Organisierter Sächsismus

Die neonazistische Kleinstpartei Freie Sachsen ist der zentrale Akteur der rechten Protestbewegung gegen die Corona-Maßnahmen. Von Thorsten Mense

Ganz Mitteldeutschland brennt!«, konnte man am 7. Dezember 2021 auf dem Twitter-Kanal der Freien Sachsen lesen. Recht hatten sie, an diesem Tag lag die Inzidenz in Sachsen bei 1.082, die Krankenhäuser waren überlastet, und Dutzende Covid-19-Patienten mussten in andere Bundesländer verlegt werden. Die extrem rechte Partei bezog sich aber nicht auf die außer Kontrolle geratene Pandemie, sondern auf die anwachsenden Proteste gegen die angebliche Corona-Diktatur. Solche Proteste gibt es im Freistaat bereits seit Beginn der Pandemie, an der B96 bei Bautzen treffen sich schon seit über eineinhalb Jahren jeden Sonntag sogenannte Querdenker und Corona-Leugner mit Reichsfahnen und bezeugen auf Transparenten ihren »Widerstand« – in Frakturschrift, versteht sich.

Mit Beginn der vierten Welle haben die Proteste aber flächendeckend das Land, und hier vor allem die Provinz, erfasst. Ermutigt vom Zurückweichen der Polizei und von der Dialogbereitschaft der CDU-geführten Landesregierung breiteten sich die illegalen »Spaziergänge« immer weiter aus. Jeden Montag gehen im Freistaat Zehntausende »besorgte Bürger« gemeinsam mit organisierten Neonazis und der rechten Dorfjugend auf die Straße, unter maßgeblicher Beteiligung der Freien Sachsen.

Als sich im Februar vergangenen Jahres im kleinen Städtchen Schwarzenberg im Erzgebirge ein paar Dutzend Neonazis und andere bekannte rechte Akteure aus der Region trafen, um die Partei ins Leben zu rufen, hätten sie wohl selber nicht erwartet, schon wenige Monate später solch einen Zulauf zu haben. Mittlerweile hat der Telegram-Kanal der Freien Sachsen über 130.000 Abonnenten und Abonnentinnen, ihre Videos werden hundertfach kommentiert. Die Partei ist zum zentralen Akteur der Protestbewegung in Sachsen geworden, ohne jedoch selber Demonstrationen zu organisieren. Sie dient vielmehr als Netzwerk und Mobilisierungsplattform, bewirbt Aktionen, bereitet sie professionell medial auf und verschafft ihnen so eine große Reichweite. Als »Radikalisierungsbeschleuniger« beschrieb Kira Ayyadi in einem Beitrag auf »Belltower News« die Partei, die ihre »Follower:innen auf einen drohenden Bürgerkrieg vorbereitet«.

Die Führungsriege der Freien Sachsen besteht aus bekannten Szenegrößen der Region Chemnitz, die bereits Erfahrung auf dem Gebiet rassistischer Mobilisierungen mitbringen. Ihr Vorsitzender ist Martin Kohlmann, zugleich Chef der extrem rechten Wählervereinigung Pro Chemnitz, für die er auch im Stadtrat sitzt. Er war maßgeblich an der Organisation der rechten Großdemonstrationen 2018 in Chemnitz beteiligt, als Rechtsanwalt vertrat er die rechtsterroristische »Gruppe Freital«, die Anschläge auf Flüchtlingsheime geplant hatte. Mit ihm im Parteivorstand sitzt der NPD-Stadtrat Stefan Hartung aus Aue, der bereits 2013 im Erzgebirge die »Lichterläufe« gegen die Schaffung einer Erstaufnahmeeinrichtung für geflüchtete Familien organisiert hatte. Dritter im Führungstrio ist ein zugewanderter Wessi, Michael Brück aus Dortmund. Er ist stellvertretender NRW-Landesvorsitzender der Neonazi-Partei Die Rechte und arbeitet seit seinem Umzug Ende 2020 für Kohlmann.

Durch das Zusammenspiel verschiedener rassistischer und neonazistischer Strömungen, die sich auch in der Führungsriege der Freien Sachsen widerspiegeln, hat die Partei in kurzer Zeit ihr Ziel erreicht, der diffusen Protestbewegung »ein gemeinsames Dach zu bieten, unter dem die Kräfte wirkungsvoll gebündelt und Aktivitäten … koordiniert werden, ohne dass die einzelnen sich einer fixen Doktrin unterwerfen müssen«, wie es in ihrem Selbstverständnis heißt. Ihre extrem rechte Ideologie müssen die Freien Sachsen dabei keineswegs verstecken, denn an ihr nimmt in den Kreisen der Protestierenden ohnehin niemand Anstoß.

