»Es geht um alles«

Seit Wochen demonstrieren vor allem iranische Studentinnen und Schülerinnen  gegen die dortige Regierung. konkret sprach mit Hamid Nowzari, dem Geschäftsführer  des Vereins iranischer Flüchtlinge in Berlin, über die Hintergründe der aktuellen  Proteste und ihre Erfolgsaussichten 

konkret: Ein Großteil der Protestierenden im Iran ist sehr jung. Woran liegt das?

Hamid Nowzari: Dass vor allem Frauen und Jugendliche beziehungsweise sehr junge Frauen auf die Straße gehen, ist eine neue Entwicklung, die sich vor allem dadurch erklärt, dass es junge Frauen sind, die von der Gesetzgebung und der sozialen Repression der letzten 43 Jahre am stärksten betroffen sind. Dass ältere Männer sich zurückhaltender an den Protesten beteiligt haben, mag damit zu tun haben, dass die Forderungen der Demonstrantinnen und Demonstranten das Patriarchat insgesamt und damit auch ihre Privilegien in Frage stellen.

Wie weit gehen die Forderungen der Demonstrierenden?

Die Parole »Frau – Leben – Freiheit« klingt sehr einfach, aber wenn sie durchgesetzt würde, würde das die islamische Republik in ihren Grundfesten erschüttern. Denn sie stellt die Verbindung von Religion und Staat ebenso in Frage wie die systematische Diskriminierung von Frauen und fordert die Möglichkeit, so zu leben, wie es einem gefällt. Es geht also um alles.

Wie ist die Lage der Frauen im Iran? Es scheint ein Widerspruch zu sein, dass man Frauen dort den Zugang zu Bildung gewährt und die meisten anderen grundlegenden Rechte verweigert.

Es ist in der Tat so, dass der einzige öffentliche Raum, in dem Frauen willkommen sind, die Universitäten sind. 70 Prozent der Studierenden sind weiblich. Für die meisten iranischen Familien, ob traditionell oder modern, ist Bildung ein Muss. Aber für diese gutausgebildeten Frauen gibt es kaum Platz auf dem Arbeitsmarkt. Das gilt in besonderem Maß für den öffentlichen Dienst. Dort, wo der Staat sein Monopol hat – im Fernsehen, an den Universitäten und an Schulen –, ist Vollverschleierung vorgeschrieben. Doch das Regime kann nicht die gesamte Bevölkerung unter seine Kontrolle bringen. Auf der Straße sieht es schon anders aus. Und wenn man sieht, dass es auf der Straße zu locker wird, lässt man die Sittenpolizei stärker durchgreifen, die die Frauen dann verwarnt oder verprügelt oder verhaftet, das hängt von der Situation ab.

Die Lage der Frauen im Iran wirkt trotzdem freier und emanzipierter als etwa in Saudi-Arabien, weil die Frauenbewegung und der Widerstand gegen das Regime hier viel stärker sind. Emanzipatorische Werte sind unter den Frauen im Iran, insbesondere in den Großstädten, viel weiter verbreitet als in den Nachbarländern.

Wie religiös ist die iranische Bevölkerung?

Tiefreligiös sind nur sehr wenige. Die meisten wollen zumindest nicht, dass Religion ihr gesamtes Leben beherrscht. Sogar einige »alltagsreligiöse« Menschen wollen nicht hinnehmen, dass man sich öffentlich nicht küssen darf und Frauen nicht öffentlich singen und tanzen dürfen. Der Rückhalt für die staatlich verordnete, fundamentalistische Religion ist also sehr gering.

Welche Rolle spielt die ökonomische Situation des Landes bei den Protesten?

Eine große. Die letzten Revolten in den neunziger Jahren hatten nur wirtschaftliche Hintergründe. Man hatte nichts mehr zu essen, und die Preise für Mieten und Lebensmittel waren völlig unerschwinglich. Diesmal wurde der soziale Protest mit dem fortschrittlichen verbunden. Deshalb ist die Sache diesmal auch nicht so einfach zu kontrollieren.

Gibt es im Iran ein Demonstrations- und Versammlungsrecht?

Nach iranischem Gesetz müssen nur Demonstrationen der Parteien angemeldet werden. Privatpersonen dürfen sich eigentlich jederzeit versammeln. Es sei denn, die Demonstration verletzt die islamische Gesetzgebung. Und damit ist de facto jeder Protest verboten.

Wie ist die Situation in den kurdischen Gebieten?

In den Großstädten wird mitunter Rücksicht darauf genommen, dass viele der Protestierenden junge Frauen sind, gegen die man nicht so brutal vorgehen will, weil es einfach nicht gut aussieht. Solche Zurückhaltung gibt es in den Regionen Kurdistan und Belutschistan nicht. Dort wird brutale Gewalt gegen die Demonstranten eingesetzt, weshalb die Zahl derer, die von Polizeikräften und Militärs meist ohne große Vorwarnung erschossen wurden, dort auch besonders hoch ist.

Legitimiert wird diese Gewalt damit, dass in den Randgebieten Separatisten Unruhe stiften würden, die vom Westen gesteuert würden, um dem Iran zu schaden. Überhaupt werden eigentlich für jede Form des Protests westliche beziehungsweise US-amerikanische Agenten verantwortlich gemacht. Eine positive Entwicklung im Zuge der jüngsten Proteste im Iran ist der wachsende Zusammenhalt zwischen der Bevölkerung in den Randgebieten und der im Zentrum des Iran.

Wie stehen die Chancen, dass die Proteste Erfolg haben?

Ohne landesweite Streiks besonders in den Schlüsselindustrien, wie der Ölwirtschaft, oder unter den Staatsbeamten werden diese Proteste keinen Erfolg haben. Es gibt Anzeichen dafür, aber keine besonders starken.

Wenn das Regime abtreten müsste, wie groß wäre die Gefahr, dass dem Iran dasselbe Schicksal droht wie Libyen oder dem Irak?

Mit dieser Angst versucht das Mullah-Regime seit Jahren, das Land zu beherrschen und das brutale Vorgehen gegen jede Form des Protests zu rechtfertigen. Dabei ist sie völlig unbegründet. Gerade die aktuellen Demonstrationen haben die verschiedenen Teile des Iran eng zusammengeführt.