Gegen den Tod

Eine Retrospektive in Wien zeigt das Werk der feministischen Künstlerin ORLAN.
Von Geraldine Spiekermann

Anlässlich der Ausstellung »ORLAN – ›This is my body, this is my software‹« in der Galerie La Plaque Tournante (Die Drehscheibe) lernte ich die Künstlerin 2017 in Berlin persönlich kennen. Am Abend der Eröffnung unterschrieb ich dort auch die »Petition gegen das Sterben«. Aktueller denn je in Zeiten des Krieges in Europa, fordert sie alle Menschen zur Unterzeichnung auf, die den Gedanken an den eigenen Tod ablehnen und die nicht hinnehmen wollen, dass geliebte Menschen sterben: »Genug ist genug!«

Sollte diese Petition erfolglos bleiben, plant ORLAN nach ihrem Ableben die Überführung ihres Leichnams in ein Museum: »Ich habe meinen Körper der Kunst geschenkt. Nach meinem Tod wird er … einem Museum übergeben.« Was auf den ersten Blick makaber erscheint, ist in vielen Religionen gängige Praxis. Reliquien von christlichen Heiligen und Märtyrern – skelettierte und mumifizierte Körper(teile) – werden in Kirchen in ganz Europa aufgebahrt. Die Mumie der Prager Äbtissin Marie Elekta od Ježíše, gestorben 1663, befindet sich heute noch in St. Benedikt auf dem Hradschin in einer Glasvitrine. Der langwierige Prozess ihrer Seligsprechung begann 1924 und ist noch nicht beendet.

Die 1947 in Saint Etienne als Mireille Suzanne Francette Porte geborene ORLAN spricht sich dagegen gleich selbst heilig und nennt sich seit 1971 Sainte-Orlan. Und sie verkauft bereits zu Lebzeiten Teile ihres eigenen Körpers als Reliquien. Diese werden aus Operationen gewonnen, die zu ihrem Werkkomplex »L’Art Charnel« (Fleischeskunst) zählen. Von 1990 bis 1993 ließ sie insgesamt neun Eingriffe durchführen. Bei der ersten Operation wurde ihr Fett abgesaugt und in transparentem Harz versiegelt, das in die Form ihrer Arme und Beine gegossen wurde. Diese profanen Reliquien enthalten, genauso wie christliche Votivgaben, Körperteile, die nicht verwesen werden.

Und so wie auf religiösen Bildnissen Heilige und Märtyrer/innen selbst unter der größten Qual der Folter vollkommen gelöst und schmerzfrei dargestellt werden, posiert ORLAN, die nur lokal anästhesiert ist und Morphium erhält, lächelnd, während die scharfen Skalpelle der plastischen Chirurgen ihre Gesichtshaut aufschneiden. Dazu verliest sie Texte aus dem Sanskrit oder von Michel Serres, einem französischen Philosophen. Bei der vierten OP (»Die Wiedergeburt der heiligen Orlan«, 1991) trägt sie opulente Silberkleidung von Paco Rabanne und posiert vor der stets anwesenden Kamera. Die siebte OP (»Allgegenwärtigkeit«, 1993) wurde live in mehrere Galerien und Museen auf der ganzen Welt übertragen, und die blutigen Operationstücher der achten OP verkaufte sie 1993, montiert auf postoperative Porträts, als »Heilige Grabtücher«.

In ihrem Manifest zu »L’Art Charnel« distanziert sie sich unter dem Punkt »Atheismus« jedoch deutlich von der christlichen Tradition. Ihre Fleischeskunst entlarve die christliche Verleugnung des »Lustkörpers« und folge, indem die moderne Medizin genutzt wird, gerade nicht der Tradition des Leidens und des Märtyrertums: »Vive la morphine! A bas la douleur!« (Ein Hoch auf das Morphium! Nieder mit dem Schmerz!) Sie definiert die Fleischeskunst als »ein Selbstporträt im klassischen Sinne, das jedoch mit den Mitteln der heutigen Technologie hergestellt wird«. ORLAN übt demnach keine Kritik an der plastischen Chirurgie, durchaus aber an Schönheitsidealen, welche durch die sogenannte Schönheitschirurgie vermittelt werden und »die sich besonders in das weibliche, aber auch in das männliche Fleisch einschreiben«. »L’Art Charnel« sei daher notwendig feministisch und untersuche die »fortschrittlichen Techniken der Medizin und Biologie, die den Status des Körpers in Frage stellen und ethische Probleme aufwerfen«.

Die Künstlerin versteht ihren Körper daher als ein »modifiziertes Readymade«, als ein formbares Material unter anderen Materialien. Dieser Körper kann operativ verändert, über Reliquien multipliziert und dann wortwörtlich zu Markte getragen werden. Schon im Jahr 1976 offerierte sie in Portugal auf einem Marktplatz zwischen Obst- und Gemüseständen Teile ihres Körpers in Form von lebensgroßen ausgeschnittenen Fotografien. »Sich auf dem Markt in kleinen Stücken verkaufen« bedeutete, dass ihre linke Brust für 2500 Escudos zu haben war, ihr Mund für 500. Ein Jahr später verkaufte sie, während der Kunstmesse Foire international d’art contemporain (FIAC) in Paris, über ihren realen Mund leidenschaftliche Küsse zu je 5 Cent. Sie befestigte vor ihrem Körper eine flache Apparatur, auf welcher ein Foto ihres nackten Körpers aufgezogen wurde. Auf Höhe des Halses konnte das Geldstück in einen Schlitz geworfen werden, woraufhin dieses hinunterfiel bis in einen dreieckigen Behälter auf Höhe der Scham, direkt daneben befand sich der Schriftzug »MERCI«. Mit »Der Kuss der Künstlerin« (1977) wird die Vermarktung der Kunst und der Künstler/innen provozierend und lustvoll zugleich kommentiert. Wie schon der französische Schriftsteller Charles Baudelaire (1821–1867) einst lapidar feststellte: »Was ist Kunst? Prostitution.«