Erfolg hat die Partei – wie schon die AfD und Pegida – mit der Anrufung einer sich als widerständig präsentierenden sächsisch-ostdeutschen Identität, die sich gegen »die da oben«, den Westen, alles Fremde und Queere und nun eben auch gegen die Corona-Maßnahmen richtet. Stolz und frei und national, eben ein »freier Sachse« will man sein. Ihr Vaterland ist Sachsen und nicht Deutschland, von dem man sich, falls nötig, auch lossagen müsse – Stichwort Säxit. Politisch orientieren sich die Freien Sachsen am autoritären Osten Europas, zu dem man gar die Grenzen öffnen will. Sollten es dadurch Geflüchtete nach Sachsen schaffen, ist der Rahmen sächsischer Humanität klar definiert: »Eine warme Mahlzeit pro Tag.«

Der größte Feind der Freien Sachsen ist derzeit der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), auf Plakaten und Aufklebern wird seine Verhaftung gefordert. Der Landesvater sei ein »Despot«, seine Polizei bestehe aus »Söldnern« und »Milizen«. Dabei ist es Kretschmer selbst, der mit seinem identitären Gerede von Stolz und Heimat den ideologischen Boden bereitet hat, auf dem der völkische Sächsismus der Freien Sachsen gedeiht. Am Beispiel des ehemaligen Ostbeauftragten der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), lässt sich aufzeigen, wie kurz der Weg von der sächsischen CDU zu den rechten Aufständischen ist: Nach den herben Verlusten der sächsischen CDU bei den Bundestagswahlen war die erste Reaktion des Ministerpräsidenten, den Spitzenkandidaten Wanderwitz als Chef der sächsischen CDU-Landesgruppe im Bundestag zu entlassen. Viele Menschen hätten sich von ihm »stigmatisiert und angegriffen« gefühlt, so Kretschmer zur Begründung. Wanderwitz hatte zuvor die rechtsradikale Wählerschaft in Ostdeutschland als ebensolche bezeichnet. In der Silvesternacht wurden durch einen Böllerangriff die Scheiben von Wanderwitz’ Wahlkreisbüro in Zwönitz, einem der Hotspots der Corona-Proteste, zerstört.

Was sich in Sachsen abspielt, ist ein rechtsradikaler Aufstand des autoritären Milieus, das mit der Kritik an der Corona-Politik bloß einen weiteren Anlass gefunden hat, Stärke zu demonstrieren. Mit Erfolg, der Rechtsstaat hat kapituliert und dem Mob die Straße überlassen. Es ist ein altbekanntes Bild: Ein Bündnis aus »besorgten Bürgern«, rechten Hooligans und organisierten Nazis probt den Aufstand, die Polizei lässt sie – aus einer Mischung aus echter Überforderung und heimlicher Sympathie – gewähren, und die CDU verharmlost die gewalttätigen Proteste als legitimen Ausdruck berechtigter Ängste und Sorgen. Man müsse »sehr genau differenzieren zwischen Rechtsextremen … und Menschen, die Sorgen haben, Kritik äußern oder den Dingen ablehnend gegenüberstehen«, erklärte Kretschmer Anfang Dezember. Ähnliche, wenn nicht wortgleiche Aussagen ließen sich von Politikern aus der Zeit der rassistischen Pogrome Anfang der neunziger Jahre und aus der jüngsten Phase breiter rassistischer Proteste gegen Geflüchtete ab 2015 finden. Auch die Akteure sind vielerorts dieselben wie damals: Viele Hotspots der aktuellen Corona-Proteste taten sich bereits während der rassistischen Proteste seit der sogenannten Flüchtlingskrise hervor. Und auch die »Generation Hoyerswerda« ist wieder mit auf den Straßen und feiert mit ihren Kindern und Enkeln die von ihnen aufgebaute rechte kulturelle Hegemonie.

Mit den Protesten zeigt sich das faschistische Mobilisierungspotential in Sachsen, das nur auf Abruf wartet. Auch wenn es diesmal nicht gegen Geflüchtete, sondern vorrangig gegen die Corona-Politik geht, machen die wöchentlichen rechten Aufmärsche die sächsische Provinz erneut zur No-go-Area für Linke, Migranten und Migrantinnen. Die neuen Allianzen und das erstarkende Selbstbewusstsein des autoritären Milieus werden über die Zeit der Corona-Proteste hinaus Bestand haben und die rechte Hegemonie verfestigen. Mit ihrem Graswurzelbewegungskonzept könnten die Freien Sachsen auch in Zukunft eine bedeutende Rolle bei der völkischen Mobilmachung einnehmen. »Holen wir uns die Kommunen zurück – politische Veränderung beginnt ganz unten«, heißt eine Kampagne der Partei zur Übernahme der Bürgermeister- und Landratsämter bei den anstehenden Kommunalwahlen im Freistaat. Das könnte durchaus Aussicht auf Erfolg haben – wenn nicht große Teile der ungeimpften potentiellen Wählerschaft bis dahin den Volkstod gestorben sind.

Thorsten Mense schrieb in konkret 1/22 über den Krieg der EU gegen Geflüchtete