Leben, lieben, leiden, loslassen

Ein Blick auf die Drama-Serie »Nine Perfect Strangers« und das Wachstum der Wellness- und Selbsthilfeindustrie. Von Georg Kammerer

»Tranquillum« – der Name des Resorts, in dem die US-amerikanische Mini-Serie »Nine Perfect Strangers« (in Deutschland auf Amazon Prime zu sehen) spielt, verheißt wörtlich Ruhe – und indirekt Meditation, Fasten, Yoga, den ganzen Selbstfindungs- und Entspannungskram, der seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Begriff »Wellness« zusammengefasst wird.

Neun gestresste, gebrochene, trauernde und – wie sie sich selbst bezeichnen – verzweifelte Menschen treffen an jenem Ort aufeinander. Sie haben unterschiedliche Hintergründe, doch alle teilen die Hoffnung, eine Lösung für die diffusen Probleme zu finden, die sie daran hindern, das Leben zu genießen.

Als die von Selbstzweifeln zerfressene Autorin Francis (Melissa McCarthy) ihrem Agenten von dem bevorstehenden Aufenthalt erzählt, fragt er, ob sie nicht Angst habe, zu enden wie »diese Leute, die in der Schwitzhütte gestorben sind« – eine direkte Anspielung auf das »Spiritual Warriors«-Programm des Selbsthilfe-Verkäufers James Arthur Ray: 2009 starben drei Menschen in Arizona an den Folgen eines mystisch angehauchten Sauna-Marathons.

In der zweiten Folge der Serie fordert die erleuchtete Leiterin des Erholungsortes die Gäste auf, sich in frisch ausgehobene Gräber zu legen, um sich symbolisch mit ihrer Sterblichkeit zu konfrontieren. Diese Sequenz wiederum erinnert an die als »spirituelle Lehrerin« auftretende Youtuberin und Amateur-Psychotherapeutin Teal Swan, die hilfesuchenden Menschen, auch schwer depressiven, empfiehlt, sich den eigenen Tod bildhaft vorzustellen und eine klare Entscheidung zu treffen zwischen Leben und Tod. Dass manche sich für das letztere entscheiden und dieser Entscheidung Taten folgen lassen, findet sie nicht problematisch.

Die in »Nine Perfect Strangers« von Nicole Kidman verkörperte Masha Dmitrichenko, die Betreiberin des Wellness-Retreats, die verspricht, aus jenen, die sich ihr anvertrauen, in nur zehn Tagen völlig neue Menschen zu machen, ist angelehnt an reale Vorbilder wie Swan und Ray: selbsternannte Heilerinnen und Gurus, die ohne jede therapeutische Qualifikation, aber mit der dem Narzissten eigenen Mischung aus Charisma, Selbstüberschätzung und Rücksichtslosigkeit an der Psyche von Menschen herumschrauben und dabei fröhlich zwischenmenschliche Grenzen überschreiten – emotionale wie körperliche –, in der Regel natürlich gegen eine beachtliche finanzielle Entlohnung.

Da Berufsbezeichnungen und Branchen wie »Selbsthilfe« oder »Life Coaching« in keiner Weise geschützt oder reguliert sind, findet sich unter diesen Begriffen alles mögliche, von harmlosem oder in gewissen Grenzen sogar hilfreichem Geschwafel über machistische »Pick-up Artists« und Multi-Level-Marketing-Abzocke nach dem Schneeballsystem bis hin zu handfesten Sex-Kulten und anderen Formen von organisiertem mentalem und körperlichem Missbrauch ist alles dabei. Ebenso vielfältig sind die Weltbilder und Glaubenssysteme, die den manipulativen Humbug legitimieren sollen: Manche geben sich einen pseudowissenschaftlichen Anstrich, der Seriosität vorgaukeln soll, wie die Anhänger der weitgehend widerlegten psychologischen Hypothesen der NLP (Neuro-Linguistische Programmierung), andere wildern frei bei den Mythen indigener amerikanischer Stämme und verschiedener asiatischer Kulturen, wieder andere drehen völlig frei und mixen Religion, Philosophie und Quantenphysik zu einem absurden Cocktail, wie der »spirituelle Dokumentarfilm« »The Secret« und das gleichnamige Buch.

Gemein ist all diesen Varianten, dass sie, auf die eine oder andere Weise, dem Individuum suggerieren, es hätte die maximale Kontrolle über das eigene Schicksal. Was im – mal mehr, mal weniger explizit formulierten – Umkehrschluss natürlich bedeutet, dass wir für alle Schicksalsschläge und Leiden letztlich selbst verantwortlich sind. In der grausamsten Erscheinungsform heißt das: Wenn durch »positives Denken« im Zweifel sogar Krebs geheilt werden kann, hat, wer an Krebs stirbt, halt nicht positiv genug gedacht. Wer von Eltern oder Beziehungspartnern misshandelt wird, hat vorher selbst Misshandlungs-Schwingungen ans Universum geschickt.

Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass die heutige Selbsthilfeindustrie ihren wichtigsten Wachstumsschub im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erlebte – parallel zur vollständigen Aushöhlung sozialer Sicherungssysteme und zum Abbau wirtschaftlicher Regularien in fast allen westlichen Industrienationen. Zu gut passt ihre Ideologie zu der neoliberalen Suggestion, systemische Probleme seien in erster Linie auf individueller Ebene zu lösen: Wenn der Klimawandel an der Supermarktkasse und Tankstelle bekämpft werden kann, dann tragen für wirtschaftliche Ausbeutung, soziale und materielle Verarmung, Burnout und Depression konsequenterweise auch die Entfremdeten und Geknechteten selbst die Verantwortung.

