Die Entstehung der Riesenscheiße

J.G. Ballards Romane Die Flut und Die Dürre nahmen die Klimakatastrophe vorweg. Von Jasper Nicolaisen

Im deutschen Sprachraum ist der britische Schriftsteller James Graham Ballard (1930–2009) nie berühmt geworden. Auf eine schwierig zu fassende Weise – für die heute Hilfsbegriffe wie Slipstream oder Weird Fiction verwendet werden – oszilliert sein Werk zwischen Science Fiction, Psychedelik, Spiel und einer Analyse der gesellschaftlichen Umstände jener Zeit, in der es entstanden ist. Die großen Leitfiguren für diese Art zu schreiben sind Franz Kafka und Jorge Luis Borges, die spezifisch britisch-psychedelische Note Ballards findet man ähnlich auch bei SF-Autoren wie Michael Moorcock oder Anthony Burgess (Clockwork Orange).

Dass Ballard, obwohl geschätzt und erfolgreich, nie in die erste Reihe aufrückte, mag zum einen an der inhärenten Seltsamkeit seiner Bücher liegen, aber auch daran, dass, obwohl sein Werk spätestens durch eigenwillige Verfilmungen seiner Anfang der siebziger Jahre entstandenen Romane Crash (»Crash«, David Cronenberg, 1996) und High-Rise (»High-Rise«, Ben Wheatley, 2015) in die Populärkultur eingespeist wurde, die literarischen Vorlagen (deutsch: Crash und Der Block) weithin unbekannt geblieben sind.

Zwei frühe Romane von Ballard, die seinem Katastrophen-Zyklus angehören, einer Reihe von Büchern, die sich in den sechziger Jahren mit jeweils einem mehr oder weniger bizarren Szenario des Weltuntergangs beschäftigten, erscheinen nun in Neuübersetzungen. Die Flut (The Drowned World, 1962) und Die Dürre (The Burning World, 1964) tragen ihr zentrales Motiv bereits im Titel und sind auch die Romane, die heute, über ein halbes Jahrhundert später, auf reale Ängste angesichts der Klimakatastrophe treffen, anders als etwa der ebenfalls in diese Reihe gehörende, im Jahr 1966 erschienene Roman The Crystal World (Kristallwelt), in dem sich, nun ja, alles Leben auf der Welt in kristalline Strukturen verwandelt.

Die Nähe zu Vernichtungsdrohungen und damit einhergehenden Ängsten und politischen Verwerfungen, die anders als zur Entstehungszeit der genannten Werke heute real vorhanden und nicht mehr nur Gedankenspiele sind, dürfte das Motiv für die Neuausgaben sein. Das ist zwar scheinbar naheliegend, wird den Büchern aber nicht ganz gerecht. Nun müssen Verlage die Werbetrommel rühren, und dass Romane, die weltweite Klimakatastrophen zum Thema haben, in unserer Gegenwart als Climate Fiction apostrophiert werden, ist wohl gar nicht anders möglich. Hier führt der Begriff in die Irre.

Climate Fiction und der damit verbundene, etwas weniger geläufige Begriff Hopepunk beschreiben eine in den letzten Jahren an Bedeutung gewinnende Unterströmung der Science-Fiction-Literatur, die sich mit den Folgen der Klimakatastrophe beschäftigt. Dazu gehören Werke von so unterschiedlichen Autoren wie Kim Stanley Robinson oder N. K. Jemisin. Während es in den meisten dieser Werke um die politisch-wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Klimakatastrophe und die zwischenmenschlichen Folgen sowie Möglichkeiten neuer Formen der Solidarität geht, wählte James Graham Ballard in den sechziger Jahren noch einen anderen Weg, der heute durchaus als irritierend wahrgenommen werden kann.

Beide Romane, Die Dürre und Die Flut, arbeiten sich an einem Verlust von Normalität ab, an einer als normal vorgestellten Welterfahrung, die sich auf verstörende, psychedelische Weise verändert und dem Monströsen und Bizarren Platz macht. Ballard interessiert sich dabei kaum für die Genese der weltumspannenden Katastrophe, obwohl in beiden Romanen naturwissenschaftliche Erklärungen präsentiert werden, die durchaus auf Umweltverschmutzung und die Vernutzung natürlicher Ressourcen verweisen, als deren Resultat globale Kreisläufe aus dem Gleichgewicht geraten – eine visionäre Perspektive angesichts der Entstehungszeit der Texte, als das Wissen um solche Kreisläufe und den Treibhauseffekt noch keineswegs Allgemeingut war. Diese Erklärungen bleiben aber knapp und dienen lediglich dazu, die Bühne für persönliche Veränderungen der Protagonisten zu bereiten. Ballard gelingen in beiden Romanen faszinierende surreale Bilder versinkender und Stück für Stück ins Dystopische abdriftender Landschaften, in denen Reste des Vertrauten mehr und mehr von traumartigen Elementen verschlungen werden, so dass sich die gesamte Umwelt der Protagonisten in eine Art dreidimensionale Max-Ernst-Collage verwandelt. Die Parallelschaltung mit dem Innenleben und der sich langsam verabschiedenden Menschlichkeit der Figuren macht deutlich, dass Innen und Außen hier ineinandergeblendet werden: Die Umwelt ist Bühne und Ausdruck des Innenlebens der handelnden Menschen zugleich. Liest man dies mit dem Erwartungshorizont von Climate Fiction und vor allem dem Bewusstsein, dass die Klimakatastrophe heute für jeden Menschen auf dem Planeten reale Folgen hat, wirkt dieses literarische Spiel ein wenig frivol, zumal die Konzentration auf die Innenwelt der isoliert voneinander durchdrehenden Protagonisten Möglichkeiten des Handelns oder gar neuer Solidarität völlig außen vor lässt.

Befremdlicher für ein heutiges Publikum ist allerdings, dass Ballards Normalität, die im Zerbrechen noch einmal bekräftigt wird, eine weiße, männliche und individuell-souveräne ist, ohne dass dies je in Frage gestellt wird. In beiden Romanen treffen wir auf Protagonisten mit genau diesen Merkmalen. Diese Wissenschaftler, Forscher, Einzelgänger, allesamt Männer, sind es gewohnt, souverän und autonom zu handeln, eine Lebensweise, die im Angesicht der Katastrophe in den Abgrund führt. Die Anderen fungieren, ähnlich wie die zunehmend irre Umwelt, lediglich als Spiegelflächen, die das Scheitern der männlichen, weißen Perspektive verdeutlichen sollen. Liest man die beiden Romane auf diese Weise als Dokument des Scheiterns einer bis heute dominanten Methode der Weltaneignung, wird durch Ballards irritierende psychedelische Kunst eine Rückschau auf die Entstehung der Riesenscheiße möglich, in der wir uns heute befinden. Es sind Bücher aus einer anderen Zeit, die uns allerdings schmerzlich deutlich machen können, wie wir aus dieser anderen Zeit in unserer landen konnten.

James Graham Ballard: Die Dürre. Aus dem Englischen übersetzt von Helma Schleif. Diaphanes, Zürich 2023, 256 Seiten, 18 Euro

James Graham Ballard: Die Flut. Aus dem Englischen übersetzt von Helma Schleif. Diaphanes, Zürich 2023, 224 Seiten, 18 Euro

Jasper Nicolaisen schrieb in konkret 9/23 über den neuen »Roman« von Matthias Matussek