Bombenfilme

Was der MDR und ein ukrainischer Regisseur über Churchills Luftkriegsterror zu sagen haben. Von Stefan Gärtner

»Artour«, das Kulturmagazin des Mitteldeutschen Rundfunks, ist laut MDR »der kürzeste Weg zur Kultur. Bewegend, erhellend, kritisch und aktuell«, und so berichtete die Ausgabe vom 16. März in bewegender Kritikbereitschaft über einen Film des ukrainischen, in Berlin lebenden Regisseurs Sergei Loznitsa: »Luftkrieg. Die Naturgeschichte der Zerstörung«. Loznitsa beruft sich auf W. G. Sebald, der in seinem Buch Luftkrieg und Literatur (1999) die Bombenangriffe auf deutsche Städte als schriftstellerisches »Tabu« bezeichnete, und MDR-Autor Lutz Pehnert legt gleich gut los: Frieden ist vor allem eines: Die Abwesenheit von Krieg. Die Hakenkreuzfahnen auf dem Kurfürstendamm fallen kaum auf. In den Straßen von Berlin herrscht geschäftiger Trubel; noch. Denn diese Bilder sind nur der Prolog. Zu einem Inferno nämlich: Köln. Hamburg. Berlin. Städte im Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges. … Mit bislang teils ungesehenem Material aus diversen Archiven zieht der Film den Zuschauer in einen Sog des Schreckens und macht eine kollektive Tragödie erfahrbar, denn Tragik ist, wenn alle schuld sind, also niemand.

Noch heute, fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, gehört der Bombenterror gegen die Zivilbevölkerung zum legitimen Mittel der Kriegsmaschinerie, und Regisseur Loznitsa will, sagt er, das Konzept des totalen Krieges veranschaulichen, in das jeder Mensch involviert wird, ob er will oder nicht. Die Umstände drängen ihn dazu. Darüber müssen wir nachdenken. Wie vielleicht auch darüber, ob der deutsche Mensch nicht mit ziemlicher Zustimmung in das Konzept des totalen Krieges involviert war und der Bombenterror gegen die deutsche Zivilbevölkerung nicht einer, der dem mit zivilgesellschaftlicher Billigung zum Untermenschen erklärten Victor Klemperer das Leben gerettet hat. Clausewitz, weiß wiederum Pehnert, beschrieb die Menschheitsgeschichte als eine »Geschichte von Kriegen«. Friedensperioden erscheinen nur als notwendige Pausen zur Vorbereitung auf einen neuen Krieg. Des Drehs, die (deutsche) Verantwortung für Krieg und Frieden mit dem Hinweis auf Krieg als Geschichts- und Naturkonstante zu eskamotieren, hat sich zuletzt der Romancier Ralf Rothmann bedient (siehe konkret 9/22), und der MDR ist gern zur Stelle: Kämpften Herrscher und ihre Armeen einst auf Schlachtfeldern, führten technologische Entwicklung und Massenproduktion der Kriegsmaschinerie – wir sehen eine nazideutsche Flugzeugfabrik, immerhin – zu einer Totalität, die auch die Zivilbevölkerung als Ziel und Opfer einschließt, etwa im »Unternehmen Barbarossa«, das ausdrücklich vorsah, minderwertige oder sonstwie störende Zivilbevölkerung zu ermorden; weswegen jetzt auch Himmler kommt. Oder wenigstens Churchill: »Gott steh uns bei. Wir haben keine Wahl.« Dann fliegen die Bomber. Tragisch.

Denn: Gestorben wird auf jeder Seite des Krieges. »Die Geschichte lehrt uns bedauerlicherweise bis heute, dass der Krieg zur menschlichen Natur gehört. Obwohl jeder weiß, dass Staaten, die sich bekämpfen, am Ende nichts erreichen. Alle verlieren nur. Kein Krieg in der Geschichte hat ein einziges Problem gelöst. Jeder weiß das. Trotzdem werden weiter Kriege geführt.« Als hätte der alliierte Krieg gegen Deutschland nicht sogar ein Menschheitsproblem gelöst, und wenn es je einen gerechten, notwendigen, vernünftigen Krieg gegeben hat, dann diesen. Der Film erklärt keine historischen Kausalitäten, ordnet das Gezeigte nicht ein, kommentiert nichts. Das ist praktisch, denn dann muss er nicht erklären, dass die Idee des Bombenterrors aus der Luft eine deutsche war und das zynische Wort »coventrieren« die Methode bezeichnete, Städte wie das englische Coventry oder auch Rotterdam dem Erdboden gleichzumachen. »Ob deutsche Flugzeuge ihre Bomben über britischen Städten abwerfen oder alliierte Bomben auf Deutschland niedergehen, ist meist nicht zu erkennen«, rezensierte irritiert die »SZ«. »Diese Gleichbehandlung provoziert, eine Verharmlosung der deutschen Kriegsschuld aber wird man Loznitsa kaum unterstellen«, denn von ihm stammt der Dokumentarfilm »Babi Yar. Context«, der 2021 das Massaker an über 30.000 Juden in der gleichnamigen Schlucht nahe Kiew rekonstruierte, und ein Film über den KZ-Tourismus (siehe konkret 12/16). Im Fernsehen sieht man trotzdem das friedliche Berlin und nicht das friedliche Rotterdam, und wenn wir Goebbels »Gegenterror!« fordern hören, dreht das die historische Kausalität hübsch um; und wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 Leichen oder wenn 1000 Leichen beisammen liegen, dann sind es deutsche Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder, Ziel des angloamerikanischen Bombenterrors und Opfer der nationalsozialistischen Umstände.

Entstanden ist der Film vor dem Krieg gegen die Ukraine. Nun korrespondieren die historischen Aufnahmen unweigerlich mit den grausamen Bildern der Gegenwart aus Mariupol, Charkiw, Butscha. Bloß dass die Menschen in Mariupol, Charkiw, Butscha, und sollten auch Fans des Nazi-Kollaborateurs Bandera darunter sein, keinen Vernichtungskrieg vom Zaun gebrochen haben, und was also unweigerlich korrespondiert, ist wieder mal das, was die »SZ« nicht unterstellen will. Loznitsa kennt die Kontinuitäten: Russische Bomber haben die syrische Stadt Aleppo zerstört. Das war ihre Probe für die heutige Mission, den Angriff auf ukrainische Städte und ihre Menschen. Darüber müssen wir nachdenken und reden. Denn das ist ein Kriegsverbrechen. Es ist unmöglich, das zu akzeptieren …

Dass die Zerstörung deutscher Städte ein Kriegsverbrechen gewesen sei, ist eine Überzeugung, die bislang beim Dresdner Nazi gut aufgehoben war. Der MDR und ein Regisseur, der’s gut meint, machen sie jetzt, fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, zur besten Sendezeit plausibel. Der Krieg ist ein Wahnsinn, jeder Krieg. Ob Sieg oder Niederlage, er hinterlässt eine gigantische Zerstörung, schließt Pehnert salomonisch. Dieser Film ist mehr als nur eine Mahnung. Er ist ein Appell an unsere Gegenwart.

Wo ein Appell an den Rundfunkrat sicher sinnlos ist.

Von Stefan Gärtner erschien soeben das Buch Tote und Tattoo. Essays, Glossen, Kritik der Dummheit. Edition Tiamat, Berlin 2023, 336 Seiten, 24 Euro