Der Donau-Caudillo

In Österreich ist der Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz über eine Korruptionsaffäre gestolpert und vergleichsweise weich gefallen. Von Erwin Riess

Er galt als Retter des christlichen Abendlandes. Seine Partei, in Bünde und Landesfürstentümer zersplittert, stand 2017 in den Umfragen bestenfalls bei 20 Prozent, die SPÖ erreichte um die 26 Prozent, die Strache-FPÖ lag stabil mit 34 Prozent in Führung. In dieser Situation konnte sich Sebastian Kurz, der schon als 24jähriger ein Regierungsamt bekleidete und das Geschäft rasch erlernt hatte, bei den führenden älteren Herren und wenigen Damen der ÖVP bald als einzige Hoffnung profilieren.

Wie es sich für ein kommendes politisches Schwergewicht geziemt, pflegte er zu Beginn seiner Laufbahn den Ruf eines durchaus progressiven Konservativen. Der spätere Hardliner in der Flüchtlingsfrage punktete als Integrationsstaatssekretär mit fortschrittlichen Ansichten in der Migrantenfrage. Das war noch vor der sogenannten Flüchtlingskrise des Jahres 2015. Als Außenminister eroberte er in kurzer Zeit das internationale Parkett. Mit seiner akkuraten Frisur, eng sitzenden Anzügen, guten Manieren und gewandtem Auftreten flogen ihm die Herzen der internationalen Politikerelite zu. Ganz Europa schwärmte vom konservativen Beau, der von einer Talkshow in die andere wechselte. Berühmt war seine rasche Auffassungsgabe; er roch die Macht, noch bevor ihr Träger aus einer Tapetentür trat.

So etablierte er sich nicht nur als große politische Hoffnung des österreichischen Bürgertums, sein Ruf strahlte weit über die Grenzen des Landes hinaus, und viele Kommentatoren sahen ihn als kommende Leitfigur der europäischen Konservativen.

Der jugendlich wirkende Kanzler aus kleinbürgerlichem Haus und ohne Studienabschluss nutzte seine Popularität in der Welt als Sprungbrett für die Karriere in der Heimat. Von seiner bröckelnden Partei konnte er alles fordern, auch die Selbstaufgabe als demokratisch verfasste Gruppierung. Er forderte alles und bekam alles. Zwischen Kuhglocken und Enzianschnaps überreichten ihm die Parteigranden im Tiroler Bergdorf und Elitentreff Alpbach die christlichsoziale Volkspartei auf einem Jausenbrett. Von nun an hatten die Landesfürsten in der Partei nichts mehr zu melden, Kurz führte vorgefertigte Worthülsen zu allen Politikfeldern ein und wachte über deren Gebrauch. Er bestimmte alle Kandidatenlisten, die Orts- und Landesparteien waren entmachtet. Selbst die Umlackierung von Schwarz auf Türkis mussten sie schlucken.

Es sind eben diese Landesfürsten, die Kurz den Rücktritt vom Kanzleramt nahelegten, nachdem verräterische Chats, die um in die Jahre 2016 und 2017 zurückreichende frisierte Meinungsumfragen und zweifelhafte Inseratsvergaben kreisen, aufgeflogen waren. Strafverschärfend wirkte die Involvierung des Finanzministeriums, das die hohen Rechnungen für die gegen günstige Berichterstattung in diversen Zeitungen geschalteten ÖVP-Anzeigen aus Steuermitteln bezahlte.

Es gebe rote Zellen in der Justiz, die den Kanzler abservieren wollten, trommelten seine medialen Helfer. Kurz sei untadelig. Doch die Verteidigungsfront war längst ins Wanken geraten. In der Nacht vom zweiten auf den dritten Oktober musste Kurz, der anfangs trotzige Durchhalteparolen ausgab, unter dem Dauerfeuer seiner einstigen Mentoren nachgeben.

Es war ein seltsamer Rückzug, denn Kurz behielt den Parteivorsitz und ergänzte diesen um den Posten des Fraktionsvorsitzenden im Parlament. In einer kurzfristig einberufenen Sitzung des Parteivorstands ließ er sich mit einer Unterstützung von 100 Prozent ausstatten, diesen Rückhalt forderte er auch von den ÖVP-Parlamentariern ein. Diskussionen wurden nicht geduldet. Ein Machtverlust sieht anders aus.

Es besteht nun in der ÖVP eine Art Doppelherrschaft. Das »System Kurz« gegen die Landesfürsten, die in Österreich seit tausend Jahren die Herrscher zur Verzweiflung treiben. Wie man aus der Geschichte weiß, sind Doppelherrschaften fragile Machtkonstruktionen, aus der Not geboren und so haltbar wie Almbutter in der Sonne. In welche Richtung die Dynamik dieser Doppelherrschaft ausschlägt, ist offen. Wenn es Kurz gelingt, die Justiz zu raschem Handeln zu bewegen – und wenn nicht weitere kompromittierende Chats auftauchen –, stehen seine Chancen auf die dritte Übernahme des Kanzleramts gut. Das juristische Substrat der Korruptionsvorwürfe ist nach Meinung führender Verfassungs- und Strafrechtler wenig ergiebig. Wenn es überhaupt zu einer Anklage reicht, ist eine Verurteilung unwahrscheinlich.

Große Teile der Bevölkerung haben ihre Entscheidung längst getroffen: Sie stehen hinter dem alerten jungen Mann, der mehr als fünf Stehsätze frei aufsagen kann. In Österreich gilt das als Beweis von Intellektualität, derart eloquente Leute sind in einem Land, in dem seit alters her bei Festspielen und Museumseröffnungen dem kulturellen Schein gehuldigt wird, unbedingt für Führungsaufgaben prädestiniert, und man soll diese Gottbegnadeten nicht in ihrem Tatendrang behindern. Andernfalls streifen die Österreicher die ihnen fälschlicherweise nachgesagte Gemütlichkeit recht schnell ab.

Sollte sich die Vorwurfssuppe tatsächlich als zu dünn erweisen, wird Kurz seine Partei mit guten und rettenden Umfragedaten unter Druck setzen. Und da er mit der ihm treu ergebenen Truppe (der neue Kanzler Alexander Schallenberg deklarierte sich sofort zu Kurz’ größtem Fan) gleichzeitig darüber wacht, dass kein potentieller Nachfolger oder eine talentierte Nachfolgerin das Haupt aus der Deckung hebt, hat er von der inneren Parteifront nichts zu befürchten. Er erntet nun die Früchte seiner Personalauswahl – mediokre Figuren, die mit einem mittleren Verwaltungsjob überfordert gewesen wären, wurden von ihm in Ministerämter gehievt. Sie wissen, dass sie Kurz auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Von dieser Seite droht ihm also keine Gefahr.

Viele Journalisten glauben, die politischen Tage des Donau-Caudillos seien gezählt. Tatsächlich stehen für den Mann, der mittels eines gelungenen Sidesteps den Frontalangriff seiner Gegner elegant ins Leere laufen ließ, die Aktien aber nicht schlecht. Es verwundert daher auch nicht, dass ihm Vertreter der Wirtschaft den Rücken stärken. Kurz’ historische Leistung war und ist die Rekonstruktion und Neuformierung des christlichsozialen Blocks als hegemoniale politische Gruppe in Österreich. Dass sich dieser Prozess in Form einer autoritären Cliquenherrschaft innerhalb einer parteidemokratischen Hülle vollzieht, wird nicht nur von seinen Gönnern achselzuckend hingenommen.

Erwin Riess schrieb in konkret 3/21 über den Kampf der FPÖ gegen die »Corona-Diktatur«