Fürs Leben lernen

Wer in der Konkurrenz nicht mithalten kann, stirbt: die Serie »Squid Game«. Von Benjamin Moldenhauer

Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir. Und für den Schulhof. Zuletzt wurde das Genre der besorgten Berichterstattung über die Zustände im Bildungswesen von Meldungen aus Thailand, Großbritannien, aber auch aus Augsburg bestimmt. Schulkinder, teilweise nicht älter als zehn Jahre, sollen in den Pausen traditionelle Kinderspiele mit physischen Bestrafungen interessanter gestaltet haben, Ohrfeigen für die Verlierer zum Beispiel. Vorbild soll »Squid Game« sein, die bislang erfolgreichste Netflix-Serie (nach aktuellem Stand wurden 142 Millionen Abrufe verzeichnet, wobei Netflix offenbar bereits eine Streamingdauer von zwei Minuten als »Serie gesehen« wertet).

Die Schulhofgewalt hätte es zum einen ohne die Verknüpfung mit Bildern, die man im Verdacht hat, für die Vergiftung von Schülergehirnen verantwortlich zu sein, nicht in die Presse gebracht, schon gar nicht in die internationale, und zum anderen konnte man den unangenehmen Verdacht – »unsere Kinder sind eventuell verkappte Sadisten« – auf dem Weg der Medienschelte abwehren: Die südkoreanische Serie ist für Kinder schädlich und erst ab 16 Jahren freigegeben. Kein Wunder, dass was passiert, wenn Zehnjährige dem ausgesetzt werden.

Im Vergleich zur moralischen Panik, die zum Beispiel Splatterfilme in den Achtzigern in Großbritannien und kurz darauf auch in Deutschland unter Erziehungsberechtigten und Lehrpersonal verbreiteten, ist das alles harmlos und in zwei Wochen voraussichtlich komplett vergessen. Aber die Problemstellung und die vorgeschlagene Lösung ähneln sich in beiden Fällen: Bilder weg, Problem gelöst. Das ist schade, denn die Verbindung von Konkurrenz, Wettkampf und Todesdrohung, die »Squid Game« präsentiert, wird nicht der Hauptgrund für den immensen Erfolg sein (kaum ein Mensch schaut Filme oder Serien, weil er sich in Kapitalismuskritik schulen möchte). Sie ist in diesen Bildern jedoch so unübersehbar präsent, dass sich die Frage aufdrängt, ob der Erfolg auch unter den Jüngsten nicht vielleicht doch etwas mit der realen Verbindung von, sagen wir, schulischem Erfolg und pädagogischem und elterlich vermitteltem Druck (und der damit einhergehenden Drohung des Scheiterns) zu tun hat.

In »Squid Game« treten 456 hochverschuldete Menschen in sechs Spielen gegeneinander an. Wer verliert, stirbt, und der, der am Ende übrigbleibt, bekommt das gesamte Preisgeld, umgerechnet 33 Millionen Euro. Beobachtet werden die Spielerinnen und Spieler von einer Gruppe dekadenter Superreicher, die Tiermasken tragen und dem verzweifelten Treiben in den Arenen sichtlich erregt zuschauen. Das alles ist nicht sonderlich originell. Wer die »Battle Royale«-, »The Hunger Games«- oder auch die »Saw«-Filme kennt, fühlt sich hier gleich heimisch. Und sehr erwartbar ist das Ganze auch sonst: Man kann anhand der Figurenzeichnung präzise vorhersagen, wer wie lange überleben wird. Je ausführlicher die Backstory der zentralen Figuren, desto länger die Lebensdauer.

Wirklich packend ist »Squid Game« während der fiebrigen Spielszenen, die allesamt Alptraumpotential entfalten. Die Anspannung ist groß, die Rauminszenierung so gestaltet, dass einem auch bei kleinem Bildschirm mulmig wird. Die Gewaltmodi variieren: massenhaftes Schlachten; stupides Kräftemessen; der Zwang, den zu töten, den man mag oder gar liebt; ein Zweikampf bis zum Tod. Man kann schon verstehen, dass Zehnjährige, die mit diesen Bildern des seriellen Tötens in Berührung kommen, sie spielerisch abarbeiten wollen.

Drastik erzeugt den Eindruck von Klarheit. Gerade die ersten sechs Folgen erfüllen den erwachsenen Zuschauer potentiell mit grimmiger Heiterkeit, auch weil das Gesellschaftsbild, das hier entfaltet wird, von konsequenter Negativität bestimmt ist. Schließlich geht es hier nicht einfach um die Verwurstung der Armen zur Freude der Reichen, sondern um ein dem Stand der Dinge angemessenes Gesellschaftsbild. Denn was im Plot als Manipulation und Entführung beginnt, dreht sich in der zweiten Folge: Nach dem ersten Blutbad stimmen die Spielerinnen und Spieler über die Weiterführung ab und dürfen das Spiel verlassen. Doch nach ein paar Tagen in der Hölle, die das Leben für am und im Kapitalismus Gescheiterte darstellt, entscheiden sie sich, wieder zurückzukehren und weiterzuspielen.

Weniger gelungen, weil hemmend, wirken alle Versuche von Regisseur und Autor Hwang Dong-hyuk, dem Setting so etwas wie Suspense abzuringen. Ein Polizist (Wi Ha-jun), der im Alleingang auf der Suche nach seinem Bruder (Lee Byung-hun) ist, schleust sich ein, und in den Sequenzen, die diesen Subplot vorantreiben, kann man ohne Verlust zum Kühlschrank oder aufs Klo gehen. Der Versuch, in der letzten halben Stunde der finalen Folge einen überraschenden final twist zu konstruieren, geht dann auch ziemlich in die Grütze.

Ebenfalls schade ist, dass »Squid Game« es nur bei Andeutungen belässt, wenn es darum geht, dem Publikum klarzumachen, dass es sich in derselben Position wie die spektakelgeilen Zuschauer in der Serie selbst befindet. Da würde es dann nicht nur für die Figuren auf dem Bildschirm unangenehm, sondern auch für die davor, und das will hier offensichtlich niemand. Unterhaltsam nämlich soll es trotz allem bleiben, deswegen auch die ständigen Hinweise darauf, mit welcher Figur man mitfiebern soll und welche als Menschenmaterial für den regulären Verschleiß entbehrlich ist. So kann man das für sich sortieren. In diesem Sinne gleicht »Squid Game« sich dem, was es als böse und niederträchtig codiert, strukturell an.

Dem Erfolg tut all das, was man an der Serie kritisieren kann, offensichtlich keinen Abbruch. Was man in der Schule in ihrer jetzigen Form für das Leben lernt, ist die Kopplung von Leistung, also dem Vermögen, den Anforderungen gerecht zu werden, und dem Wert der Person. Wer in der Konkurrenz nicht mithalten kann, stirbt (bekommt keine Gymnasialempfehlung, keinen »guten« Arbeitsplatz) in einem übertragenen Sinne, der in »Squid Game« buchstäblich wird. Vielleicht sollte man sich unter diesen Voraussetzungen bis auf weiteres einfach darüber freuen, dass sich Schülerinnen und Schüler auf den Schulhöfen nicht wesentlich öfter aufs Maul hauen.

»Squid Game«. Regie/Drehbuch: Hwang Dong-hyuk. Neun Episoden, abrufbar auf Netflix

Benjamin Moldenhauer schreibt in dieser Ausgabe von konkret auch über den Film »A Pure Place« (siehe Seite 52)