1000 Pogrome

An über 500 Orten, die heute zur  Ukraine gehören, wurden zwischen  dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem  Ende des polnisch-sowjetischen Krieges  im März 1921 etwa 1.000 Pogrome begangen. Mindestens 40.000 jüdische Kinder, Männer und Frauen wurden dabei ermordet, mindestens weitere 70.000 starben an den Folgen dieser Angriffe. Etwa zwei Drittel aller jüdischen Häuser und über 50 Prozent aller jüdischen Geschäfte und Unternehmen in der Region wurden geplündert oder zerstört. Einige der Pogrome waren nach wenigen Stunden vorüber, an anderen Orten dauerten die Gewalttaten Wochen. An vielen Tatorten fanden die Mörder – mehrheitlich ukrainische  Soldaten, Soldaten der zaristischen Freiwilligenarmee, in einigen Fällen auch Soldaten der polnischen Armee und Angehörige sowjetischer Einheiten – lokale Helfer. Kinder und Frauen führten die  Mörder zu den Wohnstätten jüdischer Familien. Bauern, Angestellte oder Bekannte stahlen nach den Morden den Besitz  ihrer Nachbarn. An sehr wenigen Tatorten ließen sich die Pogrome stoppen, weil lokale Autoritätspersonen einschritten –  Geistliche, Politiker, Polizisten. Wer sich tot stellte oder zwischen Leichen versteckte, hatte in einigen Fällen die Chance, den Abzug der Mörder zu überleben. Jüdische Flüchtlinge bezeugten den Spott und die Häme ukrainischer oder polnischer Zuschauer. Wenn überhaupt Täter zur Rechenschaft gezogen wurden, geschah dies in der Regel vor sowjetischen Tribunalen.

Klar und detailliert hat Jeffrey Veidlinger die bis heute kaum bekannten Pogrome von Ovrutsch, Schytomyr, Proskuriv, Lviv und Tetijiv rekonstruiert und  im Zusammenhang der Kämpfe um proletarische Revolution beziehungsweise ukrainische und polnische Nationalstaatlichkeit dargestellt. Zu empfehlen ist die Lektüre des Buches aber auch wegen der  zeitgeschichtlichen Bewertung der Pogrome als »Vorgeschichte« des genozidalen Antisemitismus deutscher Täter während des Zweiten Weltkriegs. Veidlinger betont, »dass das Töten in den deutsch  besetzten Regionen der Sowjetunion vor allem von Feindschaft gegen den Bolschewismus und die vermeintliche Prominenz von Juden in dieser Bewegung angetrieben wurde, denselben Faktoren,  welche die Pogrome von 1918 bis 1921 motiviert hatten«.

Jens Hoffmann

Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa – Die Pogrome von 1918 bis 1921 und die Vorgeschichte des Holocaust. C. H. Beck, München 2022,  456 Seiten, 34 Euro