Die spätere, ebenfalls mit »Der Kuss der Künstlerin« betitelte Installation zeigt auf einem schwarzen hochglänzenden Sockel, an dem eine Eisenkette befestigt ist, einen Stuhl mit der abgelegten Apparatur. Daneben eine lebensgroße Fotografie Sainte-Orlans in opulenter weißer Stoffdraperie, inszeniert als barocke Madonna mit beseeltem Blick gen Himmel. Der profane Sockel des Kunstwerks, geschmückt mit weißen Lilien und vier brennenden Kerzen, verwandelt sich in einen schillernden Altar zur Anbetung der Heiligen ORLAN und der Hure ORLAN.

Mit der Verbindung vermeintlicher Widersprüche zwischen Heiligem und Profanem sowie natürlichem Körper und Kunstkörper arbeitet sie gängigen Dichotomien, vorherrschenden Klischees und gesellschaftlichen Konstrukten entgegen. Dem französischen Anthropologen Stéphane Malysse zufolge verwandelt sich ORLAN so in einen neuen Archetyp, erkennbar auch an den zwei unübersehbaren Implantaten an den Schläfen. Diese wurden ihr übrigens von einer Chirurgin implantiert, da der männliche Chirurg sie »hübsch« halten wollte und den »entstellenden Eingriff« verwehrte. Darüber hinaus repräsentiere ORLAN sogar »ihren eigenen ›Stamm‹«, so Malysse. Sie hybridisiere sich in eine »ganz neue Ethnie«, wie die Serie der »Selbsthybridisierungen« (1998–2022) zeige. Mit Hilfe digitaler Technik überblendet sie präkolumbianische (1998) und afrikanische (2000–2003) Stilelemente sowie Bilder der indigenen Bevölkerung Nordamerikas (2005–2008), Masken der Peking-Oper (2014) und Maya-Motive (2022) mit ihrem Gesicht. Was im Diskurs um die sogenannte kulturelle Aneignung aus heutiger Sicht sicher problematisch erscheint, versteht Malysse als künstlerische Neuinterpretation der ambivalenten Beziehung zwischen Anthropologie und Kolonialismus.

In »Biopsie, Der Harlekinmantel« (2007) wurde die digital entwickelte Selbsthybridisierung konsequent am realen Körper weitergeführt. Das Mantelmotiv in ORLANs grenzüberschreitender »Bio-Art« ist Serres’ Buch Der Troubadour des Wissens (1969) entlehnt, in welchem der Harlekin als eine Metapher für Multikulturalität steht. 2015 in Liverpool ausgestellt, zeigt die Installation einen stilisierten Harlekinmantel, in dessen bunten Rauten sich je eine Petrischale befindet. Darin werden über einen Bioreaktor Zellen unterschiedlicher Spezies und ethnischer Ursprünge mit Körperzellen ORLANs verbunden. Im Prozess des Züchtens der Zellen werden die Grenzen zwischen den Spezies und Ethnien auf zellulärer Ebene überwunden und miteinander vermischt.

Die Künstlerin zerteilt den eigenen Körper, vervielfältigt und verwandelt ihn »in eine Reihe von Prothesen«, welche dazu dienen, ihren »zerlegten Körper in den Räumen anderer zu verbreiten«. Mit der Nutzung der jeweils neuesten verfügbaren Technik erscheint ORLAN derzeit rein virtuell über QR-Codes als Augmented Reality, als erweitertes Realitätsbild, in den Galerien und Museen oder sie interagiert mit dem Publikum als Menschmaschine »ORLAN-OÏDE« (2018), versehen mit Künstlicher Intelligenz.

Die frühe Fotografie »Versuch, dem Rahmen zu entkommen« (1966), die repräsentativ für die aktuelle Ausstellung in Wien ausgewählt wurde, steht damit programmatisch für ORLANs künstlerisches Œuvre: Die junge Künstlerin befreit sich, vollkommen nackt, aus dem barocken Goldrahmen der schönen Künste und tritt neugierig hinaus in eine Welt, in der künstlerisch und technisch alles möglich werden kann – eine Kunst, die Grenzen zu überschreiten sucht, auch zwischen Leben und Tod.

»ORLAN. Six Decades«. Bis zum 30. Juni 2023 in der Vertikalen Galerie, Sammlung Verbund, Wien.

Unter demselben Titel erschien der Katalog im Verlag Hatje-Cantz, hg. von Gabriele Schor/Catherine Morris, Berlin 2023, 304 Seiten, 50 Euro

Geraldine Spiekermann schrieb in konkret 11/22 über die Ausstellung »Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne« im Museum Barberini in Potsdam