Es geht ein Ruck durchs Land

Auf ihrem Parteitag in Riesa sei die AfD noch weiter nach rechts gerückt, behaupten politische Kommentatoren. Wie hat man sich das vorzustellen? Von Bernhard Torsch

Oktober 2004. In der Kärntner Ortschaft Feldkirchen treffen sich Neonazis aus ganz Europa. Star der Horrorshow ist Herbert Schweiger, ehemaliges Mitglied der »Leibstandarte SS Adolf Hitler« und einer der einflussreichsten Theoretiker des Neonazismus. Nach der Präsentation seines neuen Buchs, in dem er für eine »großrassige Zusammenarbeit der weißen Völker Europas« unter der Führung von Deutschland und Russland wirbt, schwärmt er gegenüber Undercover-Journalisten von Wladimir Putin, bekräftigt ohne Scham seinen Hass auf Juden und sagt schließlich: »Deutschland ist reif für etwas Neues. Für eine Alternative, eine Alternative für Deutschland.«

18 Jahre später und knapp zehn Jahre nach Parteigründung der Alternative für Deutschland berichteten viele Journalistinnen und Journalisten der bürgerlichen Presseorgane über einen Parteitag der AfD, der im Mai 2022 im sächsischen Riesa stattfand, und wirkten recht enttäuscht, weil sich die angeblich »moderaten« Kräfte innerhalb der Partei nicht durchsetzen konnten. Statt dessen wurde der sächsische Maler und Anstreicher Tino Chrupalla mit knapper Mehrheit als Parteivorsitzender bestätigt, wobei ihm die Delegierten als Coparteichefin Alice Weidel zur Seite stellten, eine Frau, die man laut Hamburger Landgericht in satirischer Zuspitzung eine »Nazi-Schlampe« nennen darf.

Die »Moderaten« verloren auf dem Parteitag jede Abstimmung. Kein einziger ihrer Anträge erreichte eine Mehrheit. Der Bundesvorstand, bestehend aus 14 Personen, wurde mit 14 Rechtsextremisten besetzt. Der »gemäßigte Flügel« der AfD gab sich einmal mehr als Wunschtraum der Unionsstrategen und ihrer publizistischen Lautsprecher zu erkennen, die gerne nachmachen würden, was ihre österreichische Schwesterpartei ÖVP vorgemacht hat: nämlich mit Rechtsextremisten zu koalieren, um das Land noch unverschämter ausrauben zu können, als es selbst mit der korruptesten SPÖ möglich wäre.

Der andere »Flügel« ist hingegen kein bürgerlicher Wunschtraum, sondern Realität. Diese Kampftruppe innerhalb der AfD hört auf das Kommando von Björn Höcke, hat wie dieser unzählige inhaltliche Verbindungen zur militanten Neonazi-Szene, steht wie Höcke wegen »gesichert rechtsextremistischer Bestrebungen« unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes und sollte sich auf Wunsch des damaligen AfD-Führers Jörg Meuthen 2020 auflösen, weil er das wahre braune Antlitz der Partei gar zu deutlich kenntlich machte. Höcke lachte kurz und machte mit seinem »Flügel« weiter, wie es ihm beliebte, denn das war ja kein eingetragener Verein mit Mitgliederlisten. Beim Parteitag in Riesa zog der »Flügel« nach Höckes Regieanweisungen die Fäden und machte so klar, wer in der AfD wirklich das Sagen hat.

Da der Parteitag im Mai stattfand, als noch das Entsetzen über Russlands Angriff auf die Ukraine und weniger die Bedenken angesichts steigender Öl- und Gaspreise im Vordergrund stand, brach der Parteivorstand die Veranstaltung überstürzt ab, bevor ein vom »Flügel« lancierter Antrag beschlossen werden konnte, der den Krieg als »Ukraine-Konflikt« verharmloste. Gegen diese Verharmlosung hätte in der AfD niemand etwas einzuwenden gehabt, aber man fürchtete die öffentliche Wirkung. Die Kerzen der politischen Analyse brennen in der politischen Rechten noch weniger hell als die Funzeln bei den Linken, weswegen die Rechten nicht bedachten, dass die Solidarität mit der Ukraine nur so lange anhalten würde, bis Tanken, Urlaubsflug und Bier teurer würden, und sie vermutlich ihr Ende dann finden wird, wenn es ans Hungern für den Sieg geht. Inzwischen hat die AfD geschaltet und inszeniert sich als propagandistische Speerspitze in Sachen »Putin geben, was Putin will«.

Der von vielen Medien beklagte »Rechtsruck«, den die AfD im Mai vollzogen haben soll, ist keiner, denn auch unter dem angeblich »bürgerlichen« Jörg Meuthen stand diese Partei so weit rechts, wie es das Grundgesetz mit Ach und Krach erlaubt. Der Wirtschaftswissenschaftler Meuthen, den man am ehesten als Nationalneoliberalen charakterisieren könnte, hatte Höckes »Flügel« so lange als »integralen Bestandteil unserer Partei« hofiert, bis ihm dieser innerparteilich gefährlich wurde und die AfD als Koalitionspartnerin für künftige rechts-rechtsextreme Koalitionen unmöglich zu machen drohte. Dann freilich, als es um Posten und damit um Geld sowie um die Gefährdung eines in Planung befindlichen rechtsautoritären Projektes nach dem Vorbild Ungarns, Polens oder Österreichs ging, entdeckte Meuthen plötzlich, dass der »Flügel« antisemitische und rassistische Positionen vertritt. Das muss Meuthen sehr überrascht und schockiert haben, denn wie hätte einer, der sieben Jahre lang an der Spitze einer rechtsextremen Partei stand und der Björn Höcke verteidigte, nachdem dieser in seiner berüchtigten »Dresdner Rede« eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad« gefordert und faktisch neonazistische Positionen vertreten hatte, ahnen können, dass es in seiner Partei Antisemiten und Rassisten gibt?

