Das Homeoffice als Feldherrnhügel

Richard Schuberth über die Militärexperten des Internets

Fronttagebuch. 25. Februar 2022. Die russische Armee hat die Ukraine aus drei Himmelsrichtungen angegriffen und wird Kiew einkesseln. Doch hat sie die Rechnung ohne die Eingreiftruppen der »Expendable Friends« gemacht, die ihr seit gestern früh, ohne geistig nachzuladen, in den Rücken feuern. Noch sind diese Irregulären uneins (Atombombe oder Verständnis für Putin?). Doch sollte sich der digitale Belagerungsring endlich schließen, zur gemeinsamen ultimativen Expertise als Synthese dessen, was sie gestern im Feuilleton lasen und morgen dort drinstehen wird, dann gnade den Russen der liebe Gott.

Wichtig ist nur, dass ihr jetzt, tapfere Komputer-Kommunarden, so kurz vor dem Siege, nicht schlappmacht; Ladehemmung wäre fatal, zwei Nächte noch, danach ausschlafen; aber jetzt den Finger am Posting-Trigger lassen, sosehr er auch zittert, sosehr euch die Äuglein zufallen; jetzt um Himmels willen nicht aufhören, eure logistischen Analysen, euer Motivprofiling, eure Wiedergabe exklusiven Quellenmaterials ohne Quellenangabe und falsche Rücksicht auf den Feind prasseln zu lassen. Das hält der nicht ewig aus.

Ganz wichtig ist auch, die besten Tugenden, auf die der freie Markt euch trimmte, nicht wie eine zu heiße Flinte ins Korn zu schmeißen, nämlich die Konkurrenz durch den jeweils weltmännischeren Post, die jeweils präzisere Truppenbewegungsprognose aus der Bahn zu werfen. Erst dieser produktive Egoismus erhöht die Treffsicherheit eurer Gedanken, und – Hand aufs Ego – mit falscher Bescheidenheit lässt der Feind sich wohl nicht hintern Ural zurückscheuchen.

Leider gibt’s noch zu viele unter euch, die sich vorm Kriegsdienst am eigenen Ich drücken. Und gar nix posten. Kein beredteres Bekenntnis zur Putin-Versteherei lässt sich denken als diese digitale Indifferenz, die lauter in unseren Ohren dröhnt als der Stechschritt auf dem Roten Platze.

Ich habe eine Liste angefertigt von allen hier, die noch nicht ihre Meinung, noch nicht ihr Traktat zum Krieg sekretiert haben. Morgen werde ich sie bekanntgeben. Nicht um euch zu brandmarken, sondern um erst mal die Gelegenheit zu geben, euch eines Besseren zu besinnen. Sollte dann euer wehrkraftzersetzendes Schweigen, dieser Frevel an der Pflicht zur Selbstgefälligkeit, aber anhalten, müssen wir leider an eurer Loyalität zweifeln, und ihr werdet mit Konsequenzen rechnen müssen, wie ihr sie in der Geschichte noch nie erlebt habt.

So ein Krieg ist vor allem eine Katastrophe für alle, die sich und ihre Deutungshoheit im Netz durch die plötzliche Generalmobilmachung der Spezialisten aus den Spotlights der Aufmerksamkeit gedrängt sehen. Wo wir doch alle wissen, dass der Trans*-Diskurs das zentrale, alles durchdringende Thema unserer Zeit wäre. Und nicht schon wieder so ein Bumbum im Macho-Osten. Das ist so Nineties, das ist so Boomer.

Doch wo Krieg, da Männer. An der Lokalfront, an der medialen Heimatfront und an der heimeligen Front: unserem Facebook-Profil. Ganz wichtig, Schwestern, dass ihr den Jungs jetzt nicht das Feld der digitalen Ehre überlasst. Wenn die nichts zu sagen haben, dann könnt ihr das allemal, verdammt. Traut euch in die Schusslinie, schreibt darüber, ob Putin nur den Donbass oder doch die ganze Ukraine kassieren wollte und wie lange sein Militärbudget Daumen mal Pi für eine Okkupation reicht. Die Kenntnis von Panzer- und anderen Waffentypen (kann man überall nachlesen, zum Beispiel in einem Magazin mit dem vertrauenerweckenden Titel »Jane’s Defence Weekly«) erhöht eure Autorität in der Sache immens. Entre nous: Transnistrien ist nicht das, was sein Name zu sein vorgibt.

Und auch ihr, die ihr keine Spezialisten seid, sondern bloß die Infanterie der guten Herzen bildet, seid deshalb noch lange keine Trottel. Auch ihr könnt euren Beitrag leisten zum Sieg, indem ihr ganz viele Herz- und Trauer-Emojis nach Kiew, Charkiw und Odessa schickt. Das gibt den Ukrainern, mit denen ihr sicher alle befriendet seid, sehr viel Hoffnung und Zuversicht und nicht zuletzt euch selbst das Gefühl, auch außerhalb der geistigen Luftschutzbunker, die vor dem Krieg Blasen hießen, wirksam zu sein. Ganz, ganz wichtig ist, dass ihr euer Profilbild nicht vergesst dabei, damit die Opfer des Krieges auch genau wissen, wem sie diese tiefe Betroffenheit zu danken haben, und es mit den ukrainischen Nationalfarben anpinselt, damit sie checken, wem diese Betroffenheit gilt: nicht ihnen, sondern dem Staat, in dem sie gehalten werden.

Bitte nehmt mir meine bösen Worte nicht krumm, denn ich verstehe ja, wie hilflos man in solch Irrsinn ist. Der einem das völlig richtige Gefühl gibt, ein bedeutungsloses, ein winziges Rädchen im Getriebe zu sein, das seine Ohnmacht durch vorgestanztes Bescheidwissen und vorgestanzte Gefühlslagen aufwiegen muss. Denn in dieser schicksalhaften Stunde, da wirklich jede Floskel eine Patrone sein darf, sollte es nicht das Herrenprivileg der Feuilletonisten bleiben, die Schussweite zwischen Banalität und Perfidität auszumessen. Lange genug waren sie nur eure Ausbilder. Dreht den Spieß doch um, inflationiert ihre Schreibe, indem ihr ebenso belanglos schreibt wie sie. Denn sobald sie merken, dass jeder und jede Beliebige nicht kann, was sie nicht können – Wahrheit, Stil und Humanität auf Gleichschritt bringen –, bangen sie alsbald um ihre Schreibtischsessel und müssen noch lauter und noch nuklearer schrillen, und jede Taste ihres Keyboards wird ihnen zum roten Knopf.

Aber da fällt mir zum Schluss ein noch besserer Ratschlag für alle ein, die per Laptop jetzt von jedem jungen Ukrainer den Heldentod erwarten, die frohlocken, wenn Zivilisten nutzlose Molotowcocktails in die Hand gedrückt werden, und die Verständnis für deren Flucht oder gar Desertation als naiv-pazifistische Kapitulation vor dem Putinismus brandmarken. Es ist ganz einfach: Die ukrainische Armee sucht Freiwillige. Die irregulären Frontberichterstatter der Divisionen Facebook und Twitter könnten doch jeden kriegsunwilligen Ukrainer mit ihrer kämpferischen Präsenz auslösen. Ich werde zwar ihre plausiblen Anleitungen, wie Putin zu besiegen sei, schmerzlich vermissen, aber Kränze voller im ukrainischen Steppenwind klingelnder Emojis auf ihre Heldengräber legen. Versprochen.