Ein Luftmensch

Obwohl mehr als 60 Jahre alt, sind die Essays des marxistischen Historikers Isaac Deutscher über jüdische Identität und Zionismus von eminenter Aktualität. Von Andrei Doultsev

In einer Welt, in der immer noch Menschen massakriert werden, nur weil sie Juden sind, ist die Frage nach nichtjüdischem Judentum und dem Unterschied zwischen säkularem und religiösem jüdischem Selbstverständnis eigentlich nicht angebracht: Jude ist, wer die Abneigung und den Hass von Antisemiten auf sich zieht und deren Opfer werden kann. Dennoch lohnt die Essay-Sammlung Der nichtjüdische Jude des marxistischen Historikers Isaac Deutscher die Lektüre, um bestimmte historische Zusammenhänge zwischen der europäischen Arbeiterbewegung und dem Judentum neu zu entdecken. Zumal weil Teile der Linken die als Antizionismus bezeichnete Abneigung gegen den jüdischen Staat auf ihr Banner geschrieben haben, bei Pogromgeist schürenden antiisraelischen Demos mitmarschieren und es auch nach dem 7. Oktober 2023 ablehnen, die Hamas als Terrororganisation einzustufen. Darum gilt es, die Solidarität mit Israel aus einer säkularen und humanistischen Sicht zu bestätigen.

Deutscher starb am 19. August 1967. Aus dem Nachlass edierte die Witwe Tamara Deutscher für Der nichtjüdische Jude zahlreiche Aufsätze und Artikel, deren Thema die Selbstwahrnehmung eines Juden im 20. Jahrhundert ist. Mit Gelassenheit und Klarsicht spricht Isaac Deutscher über das geistige Erbe des osteuropäischen Judentums. Als Historiker und Atheist hält er sich an die Fakten, versteht jedoch religiöse Motive. Er bezieht sich auf das Wirken einiger bedeutender Juden Europas, schreibt über Juden in der atheistischen UdSSR, über den Rassenwahn der Nazis, die Gründung des Staates Israel und den Sechstagekrieg.

»Er gehört«, schreibt Tamara Deutscher, »zu jenem Schlag nichtjüdischer Juden, die das Judentum transzendierten und jenseits der Judenheit zu den höchsten Werten der Menschheit fanden. Wie Heine, Marx, Rosa Luxemburg, Trotzki und Freud empfand Isaac das Judentum, wie jegliche Religion, als aneignend. Wie sie bewegte er sich als Grenzgänger zwischen verschiedenen nationalen Kulturen, er lebte in der polnischen, jüdischen, deutschen oder englischen Gesellschaft, ohne zu ihnen zu gehören. Damit befand er sich in der jüdischen Tradition, was er auch nie leugnete.«

Geprägt von einer humanistischen Weltanschauung, die dem jüdischen Denken immanent ist, analysiert Isaac Deutscher das Wirken von Baruch Spinoza, Heinrich Heine, Karl Marx, Rosa Luxemburg, Sigmund Freud und Leo Trotzki als Revolutionäre des modernen Denkens, denen die jüdische Welt zu eng wurde und die über ihre Grenzen hinausgewachsen sind. Ihr Geist reifte dort, wo sich die unterschiedlichsten kulturellen Einflüsse kreuzten; sie lebten in der Enge der jeweiligen Nation, aber nicht als Teil von ihr. Dies ermöglichte es ihnen, so Deutscher, ihren Blick über die eigene Gemeinschaft und Nation, über ihre Zeit und Generation hinauszuheben in die Zukunft. Deutscher nennt diese Mentalität die eines »Luftmenschen«.

In einer Welt, die die Shoah zuließ, ist Deutschers säkulares Verständnis des Judentums keineswegs spaltend, sondern vereinend: »(Was) macht dann einen Juden aus? Religion? Ich bin Atheist. Jüdischer Nationalismus? Ich bin Internationalist. Nach keiner dieser Bedeutungen bin ich daher Jude. Wohl aber bin ich Jude kraft meiner unbedingten Solidarität mit den Verfolgten und Ausgerotteten. Ich bin Jude, weil ich die jüdische Tragödie als meine eigene empfinde: weil ich den Pulsschlag der jüdischen Geschichte spüre: weil ich mit allen Kräften dazu beitragen möchte, etwas für die wirkliche und nicht die trügerische Sicherheit und Selbstachtung der Juden zu tun.«

Beachtenswert ist Deutschers Urteil über linke Israelfeindschaft: »Meinen Antizionismus, der auf dem Vertrauen in die europäische Arbeiterbewegung basierte oder, allgemeiner, auf meinem Vertrauen in die europäische Gesellschaft und Zivilisation, habe ich natürlich längst aufgegeben, denn diese Gesellschaft und diese Zivilisation haben es Lügen gestraft … Für die Überreste des europäischen Judentums – und wirklich nur für sie? – ist der jüdische Staat zur historischen Notwendigkeit geworden … (Die Juden Israels) haben auch mit gutem Grund das Gefühl, dass die ›Zivilisierte Welt‹, die auf die eine oder andere Weise das Schicksal des europäischen Judentums auf dem Gewissen hat, kein moralisches Recht hat, Israel wegen tatsächlicher oder eingebildeter Verstöße gegen internationale Verpflichtungen abzukanzeln oder ihm zu drohen.« Der Zionismus, resümiert Deutscher, habe »keine Zukunft für die Juden in Europa« gesehen, »er war der Höhepunkt des jüdischen Misstrauens gegenüber der nichtjüdischen Welt«.

Was nicht bedeutete, dass Deutscher jede politische Entwicklung in Israel billigte: »Solange eine nationalistische Lösung des Problems verfolgt wird, sind Juden und Araber dazu verdammt, sich in einem Teufelskreis von Hass und Rache zu bewegen.« Der Historiker forderte eine Nahost-Föderation, auch wenn sie »Zukunftsmusik« sei: »Aber manchmal ist das die einzige Musik, die anzuhören sich lohnt.« Und der Marxist warnte prophetisch: »Auf die Dauer kann Israel an den Grenzen zu Asien und Afrika nicht im Konflikt mit Asien und Afrika überleben. Für die Überlebenden des europäischen Judentums wurde Israel zum Zufluchts-hafen. Lasst es nicht zu seiner Todesfalle werden!« Heute müsste Deutscher beobachten, dass auch bessere Beziehungen Israels zu den Golfstaaten, Marokko und Saudi-Arabien die Konflikte im Nahen Osten nicht entschärfen konnten. Sie wirkten eher als Ansporn für die Hamas-Schlächter (und ihre Sponsoren) beim Terror gegen Israelis und bei der gleichzeitigen Geiselnahme der, wenn nicht indoktrinierten, so doch tyrannisierten Zivilbevölkerung des Gazastreifens.

Isaac Deutscher: Der nichtjüdische Jude. Aus dem Englischen von Eike Geisel und Mario Offenberg. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023, 208 Seiten, 15 Euro

Andrei Doultsev schrieb in konkret 8/23 über die Riots in Frankreich