Meuthen verlor den innerparteilichen Machtkampf nicht zuletzt wegen einer Spendenaffäre, die just in dem Moment bekannt wurde, als er sich mit dem braunen Trio Weidel, Chrupalla und Höcke angelegt hatte. Derzeit untersucht die Berliner Staatsanwaltschaft, ob der damalige EU-Parlamentarier verbotenerweise von einer Schweizer Werbeagentur mit Inseraten, die diese Agentur bezahlt haben soll, unterstützt worden ist. Mittlerweile ist Meuthen aus der AfD aus- und in die Deutsche Zentrumspartei, eine Sekte des politischen Katholizismus, eingetreten.

Die AfD, die unter Figuren wie Meuthen oder Bernd Lucke keine andere Partei war als unter Weidel und Höcke, verlor mit dem bieder wirkenden Ökonomen eine wichtige personelle Verbindung zur bürgerlichen Mitte. Die Talkshows des Landes hatten Meuthen immer gerne eingeladen, wenn sie radikal wirtschaftsliberale und konservative Positionen pushen wollten, denn der Mann hatte das Talent, die Niedertracht und den mühsam unterdrückten Größenwahn, die den autoritären Kern der gehobenen deutschen Mittelklasse ausmachen, mit einer onkelhaft harmlos wirkenden Attitüde in Worte zu kleiden, die auch in den Kommentarspalten von »FAZ« oder »Welt« zu lesen sind. Einige Jahre lang war Meuthen ein Quotenhit im deutschen Fernsehen und ein Stimmenbringer für die AfD bei Wahlen, denn allzugern wollten große Teile der Bürgerlichen die Mär glauben, die Rechtsextremisten seien selbst bürgerlich geworden. In Wirklichkeit wurden nicht Meuthen oder die AfD bürgerlich, sondern das Bürgertum entpuppte sich als rechtsextrem verroht und war der lästigen Zivilisiertheit überdrüssig geworden. Die deutschen Rechtsextremisten nahmen kein Blatt mehr vor den Mund, noch bevor die hiesigen bürgerlichen Parteien den Zustand jener Verkommenheit erreichten, die in Österreich eine ÖVP-FPÖ-Koalition ermöglichte und in den USA den Absturz der Republikaner zum politischen Arm des Irrationalismus innerhalb einer Gesellschaft im zivilisatorischen Sinkflug.

Daraus ist aber nicht zu schließen, Deutschland wäre noch einmal davongekommen, denn wenn ein Land mit einer dermaßen verbrecherischen Geschichte eine Partei wie die AfD nicht nur duldet, sondern teils mit zweistelligen Wahlergebnissen ausstattet, ist angesichts der ökonomischen und sozialen Katastrophen, die in Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sowie der Corona-Pandemie bevorstehen, mit dem Schlimmsten zu rechnen. Die AfD wird das kommende Massenelend zu nutzen wissen, und ihre Demagogie wird auf viele offene Ohren stoßen. Zunächst wird mit zunehmender Dauer des Krieges die Bereitschaft der deutschen Bevölkerung, im Zuge der militärischen und finanziellen Solidarität mit der Ukraine Opfer zu bringen, rasch schwinden. Hinzu kommt, dass die im Kalten Krieg in vielen westlichen Staaten eingeübte Russophobie in Deutschland nie so recht gegriffen hat, was positiv zu interpretieren wäre, müsste man das nicht als Reaktion des autoritären deutschen Nationalcharakters auf die Niederlage im Zweiten Weltkrieg deuten. In Deutschland verachtete man Russen als »Untermenschen«, solange man daran glauben konnte, Hitler würde die Sowjetunion besiegen. Als man aber von Stalin den Arsch versohlt bekam, traten sowjetische und später russische Anführer an die Stelle des – manchmal heimlich, zuletzt immer offener – bewunderten starken Mannes.

Dass deutsche Rechtsextremisten mit Schildern marschierten, auf denen »Putin hilf!« geschrieben stand, war auch eine massenpsychologische Nebenwirkung der irrwitzigen, ja kriminellen Energiepolitik der SPD, die Deutschland in eine zunächst hübsch rentable, heute aber katastrophale Abhängigkeit von Russland brachte. Der deutsche Obrigkeitshörige mochte das intellektuell vielleicht nicht erfassen, aber er ahnte wenigstens unbewusst, welche ökonomische Macht Putin dadurch zukam, und das brachte die AfD, die ihr Heil ebenso wie gefüllte Geldkoffer in Moskau sucht, in eine hervorragende Position. Der erbarmungswürdige Zustand der Linken in Deutschland, die den Bezug zur gesellschaftlichen und ökonomischen Realität weitgehend verloren hat und statt dessen in kulturellen Identitätskriegen intellektuell ausblutet, könnte die Chancen der Rechtsextremisten zusätzlich erhöhen.

Bernhard Torsch schrieb in konkret 7/22 über Robert Habecks Nahostreise