Unser Gorbi

Kein Nachruf. Von Georg Seeßlen           

Hat es Michail Gorbatschow wirklich gegeben? Ich denke schon. Er war ein Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, der die Sowjetunion und damit  die Weltordnung des Kalten Krieges gründlich veränderte und zwei Begriffe in die Welt  brachte, die nicht nur in den politischen Jargon Eingang fanden: »Glasnost« und »Perestroika«. Transparenz und Umgestaltung.  Jedes politische System dieser Welt muss  seither diese zwei Impulse fürchten. Eine Regierung, egal welchen Anstrich sie sich gibt  und welche »soften« oder »harten« Mittel sie  anwendet, dient nämlich in erster Linie genau dazu, das zu verhindern: Transparenz  und Umgestaltung. Was hat sich Herr Gorbatschow also eigentlich dabei gedacht?

Die einfache Geschichte im Doppelpack: Die einen sehen ihn als Helden der Befreiung, wobei politisch-ökonomischer Umbau und kulturelle Liberalisierung ineinandergriffen, zum Teil ziemlich widersprüchlich. Die anderen sehen ihn als Totengräber eines Riesenreiches, in dem aus der Umgestaltung der Zerfall und aus der Transparenz Orientierungslosigkeit wurde. Näher besehen  kriegt das Heldenbild Michail Gorbatschows blinde Flecken (auf politisch-militärische Gewalt hat auch er nicht verzichtet), und die Totengräbersache lässt das wirtschaftliche und geopolitische Hintergrundgeschehen einfach außer acht. Vielleicht steckte ja auch etwas von einem Rettungsversuch in der Umgestaltung. Das alles jedenfalls wäre Analyse und Debatte wert, wenn irgendwer noch  Interesse an Analyse und Debatte hätte, hier wie dort.  

Gorbatschow stand im Zentrum der vorletzten »Zeitenwende«. Der Ostblock als politisch-militärische Allianz unter sowjetischer Führung war genauso wenig zu retten wie der real existierende Sozialismus. Was blieb, waren »nationale Identitäten«. Und nach Gorbatschow kam Jelzin, ein zwiespältiger Verwalter des Gorbatschow-Erbes, jedenfalls kein Held, sondern, wie man in Geschichtsbüchern dann gern schreibt, eine Figur von Krise und Übergang, und zwar dem zu Wladimir Putin, der, so geht die einfache Geschichte weiter, weder den territorialen Zerfall noch die zaghafte Demokratisierung seines Landes hinnehmen konnte und mit einem Krieg, der sowohl die Züge eines neuen Imperialismus als auch die einer kleptokratischen Form des Kapitalismus trägt (ein bisschen Klerikalfaschismus obendrauf), die nächste sogenannte Zeitenwende einleitete. Oder die Vollendung der ersten, wie man’s nimmt. Denn schon im Tschetschenien-Krieg unter Jelzin zeichnete sich der  Schmutz im Zerfall und das Blut der Reaktion ab. Gorbatschow war als »Freiheitsheld« in den Archiven und in der Nostalgie verschwunden; der wirkliche Michail  Gorbatschow, Sohn eines Russen und einer Ukrainerin (so sieht man es heute), war kaltgestellt, und seine Stimme drang nicht einmal in die nähere Umgebung des Wladimir  Putin, den zu verhindern er offensichtlich weder die politische Weitsicht noch die Menschenkenntnis gehabt hat. So entsteht die große Geschichte eines tragischen Scheiterns. Noch einmal fällt der Boulevard über  dieses Bild her, noch einmal tut es propagandistische Dienste: der weise Staatsmann, der von seinem kriegslüsternen Sohn verraten  wurde, und der alte einsame Mensch, der ohne seine Raissa keinen rechten Lebensmut mehr hatte.

Dieser Gorbatschow, wie er von der Bühne der Politik in unsere medialen Träume hinübergeht, hatte ja nicht nur Ideen. Er war auch ihre Verkörperung: eine betont zivile Erscheinung, so weit entfernt von den absurden, mit Orden gepflasterten Uniformen der Breschnew-Ära wie von den chauvinistischen Männerakten des Putinismus. Für einen nicht unerheblichen Teil der Menschheit war Gorbatschow aus der Welt surrealistischer Alptraumbilder in den Bereich semantischer Normalität getreten. Mit dem, so vermittelte das, konnte man nicht nur diplomatische Beziehungen haben, mit dem konnte man auch reden.

