Bleistift ist gleich Penis

Zum 50. Todestag des Reformpädagogen Alexander S. Neill. Von Christoph Horst

Als die Achtundsechziger an die antiautoritäre Pädagogik Alexander S. Neills andockten, konnte dieser schon auf fast 50 Jahre Erfahrung mit seinem Schulversuch zurückblicken, der ab 1924 auf dem Summerhill in der südwestenglischen Kleinstadt Lyme Regis stattgefunden hatte. Der Sympathie lag allerdings ein Missverständnis zugrunde, da Neill die Kinder tatsächlich frei von äußeren und also auch ideologischen Zwängen aufwachsen lassen wollte, während die zu Eltern gewordenen linken Studenten auf ihrem Weg zur Revolution die Erziehung instrumentalisierten und den Umgang mit Kindern politisierten.

Neill setzte das Fehlen von Zwang nicht mit Zügellosigkeit oder der Durchsetzung des Rechts des Stärkeren gleich und erlag daher nicht der Versuchung einer liberalen Romantisierung des Freiheitsbegriffs, wie er später in der Anti- und Postpädagogik üblich wurde. Was Summerhill besonders machte, vielleicht sogar revolutionär, ist der Umstand, dass man aus der Binsenweisheit, dass zum Lernen unbedingt das Lerninteresse des Schülers gehört, die Konsequenz zog. Während alle anderen Schulen den Lernstoff unabhängig vom Interesse der Lernenden anbieten und dabei viel Zeit für sogenannte Motivationsübungen aufwenden, um Interesse halbwegs herbeizuzwingen, hat Neill für Summerhill vorgegeben, dass der Unterricht ein Angebot ist, dessen Annahme freiwillig geschieht. Viele Kinder sind ihm wochenlang ferngeblieben, bis ein Interesse in ihnen selbst erwacht ist. Kinder haben in der Regel Neugier und Wissensdurst – außer beides wird ihnen durch Zwangsunterricht mit anschließender Leistungsbewertung ausgetrieben.

Dieser Ansatz war zu seiner Zeit fortschrittlich und ist es auch heute noch. Allerdings akzeptierte Neill die Erfolgskriterien der bürgerlichen Gesellschaft, deren Behörden ihm im übrigen seinen Schulversuch genehmigten, weil er immer wieder darauf hinwies, was seine Schüler alles für tolle, gesellschaftlich anerkannte Berufe ergriffen haben. Dass Summerhill aufgrund des Schulgelds ein elitäres Gebilde für einen wohlhabenden, sich zeitgenössisch progressiv wähnenden Teil der Oberschicht war, hat Neill selbst bedauert. Konservative Kritiker konnten ihm daher zu Recht vorwerfen, dass aus all den Kindern aus besseren Verhältnissen auch ohne Summerhill »etwas geworden« wäre. Auch dass Freiheit an die materiellen Möglichkeiten gebunden ist, war für Summerhills Kinder reicher Eltern kein großes Problem: Die Freiheit beispielsweise, am Wochenende ins Kino gehen zu dürfen, kann schließlich nur genießen, wer von zu Hause ausreichend finanzielle Zuwendung erfährt, die ihm den Eintritt ermöglicht.

Neill lag oft völlig daneben und irrte sich umso spektakulärer, je mehr er sich in die Disziplin der Psychologie, Abteilung Psychoanalyse, vertiefte. Er sah die Kinder nicht als bewusst handelnde Akteure mit Motiven und Gründen für ihr Verhalten, sondern als von irgendwelchen verborgenen Tiefenstrukturen getrieben, die angeblich ihm, nicht aber dem Kind selbst zugänglich seien. Die selbstgestellte Frage, was zu tun sei, wenn Kinder im Unterricht mit Bleistiften spielen, beantwortet er freudianisch: »Bleistift ist gleich Penis. Dem Jungen ist verboten worden, mit seinem Penis zu spielen. Die Eltern müssen das Onanieverbot aufheben.« Neill stand seinen Schülern sowie seinen Kollegen auch immer für psychoanalytische Therapiestunden zur Verfügung, die wie üblich in der Beschäftigung mit Sexualität mündeten. Nicht nur seine Persönlichkeit, sondern auch die Immunisierung seiner Ansichten durch den Verweis auf die vermeintliche Fähigkeit, Menschen psychologisch durchschauen zu können, verschafften ihm eine starke Position innerhalb der Schule. Diese wurde ungeachtet vieler anderer Akteure von Anfang an aufgrund der Person Alexander S. Neill wahrgenommen. Infolge seiner Freundschaft mit dem zu Beginn ihres Briefwechsels bereits esoterisch abgedrifteten Wilhelm Reich ging Neills Irrationalismus sogar so weit, dass er einen »Organon-Akkumulator« zur Behandlung physischer Verletzungen einsetzte – eine Box aus Blech und Holz, die »kosmische Energie« sammeln und in »orgasmische Energie« zur Bekämpfung jedweder Krankheit umwandeln sollte. Zwar sympathisierte Neill teils mit sozialistischen Ideen, soziale Konflikte psychologisierte er aber: »Jeder Fall von Kriminalität von Kindern kann auf zu wenig Liebe zurückgeführt werden.« Neills Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung: Das Beispiel Summerhill erschien 1969 in Deutschland, und der große Erfolg des Buches war möglicherweise ein früher Baustein für die Auflösung linker Politik ins Therapeutische. Schon zuvor wurden ausgewählte Schriften des österreichischen Reformpädagogen Siegfried Bernfeld unter dem Titel Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse sehr erfolgreich vermarktet.

Neill hat allerdings nicht nur über, sondern auch für Kinder geschrieben. Sein trotz aller veränderten Lesegewohnheiten in der Jugendliteratur immer noch beliebtes Abenteuerbuch Die grüne Wolke, übersetzt von Harry Rowohlt und versehen mit Illustrationen von F. K. Waechter, ist auch 85 Jahre nach seinem Erscheinen noch lieferbar und bei Kindern gefragt, weil es auf subtile Vermittlung von Erziehungszielen und moralische Unterweisung verzichtet. Neills Erziehungsratgeber heute zu lesen ist auch ein historischer Blick in die Erziehungswirklichkeit einer extrem konservativen Zeit. Die Probleme, gegen die er ankämpfte – die Prügelstrafe, Geschlechtertrennung in den Schulen, Erziehung zu »Gottesfurcht« und die Diskriminierung unehelicher Kinder –, geben Zeugnis von einer Zeit schwarzer Pädagogik, die mit viel Ablehnung auf Neills Versuch reagierte, das Kind ohne nicht selbst auferlegte Schranken aufwachsen zu lassen. In vielem ist er aber auch der heutigen Pädagogik noch voraus, die sich humanistisch und auf diffuse Weise dem Kinde zugewandt wähnt, in letzter Konsequenz aber auch nur auf den funktionierenden Staatsbürger zielt: In Summerhill hatten die Kinder genau die Zeit für ihre Entwicklung, die sie benötigten – kein pädagogischer oder organisatorischer Rahmen gab ihnen vor, welcher Bildungs- oder Entwicklungsschritt wann als normales – soll heißen: für die bürgerliche Gesellschaft brauchbares – Kind zu absolvieren sei.

Christoph Horst schrieb in literatur konkret 2018 über zwei Sachbücher zur christlichen Rechten in Deutschland