VON konkret

Die wünschenswerte Antwort auf soziale Verelendung wäre die Revolution oder doch zumindest der soziale Protest. Leider erschöpft er sich meist im Diffamieren, Bedrohen und Attackieren von Migranten, Juden und Schwulen (siehe da-zu Michael Bittners Beitrag auf Seite 10). Die Verantwortung dafür, dass man mit dem Einkommen nicht über die Runden kommt, nicht dem zu geben, der es zahlt, sondern denen, denen es noch dreckiger geht, entbehrt jeder Logik, hat aber den Vorteil, dass dazu kein Mut gehört und solches Tun die regressive Wärme nationaler Zusammengehörigkeit verspricht.

Auch ist denjenigen, die mit Gängen zum Amt, mit Arbeit und Abstiegsängsten so auf Trab gehalten werden, dass sie nicht zum Denken kommen, nur bedingt zu verübeln, wenn sie ausagieren, was öffentliche Rede und Regierungspolitik behaupten: dass nämlich Migranten keine Menschen sind. Wie anders ließe sich die deutsche Migrationspolitik legitimieren als mit Äußerungen wie der, die der sächsische Innenminister Armin Schuster angesichts der brennenden Flüchtlingsunterkunft in Bautzen machte: »In einer solchen Zeit Zuflucht zu verweigern auf die menschenverachtende Art und Weise – das ist nicht nur fremdenfeindlich, das ist menschenfeindlich.« Wer so genau zwischen Fremden und Menschen zu unterscheiden weiß, muss sich nicht wundern, wenn andere nicht auf den Gedanken kommen, dass eine Flüchtlingsunterkunft in Brand zu setzen menschenverachtend sein könnte.

Ebenso »differenziert« wie Schusters Sortierung ist die Migrationspolitik der Bundesministerin des Innern und für Heimat, Nancy Faeser (SPD), die jene, die vor Krieg und politischer Verfolgung fliehen, davor schützen will, sich »auf gefährlichen Fluchtrouten in Lebensgefahr bringen zu müssen«. Wie will sie das erreichen? Indem sie mit Serbien darüber verhandelt, die Visumspraxis zu ändern. Denn Serbien gewährt einigen Ländern, darunter Kuba, Tunesien und Burundi, Visa-Freiheit. Das muss ein Ende haben, zum Schutz der Geflüchteten, versteht sich.

Braucht ein Land mit so einer Sozialdemokratie noch Faschisten? Scheint so. Auch in Schweden (siehe Seite 36), wo eine rassistische Migrationspolitik zum guten Ton der sozialdemokratischen Programmatik gehört, ist noch ein Rechtsdruck möglich. Es ist zu befürchten, dass die wenigen, aber doch erhaltenswerten zivilisatorischen Errungenschaften, die der reiche Norden sich im Lauf der letzten Jahrzehnte geleistet hat – Rechte von Schwulen, Frauen, Transpersonen, Behinderten –, bei zunehmender ökonomischer Instabilität zugunsten eines reaktionären Familien- und Gesellschaftsbildes wieder kassiert werden. Das gilt nicht nur für Italien, Dänemark und Schweden, sondern auch für Israel, das mit der letzten Wahl dem allgemeinen Rechtstrend folgt. Benjamin Netanjahu kommt mit seinem rechten Bündnis aus Likud, Schas, Thora Judentum und der religiös-zionistischen Partei auf eine Mehrheit von 64 Sitzen in der Knesset, die vermutlich zumindest stabiler ist als die Regierung, die sie ablöst. Dabei ist Netanjahu allerdings vor allem auf die rechtsradikale Partei Otsma Jehudit (Jüdische Stärke) angewiesen, deren Chef Itamar Ben-Gvir ein verurteil-ter Rassist ist. Denn dieser hat seine Entwicklung vom »political untouchable« zum »marquee of attraction« (»Washington Post«) allein deshalb machen können, weil die israelische Gesellschaft seine Positionen mittlerweile weitgehend teilt. Und damit fügt sich Israel ein in die politische Faschisierung, die sich im Westen insgesamt breitmacht.

Am 24. September ist der österreichische Filmemacher und langjährige konkret-Redakteur und -Autor Karl Pawek gestorben. Sein erster Artikel (»Spaghetti von Selbstmitleid«, konkret 4/76) beschrieb ein linkes Milieu, das sich schon damals mit der eigenen Wirkungslosigkeit arrangiert hatte. Sein letztes konkret-Stück erschien 27 Jahre später.

Was von Literaturpreisen zu halten ist, zeigen die Begründungen, mit denen sie verliehen werden. Sie honorieren alles Mögliche: eine »humanitäre Haltung«, einen »entschiedenen Verfechter europäischer Werte«, »eine Symbolfigur des Kampfes der Ukraine um ihre Freiheit«, aber selten dichterischen Wert. Hin und wieder findet jedoch auch ein Analphabet ein Stück Literatur: Nicht nur konkret-Autor Gerhard Henschel hat, weil er einer der »vielseitigsten« Autoren auf dem »Gebiet der Hochkomik« (Jury) sei, jetzt den mit 10.000 Euro dotierten Kasseler Literaturpreis erhalten, auch konkrets Hausdichter, Marco Tschirpke, hat den kleinen dinggang für komische Lyrik verliehen bekommen. Tschirpke tritt am 2. Dezember 2022 um 20 Uhr mit »Kalender, deine Tage sind gezählt« im Nürnberger Burgtheater auf.

Für diese und vermutlich die nächsten Ausgaben kann Ernst Kahl keine Weihnachts-, Neujahrs- und Frühlingsgrüße senden.