Im schuhlosen Büro

Der Comic Work-Life-Balance zeigt das Leiden der »mittelständischen Millennials« an und in der entfremdeten Arbeitswelt. Von Peter Kusenberg

Der Müßiggang: Es ist dies das heilige Kleinod, das einzige Fragment der Gottähnlichkeit, das uns vom Paradiese blieb.« Dieses hübsche Zitat Friedrich Schlegels dürfte der Psychologin gefallen, die in Aisha Franz’ viertem Comicroman Work-Life-Balance in Erscheinung tritt. Zu Beginn liegt die Seelenfacharbeiterin Dr. Sharifi barfuß und mit Schlafbrille auf einer Chaiselongue und entspannt zu Tippgeräuschen aus dem Lautsprecher. Abwechselnd empfängt sie drei Patientinnen, deren Leidenswege und deren Erlösung auf dezente Weise miteinander verwoben sind.

Nicht zuletzt wegen Franz’ Alter (Jahrgang 1984) und dem südamerikanischen Familienhintergrund lässt sich die Figur Anita am ehesten als Alter ego der Autorin identifizieren. Anita arbeitet als erfolglose Künstlerin, zum Geldverdienen stellt sie Gebrauchskeramik her und neidet der besten Freundin ihren Erfolg in der Kunstwelt. Deutlich selbstbewusster tritt Sandra in Erscheinung, die die Blödsinnsberufsbezeichnung »Graduate Database Strategist« trägt und einen Kollegen sexuell belästigt, was Ärger mit der Geschäftsführung heraufbeschwört. Sandra arbeitet in einer jener Firmen, die existieren, damit sich Keynes’ 1930 getroffene Vorhersage, dass die Lohnabhängigen des 21. Jahrhunderts nur noch 15 Stunden pro Woche entfremdete Arbeit ertragen müssten, nicht bewahrheitet. Technisch wäre eine solche Reduktion der Arbeitszeit möglich, doch ideologisch wäre sie fatal, weshalb »Arbeitsplätze geschaffen werden (mussten), die praktisch sinnlos sind«, wie David Graeber in seinem Buch Bullshit Jobs schreibt.

Lustig lesen sich die Szenen, in denen der Programmierer Rex, der dritte Patient der kuriosen Dr. Sharifi, zu einem Gespräch über seine selbstentwickelte Software in Sandras Firma erscheint. Zunächst muss er seine Schuhe ausziehen, denn es handelt sich um ein »schuhloses Office«; der leutselige Firmenchef zwingt ihn dazu, auf – oder besser: in einem »Ergobeanie«, einem Wabbelsitzmöbel, Platz zu nehmen und »levitiertes Wasser« zu trinken. Die ultrahippe Firma haut den mittellosen Freiberufler erwartungsgemäß übers Ohr, was ihn zu moralisch fragwürdigen Handlungen motiviert. Gleichzeitig muss er sich als radelnder Lieferbote verdingen, was die Kehrseite der tariflosen Freiberuflerexistenz zeigt: Wer nichts gelernt hat, außer Code zu schreiben, der scheffelt entweder Geld im Bullshit-Unternehmen, oder er bringt den trägen Großstädtern bei Wind und Wetter via Fahrrad das Fertigessen.

Die »berechtigten Ängste und Probleme mittelständischer Millennials«, von welchen die Autorin im Pressebegleittext spricht, sind so überzeichnet wie die kauzige Ruhe der Psychologin. Dr. Sharifi züchtet Wanzen im Terrarium und gibt sich keine Mühe, gegenüber ihren Patientinnen Aufmerksamkeit zu simulieren. Erwerbsarbeit, so scheint es, ist für sie nur ein Grundrauschen im Prozess des Lebens und Vergehens, es betrübt sie nicht, weil sie keine erkennbare Anstrengung unternimmt und damit offenbar gut über die Runden kommt. Sie ist frei von Maßlosigkeit, dem »Appetit des Kapitalisten«, wie Ernst Benz den nonkonformistischen Sozialisten Paul Lafargue in seiner Studie Das Recht auf Faulheit oder Die friedliche Beendigung des Klassenkampfes zitiert. Die »Maßlosigkeit wird heute nicht mehr gerügt, sondern gefördert und steuerlich begünstigt, denn sie ist ein Hauptansporn der Massenproduktion von Konsumgütern«, was die Sozialreformer wie die Ostblock-Sozialisten zur Stigmatisierung des »Rechts auf Faulheit« motivierte und zum Jubel über »Arbeitswut«.

In Franz’ Comic steht die Kritik digitaler Arbeit und digitalen Konsums im Vordergrund, die stetig weitere Lebensbereiche durchdringen: So betreibt etwa die forsche Sandra privat einen Youtube-Kanal mit Anleitungsvideos zur Herstellung von »Chia-Porridge« und »Low-Carb-Sandwiches«, um ihre Einsamkeit zu kompensieren.

Da der Leser im wesentlichen drei Handlungssträngen folgt, wirkt das Geschehen weniger bedrückend als etwa im thematisch ähnlichen, jedoch im proletarischen Milieu verorteten Comic Mein Leben mit Mr. Dangerous des US-amerikanischen Autors Paul Hornschemeier. In Franz’ Geschichte darf man zwischendurch Luft holen, bevor man vom einen ins andere Elend schwenkt. Dazu passt, dass die Autorin häufig zwischen verschiedenen Zeichenstilen wechselt, die jeweils für dialoglose Sequenzen, Computer-Chat- oder monochrome Traumszenen verwendet werden. Sie fügt außerdem ganzseitige naiv-bunte Szenen in die Kapitel, was den komischen Charakter der Handlung unterstreicht. Work-Life-Balance wirkt nicht allein bunter als Franz’ Debütwerk Alien, wo der Leser gleichfalls dem Schicksal dreier unglücklicher Hauptfiguren folgt. Zudem verzichtet sie auf verstörende Bilder, die typisch sind für die gleichfalls biografisch begründeten Werke der rund eine Generation älteren Comic-Autoren Chester Brown und Charles Burns.

Wie in Franz’ gelobtem Vorgängerwerk Shit is real, wo die liebessehnsüchtige Hauptfigur in einer Depression zu versinken droht, brauchen die Protagonistinnen in Work-Life-Balance radikale, zerstörerische Aktionen, um sich aus den arbeitstechnischen Zwängen zu befreien, und sei es nur für kurze Zeit. Langfristig lässt sich unter den herrschenden Bedingungen das Dilemma der Trennung von entfremdeter Arbeit und Privatleben eh nicht auflösen, das zeigt zur Zeit aufs Amüsanteste die TV-Serie »Severance« (siehe konkret 4/22). Aisha Franz’ Buch ist ein gelungener Kommentar zur Situation prekärer Mittelschichtskünstlerinnen, es reiht sich ein in die Riege jüngerer Werke deutscher Comic-Autorinnen wie Jennifer Daniel, Birgit Weyhe oder der Darmstädterin Paulina Stulin, in deren voluminösen Werken die Protagonistin die elende Wirklichkeit gleichfalls nur mit Hilfe gelegentlicher Rauschzustände und Exzesse erträgt.

Aisha Franz: Work-Life-Balance. Reprodukt, Berlin 2022, 256 Seiten, 20 Euro

Peter Kusenberg schrieb in konkret 2/22 über Bitcoin aus Kasachstan