Der kleine Unterschied

Wie die französische Presse über die Streiks gegen die »Rentenreform« berichtet. Von Andrei Doultsev

Die Rentenreform löste in Frankreich nicht nur eine gewaltige Protestbewegung aus, sie erntete auch eine für deutsche Verhältnisse undenkbar radikale Kritik durch linke Medien. Das ehemalige Zentralorgan der Kommunistischen Partei Frankreichs, »L’Humanité«, etwa titelte mit »Die Lügen der Regierung« (18.1.), »Sein Stinkefinger gegenüber der Bevölkerung« (17.3.),»Macron wählt die Repression« (22.3.), »Der Pyromane« (28.3.) und schließlich: »Wir gehen nicht über die Straße – wir besetzen sie« (28.4.). Erstaunlich kämpferisch gab sich auch die linksliberale »Libération«: »Renten: Ganz Gallien im Widerstand« (31.1.), »Rentenkrise: SEIN Fehler« (17.3.), »O Wut! O Hoffnungen!« (1.5.).

Wie kommt es, dass sich die französische Presse Parolen erlaubt, von denen man in Deutschland nur träumen kann? Drei Gründe sind vorstellbar: Erstens wurde der Streik in Frankreich 1946 als Verfassungsrecht festgeschrieben. Seitdem gilt trotz der vor wenigen Jahren eingeführten Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit ein demokratisches Gewerkschaftsrecht, das den Generalstreik ausdrücklich erlaubt und somit bessere Grundvoraussetzungen für Tarif- und Klassenkämpfe schafft. Zweitens ist das reaktionäre Kleinbürgertum zwar zunehmend auf dem Vormarsch – medial vertreten durch die rechtsextreme Postille »Valeurs actuels«, Eric Zemmours Stammblatt »Le Figaro« und den TV-Sender CNews –, trotzdem teilt das journalistische Milieu im Lande der Aufklärung eine weitgehend humanistische Grundeinstellung: Das französische Bekenntnis zum Menschenrecht fördert die Gedankenfreiheit eher als das deutsche Bekenntnis zur »freiheitlich-demokratischen Grundordnung«. Und drittens werden die Medien in Frankreich staatlich unterstützt. Kleine Zeitungen wie »L’Humanité« und »Libération« erhalten dabei zwar deutlich weniger Geld als rechte Publikationen wie der zur Dassault-Gruppe gehörende »Figaro« und die Zeitungsgruppe Les Echos/Le Parisien. Doch letztlich trägt diese Form der Subventionierung, die den Erhalt des Pluralismus fördern soll, tatsächlich dazu bei, dass die Presse ihrer Funktion als Ventil für den Unmut über die Untaten der Bourgeoisie etwas nuancierter nachkommen kann als ihr Pendant auf der anderen Seite des Rheins.