»Mr. Gorbatschow, tear down this wall«, nölte Ronald Reagan, und Michail tat ihm und vielen anderen den Gefallen. So jedenfalls spukte der andere, der Gorbatschow unserer Träume, rundköpfig, lächelnd, als hätten sich Wissen, Freundlichkeit, Ironie und Chuzpe ein Stelldichein gegeben, in den Medienbildern, und Raissa gehörte dazu, und das Foto des Traumpaars verdrängte hier und dort die Lenins, Ulbrichts und Honeckers. Der Kult um »Gorbi« entwickelte sich aus der Absage an den Personenkult – hätte man je einen Führer der Sowjetunion oder anderer Staaten des Ostblocks so zärtlich intimisieren können, ohne Furcht, zur Rechenschaft gezogen zu werden (wie etwa bei einem despektierlichen »Honni«)?

Diese Zeitenwende also hatte ein Gesicht, und dieses, das von Michail Gorbatschow, strahlte für eine kurze Zeit über der  Welt. Manchem schien es, als wäre es die Garantie dafür, dass die Demokratie und mit ihr auch bescheidener Wohlstand für alle ins Land kommen konnte, und dafür, dass es tatsächlich in absehbarer Zeit so etwas wie Frieden geben könnte und internationalen Austausch mit etwas mehr Verteilungsgerechtigkeit. Doch was vor allem kam, war der westliche Kapitalismus, der sich einen Dreck darum scherte, ob jemand wie Gorbatschow die Versprechungen erfüllen könnte, die er seinen Leuten gegeben hatte. Der Westen adoptierte das Gesicht von Gorbatschow und entleerte seine Botschaft. Nun war er sehr rasch nur noch »unser« Gorbi: ein Moses, der  ein paar Völker in ihre Freiheiten geführt  hatte, ohne dass er selber Teil dieser neuen Freiheiten sein konnte. Man kann es ganz buchstäblich nehmen: Der »echte« Gorbaschow blieb zurück. Das Gorbatschow-Bild  stand dagegen eben nicht mehr für die Umgestaltung, sondern für den Abschied. Und es wurde vom Teil der dankbaren Erinnerung zum Teil der semantischen Beute. Das Alte und das Neue, im Blick eines Mannes verbunden, der auf eine väterliche Art weich wirken konnte. Die Auflösung und das »Erlauben«, durchaus auch Anstrengung des Neubeginns. Das heißt: Das Freiheits- und das Totengräber-Image sind gar keine alternativen Lesarten, es sind zwei Ansichten derselben politischen Skulptur. Eine Ikone für die postsozialistische Welt. Wie zuvor die Bilder von John  F. Kennedy und dem Papst konnte man ein  paar Jahre lang das Bild von Gorbatschow auf den üblichen Porzellantellern erwerben, die auf dem Petersplatz von Rom verhökert werden. Man konnte im Karneval als Gorbatschow gehen, und die Gorbatschow-Witze der deutschen Lachkultur enthielten sich für einmal ihrer üblichen Obszönität. In Norwegen, Togo und Malta wurden Gorbatschow-Briefmarken ausgegeben. Und nun, wir hätten es  uns nicht besser ausdenken können, schlägt die SPD-Fraktion in Gera die Umbenennung einer Straße in »Michail-Gorbatschow-Straße« vor. In den Kondolenz-Tweets kommen weder Glasnost noch Perestroika vor, sondern nur die Verehrung als »Vater der deutschen  Einheit«. Dass Gorbatschow auch Reklameonkel für Pizza Hut und Louis Vuitton geworden war, ist da nur noch ein sarkastischer Schlenker in der Geschichte einer ikonischen Aneignung. Nicht nur gegen die Reaktion seiner Nachfolger, sondern auch gegen diese Aneignung stand der wirkliche Michail  Gorbatschow auf verlorenem Posten.

Georg Seeßlen schrieb in konkret 3/22 über Kunst im Zeitalter des Online-Kapitalismus