VON konkret

Weil die zeitliche Kollision des letzten Hefttitels mit den Ereignissen zu Irritationen geführt hat, sei für alle, die an anderem als an politischer Pöbelei interessiert sind, hier die Chronologie der Produktion des März-Hefts festgehalten. Aus ihr ergibt sich, dass ahnungslos oder böswillig sein muss, wer diesen Titel für einen Kommentar zum russischen Einmarsch in die Ukraine gehalten hat: Redaktionsschluss des Hefts war am 11. Februar; am 15. Februar ging es in die Druckerei; am 21. Februar erkannte Russland die Separatisten-Republiken im Osten der Ukraine an – im Kontext einer Rede Wladimir Putins, die als Attacke auf die Eigenstaatlichkeit der Ukraine verstanden werden konnte; am 24. Februar begann der russische Einmarsch in die Ukraine; am Tag darauf, zehn Tage nach seiner Drucklegung, erschien konkret.

Was angesichts dieses Ablaufs zu diskutieren bleibt, ist, ob konkret mit seiner Darstellung richtig lag, die systematische Ausdehnung der Nato nach Osten sei eine Aggression gegen Russland (gewesen), die Wladimir Putin durch den Aufbau einer enormen Drohkulisse zum Zwecke der Durchsetzung unter anderem eigener Sicherheitsinteressen nun habe stoppen wollen. Zu fragen bleibt weiter, welche Fehleinschätzungen zu der Annahme geführt haben, Russland werde keinen Krieg gegen die Ukraine führen. Die Debatte dieser Fragen, bei denen es erfahrungsgemäß nicht bleiben wird, beginnt in diesem Heft. Sie wird fortgesetzt.

 

»Russlands Krieg bedeutet ein neues Zeitalter. Wir stehen an einem Scheideweg. Die Gewissheiten von gestern gelten nicht mehr. Heute sind wir mit einer neuen Realität konfrontiert, die sich niemand von uns ausgesucht hat. Es ist eine Realität, die uns Präsident Putin aufgezwungen hat«, erklärte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock in ihrer Rede auf der Dringlichkeits-Sondersitzung der UN-Generalversammlung zur Ukraine-Krise.

Und die Medien stimmten ein: »Ukraine-Krieg als ›Zeitenwende‹: Rückblick auf den Pazifismus« (»Frankfurter Rundschau«), »Ukraine-Krieg als Zäsur: Zeitenwende« (»Taz«), »Außenpolitische Zeitenwende: Vertreibung aus dem Wolkenkuckucksheim« (»FAZ«), »Zeitenwende in Europa – Zum Krieg in der Ukraine und seiner Bedeutung für Europa« (Onlinediskussion der Heinrich-Böll-Stiftung), »Zeitenwende – auch für Pazifisten« (»Tagesschau«), »Ukraine-Krieg: Zeitenwende in Politik und Wirtschaft« (»Finance Magazine«), »Globale Zeitenwende: Wie Putin die Weltordnung neu sortiert« (»T-Online«), »Putins Krieg ist eine Zeitenwende für Europa« (»Redaktionsnetzwerk Deutschland«) und schließlich: »Der Ukraine-Krieg als Zeitenwende: Was können die Kirchen tun?« (»Katholisch.de«)

Worin die historische Zäsur, die hier markiert wird und die »Zivilisationsbruch« zu nennen unter anderem die »FAZ« sich nicht scheut, bestehen soll, wird selten deutlich und ist immer falsch: Denn weder ist die russische Invasion der Ukraine der erste Krieg in Europa seit 1945, noch ist er der erste, der das Völkerrecht bricht.

Was die Rede von der historischen Zäsur motiviert, ist die Möglichkeit, die deutsche Geschichte zu überschreiben und sich damit endlich auch der letzten zivilisatorischen Errungenschaften, die die Alliierten den Deutschen einst verordneten, zu entledigen. »T-Online« jubelt: »Deutschland macht mit seiner größten Nachkriegslüge Schluss … Mit seiner Regierungserklärung am 27. Februar hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den endgültigen Abschied vom alten Paradigma eingeleitet. Deutschland soll künftig das Zwei-Prozent-Ziel der Nato erfüllen, die Bundeswehr mit einem Sondervermögen von zusätzlichen 100 Milliarden Euro in eine Armee verwandelt werden, die auch zur Landesverteidigung fähig ist.« Und die »Frankfurter Rundschau« zieht die richtigen Schlüsse aus der deutschen Vergangenheit: »Was nun Putins Krieg genannt wird, der Überfall auf den ukrainischen Nachbarstaat, hat unmissverständlich kenntlich gemacht, dass die dichterische Annahme, sich aus einem Krieg heraushalten zu können, kein Seelenheil verheißt.« Allerdings: »Die Zeitenwende wurde nicht erst am 27. Februar 2022 eingeläutet. Die Ambivalenz so ehren-werter Formeln wie ›Nie wieder Krieg‹ und ›Nie wieder Auschwitz‹ war bereits 1999 deutlich geworden, als Joschka Fischer als erster grüner deutscher Außenminister dem Einsatz von Bomben der Nato im Kosovo-Krieg zustimmte.« Ambivalenz? Fischer konfrontierte, schreibt die »FR«, »durch sein Ja zum Krieg die deutsche Nachkriegsgesellschaft damit, dass die beiden Nie-wieder-Formeln in Widerspruch zueinander geraten können«.

So sieht das auch das Presseorgan grüner Kriegstreiberei, die »Taz«: »Hinter dem Mantra, Diplomatie sei besser als Krieg, verbarg sich von Anfang an eine Unentschlossenheit. Die Debatte um Waffenlieferungen hatte etwas Hilfloses. Der Bezug zur Geschichte Deutschlands, um die hartnäckige Weigerung der Bundesregierung zu begründen, war von Anfang an eine feige Ausrede … Erst hatte man im Zweiten Weltkrieg die Ukraine zerstört, Millionen Zwangsarbeiter versklavt, und jetzt schaut man zu, wie sich erneut die Friedhöfe füllen.« (Statt, müssen die geneigten Leser/innen denken, sich abermals fleißig am Füllen der Friedhöfe zu beteiligen.)