Wer nimmt den Mund am vollsten?

Eine kleine Weltgeschichte des Worterwerbs. Von Ulrich Holbein

Steine können nicht mal bis null zählen und vermissen nichts. Grünzeug und Urviecher bleiben dauerhaft wortkarg. Dann aber wuchsen Nullhirn und Kleinhirn sich über die Schwundstirnen. Schon als Tier hatte der Mensch Sprache. Kurz danach – peng! – war am Anfang das Wort. Zwischen Schrei und »Autsch!« und Rülps siedelten Wörter sich an – mehrere, mal im Doppelpack, dann auch bald im Rudel. Man warf sie sich an die Köpfe. Mit 100 Vokabeln kann man schon trefflich befehlen, schnuddeln und alle jene anschnauzen, die noch grunzten, statt das große Wort zu führen. Bisse gingen in Küsse, Gegröl in Gesang, Strichlisten in Keilschrift über und Geblök in homerische Hymnen. Urvölker, die sich selber, statt »Eskimos« oder »Inuit«, »Wir« nannten, stockten ihre 200 Wörter nicht auf, jahrzehntausendelang, zuzüglich weiterer 200 Fachbegriffe, um diverse Schneefarbabstufungen zu benennen. Mit 18 Monaten sollte ein Kleinkind 65 Wörter draufhaben. Mit 24 Monaten sollte ein Kind mit Zweiwortsätzen um sich werfen: »Her damit!« »Let’s go!« »Du Nazi!« »Nimm dies!« »Alles fließt!«

Alsbald blühte Sprachpflege auf, also Hochkultur. Bald gab’s mehr Sprachen als Wörter. Sumerischer Wortrausch gebar Worte wie Azipiranu, Tukulti-Ninurta, Utnapischtim. Sanskritene Sprachmagie jonglierte mit 266 Ausdrücken nur für Liebesumarmung, zum Beispiel Hansalilaka, Trivallibandha oder auch Sukaraghrishtaka. Altes Testament verströmte Sprachmacht mit 1.800 Wörtern, mit steinharten Synonymen für fluchen, strafen, schlagen, schänden, schächten, abstrafen, bekämpfen, demolieren, zermalmen, zerstören, vernichten.

Laozi entwickelte die Kunst, mit äußerst wenig Wörtern, nämlich 5.000, äußerst viel zu sagen.

Die Kurve, zwischendurch, ging wieder nach unten. Die 13 Autoren des Neuen Testaments begnügten sich mit 9.000 Wörtern. Jeder römische Schriftsteller verfügt über 20.000 Wörter, einerlei ob Tullius Cicero, Ovidius, Catullus. Pilatus muß also mehr als doppelt so viele Wörter gehabt haben als Jesus. Ab welcher Wortzahl so etwas wie Individualität, nennenswerte Erkenntnis, Seele, Geist, Atmosphäre, Menschenähnlichkeit in Texte hineinkommt, darüber könnte man wortreich streiten, falls man nichts Vordringliches zu tun hat, zum Beispiel Nonverbales, Proteinzufuhr, Arterhaltung.

Die Evolution brauchte dann 1.600 Jahre, um den Highpoint Rom aufzustocken. Martin Luther: 23.000 Wörter! Hut ab! Darunter auch x Neologismen wie Kaufhaus, Bauchdienst, Gottesdienst, Morgenland, Madensack. William Shakespeare: 29.000 Wörter! Wenn Schiller länger gelebt hätte, hätte er mehr auf Shakespeare draufgesetzt als bloß 1.000 Wörter. Goethe lebte lang genug, um einen Himalaya von 93.000 Wörtern hervorzuwuchten. Ein Jean-Paul-Wörterbuch würde noch länger brauchen, um bis zum Z zu gelangen, als das Goethe-Wörterbuch.

Millionen Hirne redeten sich jahrhundertlang die Münder fusselig, ehe die Brüder Grimm alles akribisch auffingen, was von den Redepulten fiel. Resultat: 330.000 Wörter! Daneben sahen x klassische Wortberserker und Dichterfürsten schmal und mager aus, schier mundfaul und wortarm. In diesem Symphoniekonzert, nicht ohne Mammutorgel und babylonischen Tausendmannchor, verzwergte jeder Scheinriese zum Beiträger, Farbtupfer, Kammbläser, subkutan, homöopathisch, irrelevant. Konrad Duden hatte kaum noch was hinzuzufügen: 27.000 Wörtlein, aufgestockt 2017 auf 145.000, eine Summe, die nie eine Einzelfigur überblicken oder gar verwenden könnte. Shakespeare, eingepflöckelt in den Kollektiv-Genius der englischen Sprache, verwendet also bloß ein schlappes Zwanzigstel des menschheitsrelevanten Corpus.