Substantielle Reflexionen hierzu sucht man in »Nine Perfect Strangers« weitgehend vergebens. Die Zu- und Abrichtung des Individuums im Spätkapitalismus und die wohlfeilen Versuche, sie mit Heilsteinen und Yoga rückgängig zu machen, dienen der Serie als bloße Kulisse, vor der zwei Hände voll mehr oder weniger privilegierter Menschen sich an mehr oder weniger existentiellen Befindlichkeiten abarbeiten dürfen.

Der Regisseur Jonathan Levine inszeniert das als unterhaltsames Psychodrama mit tragikomischen Zügen. Stilistisch greift er dabei gerne in die Werkzeugkiste des Horrorthrillers: Beim ersten szenischen Auftritt der Geistheilerin Masha erscheint sie als lauernder Schatten, der sich in die sonnendurchflutete Suite ihrer schluchzenden Klientin Francis schleicht. Ein wiederkehrendes Motiv sind clipartige Montagen, die die Zubereitung von Smoothies zeigen und in denen der Blick der Kamera obsessiv an den glänzenden Edelstahlklingen von Küchenmessern und Mixern klebt. Über der Instagram-tauglichen Idylle des luxuriösen »Tranquillum House« hängt zu jeder Zeit eine morbide Schwere.

Leider bleibt es über weite Strecken bei solcherlei Andeutungen. Die auf dem gleichnamigen Roman der australischen Schriftstellerin Liane Moriarty basierende Erzählung schreitet eher behäbig voran, verharrt fasziniert bei skurrilen Selbsterfahrungsübungen, kurzen Rückblenden und charmanten Interaktionen zwischen den Figuren und verliert den dramatischen Faden dabei immer wieder aus den Augen – bis pünktlich zum Cliffhanger am Ende jeder Folge dann wieder düstere Menetekel aus dem Hut gezaubert werden, um die Zusehenden bei der Stange zu halten. Ein übriges tut, dass die Drehbuchautoren der Romanvorlage offenbar nicht vertrauen und dem Ganzen noch eine halbgare Nebenhandlung ankleben, in der Masha mysteriöse Drohnachrichten erhält. Dabei lenkt dieses oberflächliche Thrillermotiv nur von den eigentlich erzählten Geschichten ab.

Dass fast jede Folge dennoch das Anschauen lohnt, ist neben der Regie dem erstklassigen Ensemble zu verdanken: Sämtliche Rollen – von den titelgebenden »neun Fremden« über Masha Dmitrichenko bis zum Personal des Resorts – sind mit überdurchschnittlich guten Darstellerinnen und Darstellern besetzt, denen genügend Raum gegeben wird, ihre Figuren – so holzschnittartig sie teilweise gezeichnet sind – mit Leben zu füllen. Ob beim situationskomischen Geplänkel oder in existentieller Wut und Trauer: Schauspielerisch ist fast jede einzelne Szene großartig. Nicole Kidman scheitert gelegentlich rührend an der Konsistenz ihres russischen Akzents, doch insgesamt gibt sie die narzisstisch-manipulative Geistheilerin mit hypnotischem Singsang und durchdringendem Blick in genau der richtigen Mischung aus überhöhter Karikatur und realem Wahnsinn.

Wer sich die Freude am Zuschauen erhalten will, sollte jedoch vor Beginn der letzten Folge abbrechen, in der alles, was an der Serie zuvor noch zu mögen war, mit beeindruckender Gründlichkeit zerstört wird. Die Auflösung des Morddrohungsplots ist so konstruiert wie unglaubwürdig und nur deshalb nicht vorhersehbar, weil man den Autoren eine derartig blödsinnige Idee nicht zugetraut hätte. Dann folgt der eigentliche Twist, der im folgenden komplett verraten wird; die Lesenden seien hiermit gewarnt.

In den letzten zehn Minuten der Serie stellt sich heraus, dass Masha tatsächlich ein Genie ist: Die psychischen Übergriffe, die Freiheitsberaubung, die experimentelle – zunächst heimliche – Medikation mit psychoaktiven Substanzen, die Todesangst, der die Teilnehmenden mit voller Absicht ausgesetzt wurden – all das war Teil eines tollkühnen Plans, der voll und ganz zum Erfolg geführt hat. Alle sind am Ende glücklich und zufrieden.

In einer smarteren und tonal sensibleren Erzählung hätte das vielleicht als gewagter satirischer Bruch durchgehen können – in der hier vorliegenden Form ist es so saudumm und verlogen, wie es klingt.

Dass alles, was an gesellschaftlicher Substanz noch in die Geschichte hätte hineingedeutet werden können, damit endgültig vom Tisch ist und die Serie zum esoterischen Propagandavehikel wird – geschenkt. Auch damit, dass in der Serie keine kritische Auseinandersetzung mit ihrem Gegenstand stattfindet, hatte man sich ja bereits abgefunden. Schwerer wiegt, dass auch narrativ und ästhetisch einfach alles kaputtgeht: Alle dramatischen Fragen werden mit »Egal!« beantwortet, die Integrität der Figuren ist auf einen Schlag dahin, und die Eskalation, auf die Thriller und Tragödie notwendigerweise zusteuern, wurde nur angetäuscht, um traurig zu implodieren.

Nicht die »neun Fremden« sind am Ende auf falsche Heilsversprechen hereingefallen, sondern wir, die Zuschauenden, die hinter der Prospektidylle und den Poesiealbumssprüchen irgend etwas Interessantes erwartet hatten.

»Nine Perfect Strangers«. Regie: Jonathan Levine; mit Nicole Kidman, Melissa McCarthy, Michael Shannon, Luke Evans, Samara Weaving. Acht Folgen, abrufbar auf Amazon Prime

Georg Kammerer lebt in Berlin und arbeitet als Komiker, Regisseur und visueller Künstler in digitalen Medien