Foto mit Kasselakis zustimmen würden.

Nikos Chilas hat gemeinsam mit Winfried Wolf das 2016 im Promedia Verlag erschienene Buch Die griechische Tragödie: Rebellion, Kapitulation, Ausverkauf geschrieben