Dann kam der Abstieg. Henrik Ibsen brauchte nur noch 27.000, Theodor Storm nur noch 22.400 Wörter, für eloquente Normalsterbliche trotzdem noch unerschwinglich viele. James Joyce würde man zutrauen, das Steuer nochmal rumzureißen. Er drehte voll auf, doch sein Ulysses kam nur auf zirka 60.600, eine gigantöse Leistung, doch leider 30.000 weniger als Goethe. Man würde ja wohl auch Benn mehr Wörter zusprechen mögen als Hesse – Pustekuchen: Hermann Hesse: 15.000, Gottfried Benn 2.700, o je, bloß halb so viel wie Rainer Maria Rilke: 5.000 Worte (siehe Laozi). Goethe besaß zudem 6.000 Bücher, also zehnmal weniger als Ludwig Tieck, Franz Kafka nur noch zirka 240. Viele Sprachen sterben just aus, 2.450 von 6.000, fast so rapide wie Tierarten, allein in Ozeanien 733, Ideolekte und Dialekte nicht mitgerechnet. Von den 50.000 Zeichen oder Wörtern, die in China im Umlauf sind, liegen 40.000 brach.

Doch die kälteste Dusche kommt erst noch. Ein heutiger Akademiker besitzt bloß 320 Bücher und verwendet bloß 1.500 Wörter, also zehnmal weniger als Hesse – und 5.000 Wörter weniger als Apuleios von Madaura, Tacitus oder Tertullianus – peinlich – schwache Leistung. Pisa! Ideocracy! Eskimo, hilf! Im Zeitalter der größten erreichten Wortzahl aller Zonen und Zeiten (inzwischen 5 Millionen deutsche Wörter) verwenden alle Teilnehmer weniger Wörter seit 500 v. Chr. Jaul, kotz, würg! Goethe besaß mehr Bücher, als heutige Studienräte und Journalistinnen Wörter besitzen! Selbst Longlistromanciers und Sachbuchautorinnen überwinden dieses Armutszeugnis kaum in Richtung Rilke oder Grimmelshausen. Immerhin besaß Umberto Eco 80.000 Bücher. Karl Lagerfeld schuf den Mythos, er hätte 300.000 besessen (hat er eine Null angehängt?), welch Oase in der Betonwüste.

Schon naht der nächste Pleitegeier. Politiker/innen besitzen wiederum nur die Hälfte: 790 bis 877 Wörter, plusminus, einerlei auf welchem Kontinent. Konrad Adenauer besaß nicht mehr Wörter als Olaf Scholz. George W. Bush junior: 750. Mit Hilfe ihrer Ghostwriter könnten sie vielleicht mit mehr als 1.000 Wörtern prunken, also nicht nur 9 mal weniger als Goethe, sondern 90mal weniger, im Höchstfalle. Trotzdem stehen sie turmhoch über ihren Wählern, die leider nur 700 bis 740 Wörter aktiv verwenden und kaum dazu neigen, irgendwas niederzutippen.

Für Diplomatie braucht man aber 1.500 Worte. Klar, dass das kaum noch jemand packt. Um Abrüstungsspiralen mit chinesischer Höflichkeit zu garnieren, könnten 5.000 weitere Sahnehäubchen dienlich sein. Hierbei bitte englische Dauerbrenner wie every inch zurückdrängen, oder althebräische Termini umgehen und beschönigen, wie zum Beispiel verfluchen, vertreiben, bewerfen, angreifen, brüllen, zerscherben, durchschneiden, abwürgen, erwürgen, verkrüppeln, zerschmettern, zermalmen, plattmachen, dem Wüstenboden gleichmachen, zertreten, ausrotten, abschlachten, abmurksen, steinigen, tothauen, totmachen, meucheln, morden, töten.

Ulrich Holbein schrieb in konkret 5/23 über Kammermusik in der Folterkammer